Die Reklamation – Unhaltbar


Fortschritt, so steht’s in „Wahrig Deutsches Wörterbuch“ ist die „Entwicklung vom Niederen zum Höheren“. Die Menschen, die sich immer raffiniertere Darreichungsformen für Musik ausdenken, gehören zu den fortschrittlichsten ihrer Spezies. Die haben sich zum Beispiel MP3 ausgedacht, die zurzeit höchste, vor allem aber kostengünstigste Form [für den Anbieter), um das „Produkt“ Musik zu „vermarkten“. Anstatt für viel Geld viele CDs zu pressen, stellen die Vermarkter die Songs auf einem Server zum Download zur Verfügung. Die Zielgruppe loadet down, zahlt genauso viel wie für ein Album zum Anfassen und macht sich keine Gedanken darüber, was mit all den schönen MP3s passieren kann, die auf ihren Festplatten und MP3-Playern landen. Ein falscher Tastendruck, eine gestorbene Festplatte (jede Festplatte stirbt irgendwann einmal), ein unachtsamer Augenblick am Strand von Santa Monica, und schon ist sie weg, die Plattensammlung, pardon, Musiksammlung. Es ist auffällig, dass seit Erfindung der Tonkonserve [mit Ausnahme der Edisonschen Wachswalzen vielleicht) die Speichermedien für Musik immer unhaltbarer geworden sind. Schelllackplatten halten ewig, wenn man sie nicht auf den Küchenboden wirft. Vinyl ist unkaputtbar, solange man es nicht im Sommer im Auto liegen lässt oder an den Kachelofen lehnt. Die 20 Jahre alte Roxy-Music-CD flesh & blood klingt heute (und vielleicht bis ca. 2025) noch so schön flach und höhenlastig wie am ersten Tag. CD-Rs wird bei „sachgemäßer Behandlung“ eine Lebensdauer von zehn Jahren nachgesagt. Und MP3s halten bis zum plötzlichen Festplattentod. Derweil träumt die „Industrie“ einen ganz anderen Traum. Die Zielgruppe soll Musik nicht mehr in Form eines Produkts erhalten, sondern nur noch die „Nutzungsrechte“ an den Songs. Wie das aussieht? Der Endverbraucher sitzt auf dem Sofa im vollvernetzten Wohnzimmer, klatscht in die Hände, ruft „Christina Aguilera, „Dirrrty'“, und schon kommt die Musik aus einem Loch in der Wand. Von der großen Festplatte der einzigen großen „Plattenfirma“. Unkopierbar, unhaltbar.