Die Überraschung
Karens Wagen schoss die Autobahn entlang und ich sah ihr nach, bis sie um die nächste Kurve verschwand. Ich stand am Rande der Autobahn und beobachtete die Autos, die an mir vorüberschnellten. Weder der Himmel, der sich jetzt ganz bewölkt hatte und völlig anders aussah als am Morgen, noch der Wind, der meine Haare zerzauste, konnten mir meine gute Laune nehmen.
Eigentlich hatte ich den Zug nehmen wollen, aber meine Freundin, die den gleichen Weg hatte wie ich, nahm mich mit bis nach Bremen. Hamburg war nicht mehr weit. In einer guten Stunde würde ich dort sein – falls mich jemand sofort mitnahm.
Ein paar Meter von mir hielt ein roter Volkswagen, älteren Baujahres. Ich packte meinen Koffer und lief zum Wagen. Die Tür war geöffnet und im Innern des Wagens entdeckte ich einen Jungen, der mich mürrisch ansah. „Wohin willst du“, schnauzte er. „Nach Hamburg“, antwortete ich schon etwas eingeschüchtert. „Steig ein“.
Ich rutschte neben ihn und warf meinen Koffer auf den Rücksitz. Er hatte ein mädchenhaftes Gesicht, lange, rotblonde Haare und trug eine Jeans, die überm Knie zerrissen war.
Ich überlegte mir, warum er wohl so mürrisch war und fing an, an meinen Nägeln herumzukauen. Er sah sehr konzentriert aus und blickte angespannt auf die Autobahn.
„Kaugummi liegt im Handschuhfach“, sagte er plötzlich. „Bediene dich, wenn du willst. Und höre endlich auf, an den Nägeln herumzukauen“.
Ich tat, was er sagte. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos, ich wusste nicht, ob er sich über mich lustig machte.
Das Handschuhfach war wohl zu voll, denn als ich es öffnete, ergossen sich sämtliche Sachen, die sich darin befanden, über meinen Schoss, und von dort aus auf die Erde.
„Verdammter Mist“, murmelte ich und machte mich schon auf eine ärgerliche Antwort gefasst, doch er sagte nichts.
Verlegen sammelte ich alles wieder zusammen und stopfte es in das Fach. Dabei gerieten zwei Fotos in meine Hände, die alle beide ein Mädchen zeigten, das etwa in meinem Alter sein mochte. Sie sah mir sehr ähnlich. Ich nahm ein Kaugummi aus der Packung und steckte den Rest in meine Tasche.
„Was willst du in Hamburg“,
fragte er mich.
„Jemanden besuchen“, antwortete ich und dachte an Jens. Der Gedanke an ihn stimmte mich wieder froh und sorglos. Ich hatte ihm nicht geschrieben, wollte ihn überraschen. Jens war mein Freund, schon einmal hatte ich ihn in Hamburg besucht, diesmal aber sollte mein Besuch länger dauern.
„Ich heisse Joe“, sagte der Junge neben mir. Seine Stimme klang aufeinmal viel angenehmer. Ich nannte ihm meinen Namen.
„Wo soll ich dich absetzen?“ fragte er und ich bemerkte, dass wir bereits in Hamburg waren. „Das ist mir egal“, antwortete ich, „wo es am günstigsten für dich ist“.
Er hielt seinen Wagen in einer Strasse, die mir unbekannt war. Er stieg zuerst aus und öffnete dann meine Tür. Er war fast einen Kopf grösser als ich und wirkte aufeinmal sehr freundlich. Ich sah, dass seine Hosen an meheren Stellen zerrissen war.
„Tut mir leid, dass ich so unfreundlich war“, sagte er unvermittelt. „Ich hatte dich mit jemandem verwechselt und war enttäuscht, dass du es nicht warst!“ „Das macht überhaupt nichts“, sagte ich und dachte an die Fotos in seinem Handschuhfach.
Er gab mir die Hand.
„Na, dann mach’s gut!“ sagte er. Ich winkte ihm noch einmal zu, sah, dass er seinen Wagen wendete und die Strasse zurückfuhr, die wir gekommen waren.
Jens war nicht allein
Dieser Stadtteil war mir völlig unbekannt. Ich lief zuerst ein paar hundert Meter geradeaus, dann fragte ich eine ältere Frau, die ihren Hund spazierenführte, nach dem Weg. Es war ziemlich kompliziert, doch nach zwanzig Minuten stand ich vor Jens Haustür.
Ich war aufgeregt und hatte feuchte Hände. Mein Koffer wurde immer schwerer und ich war froh, als ich die Stufen zu seiner Wohnung erklommen hatte. Er hatte ein neues Namensschild anbringen lassen.
„Jens Mertens“, las ich „Grafiker“. Ich klingelte.
Innen rührte sich etwas. Ich hörte Schritte, dann seine Stimme. „Nein, nein, ich erwarte niemanden – es wird wohl ein Vertreter sein“.
Dann öffnete er die Tür.
Noch nie hatte ich einen Menschen so überrascht gesehen und ich wusste, dass mir diese Überraschung zu perfekt gelungen war. Er hatte sich schnell wieder gefangen, begrüsste mich freundlich, fragte aber nicht, ob ich hereinkommen wollte. Ich sagte nichts und er nahm meine Hand und begann mit meinen Fingern zu spielen.
„Hör mal“, sagte er … „
„Jens, mit wem sprichst du denn so lange“, rief eine Mädchenstimme. „Mach‘ die Tür zu, es zieht!“
Ich wusste, wenn ich mich nicht völlig lächerlich machen wollte, musste ich jetzt gehen.
„Warte doch“, rief er, lief ein paar Schritte hinter mir her, hielt mich fest. „Lass‘ dir doch erklären… sei nicht so albern. Das ist nichts ernsthaftes“. Ich antwortete nicht, weil es mir die Sprache verschlagen hatte. „Komm‘ in einer Stunde wieder“, sagte er schliesslich, froh dass es ihm eingefallen war. „Dann können wir alles in Ruhe besprechen“.
Ich gab ihm keine Antwort und lief die Treppe hinunter, nahm immer zwei Stufen auf einmal und wusste hinterher nicht, wie ich aus dem Haus gekommen war. Ich lief gegen fremde Leute an, die mir kopfschüttelnd nachsahen und landete schliesslich auf einer Bank, die irgendwo am Rande stand. Dort versuchte ich, wieder mit mir ins reine zu kommen. Ich hatte einen furchtbaren Durst und nahm ein Kaugummi aus Joes Packung. Später lief ich durch die Strassen und wusste nicht, wohin mit mir. Ich hatte keine Lust, gleich nach Hause zu fahren, es wäre zu deprimierend gewesen.
„Morgen werde ich schon einen Ausweg finden“, dachte ich. „Ich will mir jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen. Schliesslich, morgen ist auch noch ein Tag“. Ich spuckte mein Kaugummi aus und machte mich auf den Weg zu Jens Wohnung.
Stille Wasser sind tief
„Da bist du ja“, sagte Jens und liess mich herein. Ich setzte mich in seinen Sessel und er nahm auf der Lehne Platz. „Das Mädchen von heute morgen“, begann er, „das war wirklich nichts ernsthaftes, das musst du mir glauben …“ „Hmmm“, ich sah an ihm vorbei. „Fällt dir wirklich keine bessere Entschuldigung ein?“
„Wieso?“ er tat beleidigt.
„Ach ich weiss nicht“, sagte ich müde. „Hören wir doch auf damit“.
„Nein, warum denn, du hast doch damit angefangen, was willst du damit sagen, dass mir keine bessere Entschuldigung einfällt? Entschuldigung wofür?“ Ich antwortete nicht, denn ich hatte keine Lust, mit ihm weiter über das Thema zu diskutieren. Wir beschlossen, in die Stadt zu gehen. Jens kannte eine dufte Diskothek in der eine Gruppe spielen sollte.
Der Club war gross und gemütlich. Rote Lampen hingen überall und verbreiteten eine sagenhafte Atmosphäre. Wir setzten uns an einen freien Tisch und ich war froh, dass die Musik so laut war.
Wir konnten uns nicht unterhalten und das war gut so, wir hatten uns nicht mehr viel zu sagen.
Zwei Roadmanager bauten die Instrumente der Gruppe auf, probierten die Mikrofone aus und nach einer Weile kamen die Musiker auf die Bühne. Ihre Musik war gut. Der Sänger hatte eine Stimme, die mir unter die Haut ging.
An seiner Hose erkannte ich ihn und an seinen langen, rotblonden Haaren. Er war es – Joe. Jens hatte mich beobachtet. „Kennst du ihn?“ fragte er argwöhnisch. „Ja“, antwortete ich. „Ich lernte ihn heute morgen kennen“.
„Nun“, Jens Stimme klang spöttisch. „Das muss der Neid dir lassen. Du hast deine Freiheit zu nutzen verstanden. Stille Wasser sind tief. Bei dir trifft das jedenfalls zu. Wie hast du das nur fertiggebracht?“
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Sein Lächeln gefiel mir nicht.
„Ich muss einen Moment an die frische Luft“, sagte ich, weil mir der Zigarettenqualm in die Augen gestiegen war. Er kam hinterher.
„Komm‘ mit nach Hause“, sagte er und sah mich lauernd an.
„Gleich“, antwortete ich und atmete tief die klare Luft ein.
„Worauf wartest du noch… auf ihn?“
Ich sagte nichts, denn die Gruppe hatte aufgehört zu spielen. Plötzlich tauchte Joe neben uns auf.
„Hallo“, sagte er.
„Hallo“, antwortete ich.
„Komm‘ endlich mit“, sagte Jens und versuchte, mich mitzuziehen. Ich wehrte mich und er ging allein. „Ist das dein Freund?“ Joe lächelte mich an.
„Das war mein Freund“, sagte ich und versuchte, sein Lächeln zu erwidern.
Die Roadmanager der Gruppe schleppten Verstärker und Gitarren zum Ausgang. Draussen stand der Bus und wartete.
„Spielt ihr nicht mehr?“, wollte ich wissen.
„Wir treten jetzt in einer anderen Diskothek auf“, sagte Joe.
Ein Junge, der an uns vorbeiging, drehte sich um und rief Joe etwas zu.
„Ja, ja, ich komme gleich“, antwortete Joe und sah mich an.
„Wir fahren jetzt. Kommst du mit?“
Erinnerungen
Ich antwortete nicht gleich, denn mir fielen die beiden Fotos in seinem Auto ein. „Warum fragst du das“, sagte ich schliesslich. „Weil ich jemandem ähnlich sehe?“
Er lachte. „Nein, das ist jetzt vorbei“.
Wir gingen zu seinem Wagen. Jens stand wenige Meter von uns entfernt und sah mich an. Ich wusste, dass das ein Abschied für immer war. Es tat nicht mehr weh.
Ich war etwas nervös und fing an, an meinen Nägeln herumzukauen.
„An was denkst du“, fragte Joe und seine Stimme klang sehr sanft.
„An meinen Koffer“, sagte ich. „Der befindet sich nämlich noch bei Jens“.
Joe lachte und legte seinen Arm um mich. „Hör auf, an deinen Nägeln herumzukauen, sie sehen schon ganz hässlich aus.
Und über den Koffer würde ich mir keine Sorgen machen. Was brauchst du einen Koffer -schliesslich hast du doch mich!“