Die zwei Gesichter des Roger Champman
Wenn ‚Chapo‘ … auf die Bühne stürmt, gehen regelmäßig Biergläser, Mikrofone und Stühle zu Bruch!… Der Exsänger von Family, der … mit seiner jetzigen Gruppe ‚Shortlist‘ auf Deutschland-Tournee Scherben hinterläßt…“ So sah vor wenigen Wochen eine führende deutsche Illustrierte den Sänger Chapman: spektakulär, reißerisch, oberflächlich – ohne Chapman und seine Musik zu kennen. Unter dem Motto: Vorsicht die Krawallmacher sind unterwegs! Eine Tageszeitung einer bekannten Hansestadt will in Roger Chapman gar einen „amerikanischen Rocksänger“ aufgetan haben. Und da liegt es dann auch nicht fern, wenn ein Berliner Rockphilosoph, der Rockmusik einzig mit der Birne und nicht mit dem Bauch erlebt, in Chappos Musik mehr als „kraffvollen Südstaatenrock“ analysiert . ..
Eine überzeugende Vorstellung davon, wer/was Roger Chapman, 37, wirklich ist, gab der Mann mit der Reibeisenstimme zum Start seiner laufenden Tour in der Hamburger Markthalle. Die hanseatische Volkssauna forderte wieder ihren Preis: an zwei Abenden literweise Schweiß. Chappo und seine sieben Mitstreiter, The Short List, heizten den total überfüllten Laden mit einem mörderischen Zwei-Stunden-Set auf/ein.
Chappo & Co griffen tief in die Schatzkiste und holten kraftstrotzende, funkelnde Rock-Juwelen hervor. Rhythm & Blues, Funk, Rock’n’Roll und reiner Blues erlebten eine glühende Vereinigung. Neue und alte Songs, neue und alte Bekannte auf der Bühne, neue und langjährige Fans verschmolzen zu einer verschworenen Gemeinde. „Chappo! Chappo! Chappo!“ drang es ohne Ende durch die schwülstige Rokknacht. Und die Parole „Everybody’s on the short list“, lautstark und durchdringend, machte ohne Absteche den stakkatohaften Anfeuerungs-Chören der Westkurven-Fans im Hamburger Volksparkstadion Konkurrenz. Chapman war am Ort seiner stärksten Fan-Schar.
Klar, daß gleich beim ersten Stück ein Tambourine zu Bruch ging! Chappo machte sich Luft, ließ Holz und Fell übers Mikrofon krachen. Jeder hatte damit gerechnet, es gefordert. Früher schleppten Roadies noch ganze Kisten mit Tambourines auf die Bühne; heute hat Chapman seine Zerstörungs-Quote auf maximal fünf reduziert. Anfangsnervosität, Lampenfieber waren dabei beim alten Hasen verflogen. „Vor jedem Auftritt bin ich nervös“, erzählt der Mann aus Leicester am nächsten Tag. „Ich würde es hassen, wenn ich nicht zappelig vor jedem Gig wär‘. Dann war’s höchste Zeit, das Handtuch zu werfen. Du mußt nervös sein; gegenüber früher hat sich da bei mir nichts geändert.“
Ein völlig anderer Mensch als der rasende, wilde, ungezügelte Derwisch am Mikrofon gibt diese Worte von sich: sehr ruhig, überlegt, besonnen. Die zwei Seiten des Roger! Chapman? „Yeah, es ist, als wenn zwei Typen in mir hausen. Doch sie gehören zusammen. Meine Ruhe ist das Ergebnis von auferlegter, erlernter Selbstdisziplin. Zwanzig Jahre Rock’n’Roll haben mich endlich aus Fehlern und Schlappen lernen lassen. Ich bin sicher auf der Bühne viel freier als sonst. Aber ich bin mir sehr bewußt über mein dortiges Verhalten. Auf der Bühne gebe ich meiner Begeisterung freien Lauf.“
Mit einer Rock-Truppe wie The Short List ein leichtes Unternehmen! Sie erweisen sich immer wieder als einer der stärksten Rock-Motoren heutiger Zeit. Gegenüber der letztjährigen Besetzung präsentieren The Short List – den Namen holten sie sich
von einem Sonq des Old Rock’n’Rollers Mickey Jupp – ein paar neue Gesichter. Die beiden Sängerinnen Helen Hardy und Kathy O’Donoghue fehlen („The chicks looked amaaaazing!“, entfährt es Chappo). Gitarrist Steve Simpson von Meal Ticket stieg zwei Tage vor Beginn der Proben ein. Und ein alter Bekannter und Freund aus Family-Zeiten tauchte wieder aul: Poli Palmer am Synthesizer. Der harte Kern der Short List besteht nach wie vor aus Tim Kinkley, Geoff Whitehorn, Stretch, Jerome Rimson und Nick Pentelow.
Doch wieso kam’s zu personellen Veränderungen? Eine Folge der ebenfalls gewandelten Musik Chapmans, wie sie sich auf dem neuen Album MAIL ORDER MAGIC offenbarte? „Es gab einige Grunde: Einmal haben sich meine neuen Songs verändert. Dafür war eine etwas andere instrumentelle Besetzung notwendig. Zum anderen möchte ich nicht in einem festen Schema steckenbleiben.“
Der stimmgewaltige Engländer hatte stets das Problem, Mitglied einer festen Band zu sein. Er steht lieber auf eigenen Füßen, oder? „Richtig, ich liebe die augenblickliche Situation. Wir arbeiten ca. zwei bis drei Monate im Jahr zusammen, allerhöchstens. Jeder macht ansonsten andere Dinge. Ich muß mich so nicht ständig um die Belange der Band kümmern, ich will mich auch nicht wieder durch eine feste Gruppe knebeln lassen. Timmy, Geoff, Stretch und Jerome sind seit achtzehn Monaten ein festes Team. Wenn wir nicht spielen, machen sie viele Sessions oder begleiten andere Sänger, wie z.B. demnächst Elkie Brooks. Das läuft prima so.“
Trotz der kurzen Proben von nur einer Woche, hatten Chappo und The Short List auch die neuen Stücke wie „He Was She Was“, „Barman“, „Right To Know“ oder „Mail Order Magic“ hundertprozentig im Griff. Im Gegensatz zu dem puren Rhythm & Blues-Ausflug der CHAPPO-LP von ’79, griff Roger Chapman bei den neuen Songs musikalisch auf die Zeiten von Family und anfänglichen Streerwalkers-Tagen zurück. Ein Rückschritt? Oder waren die alten I Songs schon damals ihrer Zeit vor-I I aus? Und damit heute genau zeitge recht?
„Natürlich hänge ich noch in alten Erinnerungen, in der Musik von damals. Schließlich war ich ja sehr engagiert. Als ich damals das CHAPPO-I Album machte, stand ich das erste Mal völlig allein. Ich hatte die Nase voll von all den alten Sachen: Streetwalkers, Family, den ganzen Streß, das endlose Arrangieren von Songs. Ich wollte zum ersten Mal möglichst easy ein Album machen. So spielten wir die Stücke im weitesten Sinne live im Studio ein, nur wenige Overdubs waren später nötig. Für mich ist CHAPPO daher das schönste Album, das ich gemacht hab‘. Mit MAIL ORDER MAGIC lief’s ähnlich, nur etwas konzentrierter, wieder mit einigen Arrangements und so. Die Family -Einflüsse kamen zufällig, schließlich ist die Musik von damals immernoch gut.“
Das Ende der langjährigen Partnerschaft mit Charlie Withney bedeutete für Roger Chapman auch eine völlig neue Art des Arbeitens. Er war allein, stand plötzlich auf seinen eigenen zwei Füßen und bestimmte jeden seiner Schritte. Doch wohin? „Für drei Monate fühlte ich mich total verloren“, gesteht er freimütig. „Ich mußte umdenken, hatte aber keinen Schimmer, was ich machen sollte. Ich wußte zwar vorher, daß ich eigenständig, selbständig werden wollte, nicht mehr im alten Kreislauf hängenzubleiben. Das engte mich zu sehr ein, deshalb bin ich ausgebrochen. Ich vermißte nun anfanqs nicht unbedingt Charlie, das war vorbei, aber doch einen Partner. Nach einer Durststrecke konnte ich mich schließlich langen. Heute bin ich froh, den Schritt gemacht zu haben, auch wenn’s nicht einfach war.“
So verbindet Roger Chapman nm noch wenig, eigentlich gar nichts mit seinem alten Kumpel Charlie Withney, mit dem er lange Jahre Rockgeschichte geschrieben hat. Heute sehen sie sich nur zufällig. Und von Withneys musikalischen Expeditionen, z.B. seiner neuen Band Axis Point, hält Chappoabsolut nichts. „Eddie Hardin als Sänger hat mich noch nie vom Hocker gehaun.“ Ein offenes Wort über einen Kollegen. Chappo kann es sich leisten. Denn nur wenige können dem aus den 60er Jahre Überlebenden auch zu Beginn de: 80er das Wasser reichen!