Direkt an der Basis
Sozialkitsch-Alarm durchflutet den Hobbypessimisten, als er auf folgendes Projekt stößt: Zwei Hörspielautoren schicken einen Musiker in Berliner Gefängnisse, um mit jugendlichen Häftlingen ein paar Songs zu erarbeiten und aufzunehmen. Die Dokumentation dieses Prozesses lief bereits letztes Jahr unter dem Titel „Release“ im WDR. Nun bringt das Label Lieblingslied das auf thematische Compilations spezialisiert ist – das Hörspiel samt aller vorhandenen Musik und zwei Videoclips auf den Markt.
Als Musiker konnte Schneider TM gewonnen werden, bekannt als Elektronikminimalist, aber mit allen denkbaren musikalischen Wassern gewaschen. Seine Schützlinge sind Sabrina und Mogli aus der JVA Lichtenberg sowie Ingo und Rados aus der JSA Plötzensee. Anfangs hat niemand feste Vorstellungen, was passieren wird. Bald kristallisiert sich jedoch heraus, daß es auf HipHop hinausläuft – angesichts des sozialen Backgroundsdervier kein Wunder. Ingo zum Beispiel nennt sich MV Egon, wobei MV für „Märkisches Viertel‘ steht, seit dem Erfolg seines Kumpels Sido als Sozialghetto allseits bekannt. Der Produktionsprozeß streckt sich über vier Monate, immer mal wieder behindert von Spannungen, Einschlüssen, einer vorzeitigen Entlassung. Schneider TM kommt mit seinem mobilen Tonstudio in die Proberäume der Haftanstalten, programmiert Beats, sampelt Instrumente, feilt mit den Rappern an den Reimen. Vier Stunden hat man jedes mal Zeit, dann muß vertagt werden. Sehen können sich die Jungen und Mädchen erst, als die Videos fertig sind.
Schließlich sind drei Songs im Kasten, und das Ergebnisverblüfft. Der Autor dieser Zeilen kann sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so interessiert an den abgedruckten Texten war. Hier passiert echter „Blues“, wie Schneider TM es nennt: ungeschminktes Leben aus den schattigen Tälern des Wohlfahrtsstaates. Ingo schickt seinem bereits entlassenen Freund Chicko eine Botschaft hinterher, Rados reflektiert sein Leben auf Serbokroatisch. Auch Sabrinas Reime sind von einer nahegehenden Intensität. Doch fühlt sich der Hörer nie als „Sozialspanner“, weil alles viel zu wahr und geerdet ist. Auch erfüllt die Musik trotz fetten Beats absolut keine HipHop-Standards, sondern bleibt dank Schneiders Nonkonformismus eher nervös gebrochen. Überhaupt ist ihm hoch anzurechnen, mit welcher Ruhe und Empathie er die Jugendlichen sicher zum Ziel bringt. Ein Lehrstück sinnvoller Sozialarbeit, aber auch für ehrlichen HipHop. Oder, um Saul Williams zu zitieren: Ohne drahtlose Mikros hätten sich die Rapper vielleicht nicht so weit von der Basis entfernt.
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