Diverse – The Complete No. 1’s


Das Soul-Label läutet mit einer 10-CD-Box voller Nummer-eins-Hits sein Jubiläumsjahr ein.

Dezember 2008: Während zwischen Washington und Detroit hektisch hin und her konferiert wird, weil die drei US-Automobil-Giganten General Motors, Chrysler und Ford Milliardenspritzen aus der Staatskasse zum Überleben brauchen, beginnt eine andere Firma, die für das Image der Stadt Detroit jahrzehntelang ähnlich wichtig war, ihren 50. Geburtstag zu feiern.

Motown Records war 1959 von dem Songschreiber Berry Gordy ursprünglich unter dem Namen Tamla Records gegründetworden: mit 800 Dollar Startkapital und dem erklärten Anspruch, Musik nicht nur für das schwarze (R’n’B-)Publikum, sondern für den Massenmarkt zu machen. Ein Plan, der ebenso rasch wie eindrucksvoll aufging: Bereits anderthalb Jahre später landete das Label mit „Shop Around“ von den Miracles seinen ersten Nummer-eins-Hit – und läutete damit eine durch die 60er- und 7oer-Jahre nicht abreißende Serie von Erfolgen ein, wie sie die Popwelt seither nie wieder gesehen hat.

„Wir bombardierten die Welt mit Hit-Platten“, kann der Sänger, Komponist und zeitweilige Motown-Vizepräsident Smokey Robinson über diese Zeit jetzt im 100-seitigen Begleit-Booklet zu jener Box behaupten, mit der in diesen Wochen der Reigen der Veröffentlichungen zum Motown-Jubeljahr begonnen wird. Auf zehn CDs sind hier sämtliche 189 Nummer-eins-Hits, die das Label rund um den Globus feierte, enthalten – vom oben erwähnten „Shop Around“ bis hin zu Erykah Badus „Bag Lady“ aus dem Jahr 2000. Dazu gibt es noch zwölf Bonus-Tracks, deren Coverversionen jeweils Charts-Spitzenreiter waren.

In wahrlich origineller Verpackung (die Box ist als Nachbildung des ursprünglichen durchaus bescheidenen Label-Headquarters im Grand West Boulevard zu Detroit gestaltet) entfaltet sich da eines der wichtigsten Kapitel in der Geschichte der schwarzen Popmusik.

Hört man zu Beginn, also bei den Miracles oder dem u.a. von den Beatles gecoverten „Please Mr. Postman“ derMarvelettes, noch einen deutlichen Einschlag des seinerzeit in den weißen Popcharts dominierenden Doo-Wop-Stils, wurde der Motown-Sound spätestens mit „Fingertips-Part 2“, einer 1963er Live-Single (!) des damals zwölfjährigen Little Stevie Wonder mehr als nur eine Spur heißer, sexyer, schwärzer, funkyer. Schon bald hatten Gordy & Co. die typische Rezeptur gefunden, mit der sie von nun an die Musikszene aufmischten. Wichtigste Zutaten neben einer Ohrwurm-Melodie und einer starken Leadstimme: der knackige, stark akzentuierte Backbeat (meist im oberen Midtempo-Bereich), Backing-Chöre, die den Leadsängern gospelige Call-and-Response-Dialoge lieferten, und zackige Bläsersätze. Doch diese Forme! wäre hohl geblieben, hätte Gordy nicht einen Stall extrem versierter Hitschreiber in seinem Headquarter gehabt: Smokey Robinson, Holland-Dozier-Holland, der kürzlich verstorbene Norman Whitfield u.a. versorgten ihn konstant mit catchy Songs.

Motown ist oft als Hitfabrik bezeichnet worden – und in der Tat spielten industrietypische Effizienz-Überlegungen in Berry Gordys Strategie von Anfang an eine Rolle. So ließ er bewusst nur Material aufnehmen, dass in seinen Ohren garantiert hittauglich war, und sorgte dafür, dass das hauseigene Studio 24 Stunden am Tag für die Labelkünstler geöffnet war. Dennoch wäre der Begriff „Manufaktur“ eigentlich passender als „Fabrik“, war es doch bis Ende der 70er-Jahre im Wesentlichen noch Handarbeit (vor allem die der legendären hauseigenen Studioband Funk Brothers um den Bassisten Jamie Jamerson), die all diese unverwüstlichen Hits hervorbrachte.

Viele dieser Nummern sorgten (oft Jahrzehnte später) auch in Coversionen weißer Popacts in den internationalen Charts für Furore – vor allem Phil Collins verdankt seine kommerzielle Boomphase in den 80er- und frühen 90er-Jahren erheblich seinen Beutezügen durch das Motown-Repertoire. Andererseits fanden nur sehr sporadisch Songs aus den Federn weißer Songschreiber-Größen Eingang ins Motown-Repertoire: Stevie Wonders Fassung des Dylan-Klassikers „Blowin‘ In The Wind“ (Spitzenreiter der US-R’n’B-Charts im August 1966) ist eine rare Ausnahme.

Einen ersten ernsthaften Bruch in der Erfolgsgeschichte der schwarzen Hitschmiede gab es 1967, als das Songschreiber-Trio Holland-Dozier-Holland die Firma nach Tantiemenstreitigkeiten verließ – mit spürbaren Folgen für die Hitfrequenz des Hauses. Doch erlebte Motown in den frühen 70er-Jahren dank der anspruchsvollen Geniestreiche von Marvin Gaye und Stevie Wonder noch ein Mal ein kreatives Zwischenhoch – erstmals galt das Label auch als Adresse für anspruchsvolle Albenkonzepte wie Gayes Sozialsuite what’s going on und Wonders Dreifach-Box songs in the key of life. Danach aber ging es stetigbergab: Es gehört zu den Wunderlichkeiten der Pop-Historie, dass das Label mit seiner geballten Kompetenz in Sachen schwarzer Popmusik mit zwei ihrer wichtigsten Strömungen nie zurande kam – weder im Disco-Boom noch in der HipHop-Kultur fasste man Fuß. Der selbstbewusste Motown-Claim aus den Sixties („The Sound Of Young America“) war damit nicht mehr zu halten. 1988 verkaufte Berry Gordy seine Firma für 61 Millionen Dollar an MCA. Heute gehört sie zum Universal-Konzern. Für den sie vornehmlich wegen ihres grandiosen Backkatalogs von Wert ist.

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DIE KÜNSTLER – IN DER REIHENFOLGE IHRES AUFTRETENS

The Miracles + The Marvelettes + The Contours + Mary Wells + (Little) Stevie Wonder + Martha & The Vandellas + The Temptations + Mary Wells + The Supremes + Jr. Walker & The All-Stars + Marvin Gaye + Four Tops + The Isley Brothers + Gladys Knight & The Pips + Smokey Robinson & The Miracles + Marvin Gaye &Tammi Terrell + Diana Ross&TheSupremes + Jimmy Ruffin + 8renda Holloway + The Originals + The Jackson 5 + Diana Ross + Rare Earth + Edwin Starr + The Undisputed Truth + Michael Jackson + Eddie Kendricks + The Commodores + David Ruffin + T. C. Sheppard + Thelma Houston* High Energy + Rick James + Smokey Robinson + Jermaine Jackson + Dina Ross & Lionel Richie + Dazz Band+ Charlene + Lionel Riehle + Debarge +Rockwell + Mary Jane Girls + Dennis Edwards feat. Siedah Garrett + Val Young + Georgio + The Boys + Today + Stacey Lattisaw + The Guinn Family + Johnny Gill + Boyz II Men + Shanice + Profyle + Erykah Badu