Echo 2017: Vox, wir müssen reden!
Ja, wir haben es uns tatsächlich angetan: Wir haben uns - für euch! - den Echo 2017 auf Vox angesehen. Es war ein Fremdschäm-Festival.
Es wurde eine Menge über den Echo 2017 geschrieben und gesprochen: Über den Wechsel von Live-Sendung in der öffentlich-rechtlichen ARD zur aufgezeichneten Übertragung beim Privatsender Vox. Über die Fachjury, die mit Kompetenzen gelockt wurde und am Ende doch nicht wirklich etwas zu melden hatte. Über die 750 Euro teuren Tickets, inklusive Dinner im Kreise der Künstler. Zu letzterem Punkt erklärte TV-Koch Tim Mälzer, der die Gäste des Echos bewirtete, im Interview mit ProSieben: „Naja, die 750 Euro sind ja nicht nur das Dinner (…) da ist ja auch beispielsweise der Parkplatz mit drin.“ Hätten wir zumindest das schon einmal geklärt.
Das Ziel von Vox sei es, den Echo frischer, hipper, cooler zu machen. So viel sei bereits jetzt gesagt: Das ist dem Sender und seinem Moderatoren-Duo Xavier Naidoo und Sasha nicht gelungen. Dennoch hat die Veranstaltung für einige Momente gesorgt, über die wir reden müssen.
Xavier & Sasha: Scheiß auf Terror, es ist Zeit für Hedonismus
„Vergiss‘ Terror, Angst und Krieg/wir feiern heute die Musik“: Prinzipiell nicht verkehrt, was sich die beiden Musiker in ihrer Eröffnungsnummer wünschen, aber so einfach ist das in diesen wirren Zeiten nicht. Der Echo vermittelt durch seine Aufforderung zu Beginn, politische Meinungen doch bitte an der Garderobe abzugeben und sich einfach dem hochklassigen, hedonistischen Event hinzugeben. Kein Platz für Aki-Bosse-Stinkefinger und Buhrufe gegen deutschtümelnde Alpenrocker. Die Gäste scheinen nicht so begeistert: Campino starrt in die Leere, Adel Tawil kratzt sich an der Nase, Oonagh klatscht etwas lustlos im Takt.
Xavier Naidoos & Sashas „Humor“
Die „Hosts“ (ja, die beiden Sänger verstehen sich nicht als Moderatoren, sondern als Gastgeber – oder eben cool-klingend auf Englisch: „hosts“) hauen einen Gag nach dem anderem in das hallende Weit der Messehalle. Naidoo spielt auf seinen Rausschmiss als ESC-Kandidat an („Wenn ich das eine mit E nicht machen kann, mach‘ ich halt das andere mit E“) und Sasha versucht es mit Selbstironie („Sie wurden direkt geprankt. Der echte Sasha ist natürlich viel schlanker“). LOL – schade, dass keiner lacht.
Die Branchen-Inzucht geht weiter
20:22 Uhr, die Sendung läuft seit 7 Minuten, der erste WTF-Moment, an dem man bemerkt, dass sich der Echo nicht ändern will: Xavier Naidoo ist als „Host“ auch als „Bester Künstler Pop National“ nominiert. Interessenkonflikt?Neunmalklug wie er ist, hüpft Naidoo schnell von der Bühne, während Sasha dem Nominierten Mark Forster viel Glück wünscht. Glücklicherweise kriegt Udo Lindenberg den Preis. Hätte sonst noch unangenehmer werden können.
Kollegahs Kritik hat etwas bewirkt
Letztes Jahr beschwerte sich Kolle noch, dass es nicht zeitgemäß sei, die HipHop-Kategorie ans Ende der Show zu schieben. Diesmal wird der HipHop/Urban-Echo schon als zweiter Preis verliehen – und geht an die Beginner. GZUZ scheint dennoch nicht begeistert und kippt Jack Daniel’s nach.
Man wünscht sich glatt Barbara Schöneberger zurück
True Story. 20 Minuten sind vergangen, Sasha hat den sechsten Gag vergeigt („Kein Songschreiber hat Zeit für mich (…) Die arbeiten alle mit Adel Tawil. Adel verpflichtet.“), da kommt in einem das Gefühl hoch, dass dieses Moderations-Ungeheuer Schöneberger wirklich gar nicht so übel ist.
Wer hat denn jetzt den Schlager-Echo gewonnen?
Voll die clevere Idee von Naidoo. Er singt einfach einen Song der Gewinnerin anstatt den Namen laut auszurufen. Auf einmal kommt Andrea Berg auf die Bühne und singt mit. Hat sie denn jetzt gewonnen? Kann das mal bitte jemand auflösen?
Campino & Böhmermann: Das verletzte Ego
Traurig, dass Campinos Ego so groß ist, dass er solch eine Bühne nutzen muss, um eine knapp drei Jahre alte Kritik Böhmermanns erneut öffentlich auszurollen und durchzukauen. Zu behaupten, dass Böhmermann nichts konstruktives gelinge, zeugt von Campinos verletztem Stolz. Was haben Die Toten Hosen und er in den vergangenen Jahren zum öffentlichen Diskurs beigetragen? Während Böhmermann mit #varoufake das komplette europäische Polit-Establishment genarrt und der EU aufgezeigt hat, auf welch instabilen Säulen sie steht und mit seinem Schmähgedicht nicht nur das Gut der Meinungs- und Kunstfreiheit in den politischen Fokus rückte, sondern auch dem letzten Augenwischer die Glubscher öffnete, dass Erdogan sich längst in der Rolle des selbstgefälligen Sultans eingerichtet hat, haben Die Toten Hosen nur noch Hits für CDU-Wahlkampf-Parties aufgenommen. Im Übrigen ging es in Campinos „Laudatio“ um Viva Con Agua, die für ihr wichtiges und tolles Engagement für sauberes Trinkwasser einen Sonder-Echo erhielten. Dass die Echo-Macher jedoch nicht einmal darauf kamen, ihren Gästen Viva-Con-Agua-Wasserflaschen auf die Tische zu stellen, sondern Vilsa-Mineralwasser, lässt tief blicken.
AnnenMayKantereits Abwesenheit
Jede Zeile darüber, was für eine Ohrfeige, nein, was für ein Aufwärtshaken dieser Post der zweifachen Preisträger AnnenMayKantereit für die Echo-Macher sein muss, ist obsolet. Wobei: Schön, wie sich Naidoo die Abwesenheit mit pathetischen Worten zurecht redet: „Ausgerechnet die Newcomer zeigen uns, wie wichtig es ist, draußen auf der Straße, in den Kneipen, den Musikhallen zu sein und das zu machen, was wir lieben, was uns hier hin gebracht hat: Musik zu machen.“ Oder sie hatten halt einfach keinen Bock auf latente Selbstbeweihräucherung.
Rag’n’Bone Man ist Bester Newcomer und Künstler international
Halt, warte: Geht das überhaupt? Bringt das nicht das Zeit-Raum-Kontinuum durcheinander? Bedeutet der Begriff „Newcomer“ nicht, dass der Grünschnabel zwar Eintritt in den erlauchten Kreis erhält, aber sich gefälligst hinter den Etablierten anzustellen hat? Als Künstler international war übrigens auch Leonard Cohen nominiert. Aber der hatte 2016 halt keinen Werbehit wie „Human“.
Die „Live“-Auftritte sind „facettenreichen“
Eines muss man den Echo-Veranstaltern lassen: sie haben abwechslungsreiche Live-Acts zusammengebucht. Dass Bands wie Linkin Park und Acts wie die Toten Hosen Geschmackssache bleiben, ist klar. Dass der Begriff „Live-Auftritt“ ein scheinbar dehnbarer Begriff ist, wird heute jedenfalls deutlich: Während Rag’n’Bone Man seinen Song „Human“ in einer Marching-Band-Version und vollem Vokaleinsatz präsentiert, belassen es Udo Lindenberg & Friends bei einem uninspiriertem Vollplaybackgehopse. Könnte das nächstes Mal bitte jemand mit Daniel Wirtz und Henning Wehland ihre Einsätze proben? Dann wäre ihre Mini-Playback-Show-Gehabe weniger peinlich.
Andreas Gabalier & die volkstümliche Musik:
Der Echo bleibt sich treu. Rechtsnationales Gedankengut ist herzlich willkommen, was man nicht nur daran sieht, dass der Reichsbürger-Barde Naidoo moderiert und die Blut-und-Ehre-Romantiker Frei.Wild Teil der Fachjury sind. Man sieht es auch daran, dass der pomadige „Volks-Rock’n’Roller“ und Identitären-Liebling Andreas Gabalier einen Preis erhält. Das Zeichen, dass der Echo damit aussendet? Volkstümlich darf gerne auch in völkische Bilder abdriften.
Der Kritikerpreis ist noch zu wenig
Antilopen Gang, Beginner, Drangsal, Moderat, Roosevelt. So hießen die Nominierten des offiziellen Kritikerpreises – und man will sagen: Geht doch, Echo! Wenn ein Kerl wie Robin Schulz im vergangenen Jahr mit dem kruden Echo „Erfolgreichster deutscher Act im Ausland“ bedacht werden konnte, warum sollte dann ein Act wie Roosevelt, hinter dem kein Major-Label mit Monster-Etat steht und der dennoch die Welt im Sturm erobert, nicht zumindest mit dem Kritiker-Echo bedacht werden? Das sollten sich die Echo-Verantwortlichen mal durch den Kopf gehen lassen. Den Kritiker-Award erhielten dann die Beginner, die auch darin einen an diesem Abend ausnahmsweise guten Gag ausmachten: „Wenn man bedenkt, was für miese Kritiken wir bekommen haben, als das Album rauskam, ist das der beste Treppenwitz, dass wir jetzt den Kritiker-Echo kriegen“, sagt Jan Delay.
Fazit des Abends: Vox ist es zwar gelungen, das TV-„Spektakel“ Echo zu verschlanken, was jedoch nicht mit einer Qualitätssteigerung einhergeht. Der schale Geschmack einer Schulterklopf-Party der besser situierten Musikschaffenden bleibt dem Zuschauer auch in diesem Jahr im Hals stecken. Eine Kategorie wie „Album des Jahres“, die einen Altersdurchschnitt von 60 Jahren aufweist, kann nicht ernsthaft eine vitale und vielfältige deutsche Musiklandschaft repräsentieren.