Eine Insel voller Träume – Die Island Story II. Teil


Im letzten ME, Nr. 239, berichteten wir über die anfänglichen Schwierigkeiten, die es bei der Gründung von Island Records gab. Mit dem Einkauf des englischen Quartetts SPENCER DAVIS begab sich die Company (die damals noch eine werden wollte) auf ein bis dahin für sie unbekanntes musikalisches Gebiet. Hatte die Firma bisher ihre Umsätze mit Reggae und dem Vertrieb amerikanischer Rhythm & Blues-Künstler gemacht, so wurden nun alle Aktivitäten auf „pure English Rock-Music“ umgepolt. Vergessen war vorerst für die beiden Hauptmanager CHRIS BLACKWELL und DAVID BETTERIDGE die Musik, mit der sie bei den westindischen Einwanderern soviel Erfolg verbucht hatten. Chris Blackwell befand sich auf einem völlig neuen, anderen musikalischen Trip. Die Reise ging nach Birmingham und wurde abrupt von einer Band gestoppt, die als Weiße all das verkörperten, was Chris nur bei Schwarzen zu finden glaubte.

Als Chris Blackwell jenes Quartett (SPENCER DAVIS, Gitarre; STEVE WINWOOD, Orgel; sein Bruder MUFF, Bass und PETE YORK, Schlagzeug) in diesem schmierigen Kellerlokal in Birmingham hörte, wollte er seinen Ohren nicht trauen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er angenommen, daß nur Schwarze in der Lage seien, emotional geladenen Rhythm & Blues zu spielen. Doch was dort auf der kleinen Bühne in stickiger, verqualmter Luft dampfte und brodelte, war schwärzer als die Nacht. STEVE WINWOODs näselnder Gesang erinnerte ihn an RAY CHARLES, und die Rhythm-Section hämmerte so gekonnt Blues-Synkopen auf seine Trommelfelle, daß er glaubte, in den Staaten und nicht in England zu sein. Das war es, wonach er gesucht hatte!

Denn ihm war inzwischen klar geworden, daß Reggae und der lizenzierte Rhythm & Blues, den er auf dem Label SUE vertrieb, ausschließlich von westindischen Emigranten gekauft wurden, die damit ein musikalisches Stück Heimat besaßen, und anderen gesellschaftlichen Außenseitern so z.B. von den Skinheads.

Aber Chris wollte mehr. Er hatte es satt, sich als Außenseiter einer etablierten Musikindustrie zu fühlen, die ihn mehr duldete, als anerkannte. Diese grauhaarigen Industrieaufsichtsräte stachelten seinen Ehrgeiz an. Er fühlte, daß diese Leute nicht fähig waren, der mittlerweile stagnierenden Underground-Musik neue Impulse zu geben. Was fehlte, war frischer Wind in einer Zeit, in der Underground-Gruppen durch große Umsätze „Overground“ wurden, und dabei ihren Schwung verloren. Mit der SPENCER DAVIS GROUP angelte er sich einen Vier-Mann-Taifun, der so durch die Scenerie wirbelte, daß die alten Töne kaum noch Wert besaßen. Die Gruppe läutete eine neue Ära bei der britischen Jugend ein: Die Kids konnten sich wieder identifizieren. Songs wie „Keep On Running“, „I’m A Man“, „Somebody Help Me“ oder „Gimme Some Lovin“‚ brachten einer Generation das zurück, was durch Underground-Musik mit Klangkaskaden zugedeckt schien: Spaß an lebendigen, kochenden und stampfenden Liedern. Die Verpflichtung von Spencer Davies war die erste autorisierte Island-Produktion, die von Philips vertrieben wurde.

Chris Blackwell hatte es vorerst geschafft. Aber er mußte neue Gruppen für sein Island-Label verpflichten, denn mit einer Band, mag sie auch noch so super sein, kann man auf Dauer die Fans nicht bei der Stange halten … und die Fans wurden von Tag zu Tag mehr.

Mit Traffic rollt die erste Welle

Am 19. März 1967 lief für Steve und Muff Winwood der Vertrag bei Spencer Davis aus. Chris Blackwell versprach sich viel von dem 19jährigen talentierten Steve Winwood, und es war fast selbstverständlich, daß er ihm anbot, eine neue Gruppe zu gründen, die dann als erste offiziell auf Island erscheinen sollte. Außerdem sollte diese Gruppe den Kritikern klarmachen, was in Zukunft von Island zu erwarten sei. „Ich wollte ein Label schaffen, bei dem Künstler weitgehende Freiheit zur Konkretisierung ihrer eigenen Vorstellungen besaßen. Es sollte eine Insel werden, auf der man all das verwirklichen konnte, was bei anderen Gesellschaften als unmöglich galt. Außerdem stellte ich mir eine Gemeinschaft vor, die auf einer Insel gestrandet ist und nun gemeinsam versucht, diesen Freiraum für sich zu erschließen.“ Soweit Chris Blackwell.

Zusammen mit CHRIS WOOD, JIM CAPALDI und DAVE MASON zog Steve Winwood in ein Landhaus nach Berkshire. Blackwell hatte ihnen angeboten, dort in aller Ruhe und ohne Zeitdruck ein neues musikalisches Konzept zu erarbeiten. Er wußte nur zu gut, daß er nicht in eine taube Nuß investierte, denn was er bis dahin von Steve gehört hatte, hatte ihn voll überzeugt.

Aber auch den zweiten aus der Winwood-Clique hatte Blackwell fest an der Angel. Er bot MUFF WINWOOD den Auf- und Ausbau seiner Künstleragentur an. MUFF, den keine zehn Pferde mehr „on the road“ bekamen, war recht glücklich über das Angebot; er brauchte nicht mehr zu touren, hatte aber dennoch Kontakt zu Musik und Musikern. Er erinnert sich: „Ich hatte damals vier Künstler in der Agentur: JIMMY CLIFF und seine Backinggroup, die GREASE BAND, waren schon da, als ich den Laden übernahm. Ich hab dann noch JOE COCKER und SPOOKY TOOTH entdeckt und sie künstlerisch betreut. Als mein Bruder nach ein paar Monaten mit einer fertigen Gruppe aus Berkshire zurückkam, hab ich sie auch übernommen.“

Nach einem knappen halben Jahr Klausur kam Steve Winwood nach London zurück. Er präsentierte Blackwell ein ausgereiftes Quartett und hatte auch gleich den passenden Namen bereit: TRAFFIC. Nach dem ersten Konzert im Londoner Roundhouse schnappten die Musikkritiker über. Das war Musik, die sie bis dahin noch nicht gehört hatten. Mit wechselnden Instrumentalkombinationen wurden phantasievolle, makellose Songs dargeboten, die abseits standen von dem, was man bisher kannte. Muff Winwood: „Natürlich hat sich Traffic von den damaligen Underground-Gruppen abgesetzt. Für sie wurde zum ersten Male das Adjektiv ‚Progressiv‘ benutzt. Island wollte etwas Neues machen, sowohl musikalisch als auch in der Präsentation. Alle Leute machten Singles, auch Stars, die gut für eine LP gewesen wären. Wir wollten, daß Traffic sofort eine LP machte, und dieser Weg schien durch den Vorschuß an Kritikerlorbeeren auch möglich.“ Traffics erste LP „Mr. Fantasy“ bestätigt Millionen Hörern, was einige Kritiker der Band zu Beginn bescheinigt hatten: Winwoods Songs gehören zu den Sternstunden der zeitgenössischen Popmusik.

Mit diesem durchschlagenden Erfolg hatten die Gewaltigen der Musikkonzerne nicht gerechnet. Sie mußten sich jetzt auf Teufel komm raus an den ‚progressiven‘ Zug anhängen. Aber sie hinkten nur hinterher, denn Blackwell war und blieb ihnen einen Schritt voraus.

Sein Unternehmen, das in der Oxford Street langsam aus allen Nähten platzte, besaß eine größere Flexibilität im Umgang mit Künstlern. Außerdem war die Gesellschaft nicht durch wuchernden Bürokratismus in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt. Wer mit Island aufgrund perfekter Verträge zusammenarbeitete, konnte sich auf ein Team verlassen, das außer musikalischer Begeisterung eine gehörige Portion Cleverness besaß.

Jethro Tull gefällt die Insel

1968 nahm Island SPOOKY TOOTH unter Vertrag, die Muff Winwood seit einem Jahr betreute. Die Musiker erwiesen sich als vielseitige Instrumentalisten, die Bluesformeln gekonnt mit Gospeln und Countryballaden auflockerten. MIKE HARRISONs Gesang rundete jedes Stück ab, wodurch die Gruppe weit davon entfernt schien, heavy zu klingen, obwohl sie es in besonders starkem Maße war. Der Begriff „Island“ tauchte immer häufiger in den Hitparaden auf.

Im Sommer 1969 – Spooky Tooth hatten gerade ihre zweite LP fertiggestellt – tourte die Gruppe durch Nordengland und hörte dort eine Band mit dem ausgeflippten Namen JETHRO TULL. David Betteridge: „Chris fuhr hoch und sah sich die Gruppe an. Er traf auf eine neue musikalische Welle. Tull-Manager TERRY ELLIS hatte einen Musikverlag gegründet, den er Chrysalis nannte, und kam mit Chris überein, ihre Aktivitäten zu koordinieren. Im Klartext hieß das: Jethro Tull wurde von Ellis produziert, und wir nahmen sein Label in den Vertrieb auf. Ich glaube, keiner von uns hat den Deal bis heute bereut.“

Mit Jethro Tull gereit der Musikmarkt erneut in Bewegung. Die erste Welle mit TRAFFIC, SPENCER DAVIS und SPOOKY TOOTH war noch nicht abgeebbt, da schlug die zweite Island-Welle schon über den Radiostationen zusammen. Nicht nur die Musik hatte einen völlig neuen Zuschnitt, sondern auch die Bühnenshow war von gänzlich ungewohntem Charakter.

Im modischen Kleiderhabitus der Charles-Dickens-Ära erschienen die Musiker vor ihrem Publikum. sie vollführten eine Show, die als typisch englische Mischung von Rock, Music Hall, Burleske und Marty Feldmann Comedy Machine über die Rampe kam. Island paßte sich an und versuchte eine neue Gestaltung der Verpackung. Nach dem Motto ‚die richtige Hülle für die richtige Musik‘ kam einem beim Aufklappen des 1969 produzierten Jethro Tull-Albums „Stand up“ die Gruppe als Stehauf-Männchen entgegen.

Im selben Jahr stand auch CAT STEVENS mit einem russischen Musical unter dem Arm auf der Matte von Island. Muff Winwood: „Cat Stevens hatten wir zuerst nicht als Künstler, sondern als Songschreiber engagiert – wegen des Musicals, das er uns anbot. Er selbst wollte auch nicht mehr singen, wegen seiner TBC und dem Scheiß, den sie bei Decca mit ihm gemacht hatten. Schließlich hat er’s sich überlegt, weil er seine Songs doch am besten interpretieren könne, wie er meinte.“ Ebenfalls 1969 kam MOTT THE HOOPLE durch eine Zeitungsanzeige im Melody Maker auf die Insel.

6 Millionen Dollar für Island

Doch Mott The Hoople verblaßte gegen KING CRIMSON, die im selben Jahr ein Demo anboten. Andere Firmen hatten ihre Musik als zu chaotisch und destruktiv abgelehnt. Für Island bedeuteten KING CRIMSON und FREE, die gleichzeitig verpflichtet wurden, die dritte Welle. Muff Winwood: „An Free hat keiner außer Blackwell geglaubt. Sie brauchten auch lange, bis sie „top“ waren, und als es soweit war, sind sie auseinandergegangen.“

Island machte fleißig Umsatz. Es lag auf der Hand, daß die Konkurrenzunternehmen so etwas nicht mit Freude beobachteten. Da hatte sich in ihrer Mitte ein Emporkömmling breitgemacht, dem man allerhöchstens vier Jahre bis zum Konkurs gegeben hatte. Doch der Außenseiter hatte überlebt und war dabei, sich vom Kuchen des Gesamtumsatzes einen kräftigen Brocken abzubrechen. Konkurrenz soll zwar fürs Geschäft belebend sein, aber nicht, wenn man dabei selbst Einbußen hinnehmen muß. Der amerikanische Multikonzern Warner Elektra Atlantic (WEA) bot Blackwell sechs Millionen Dollar (das waren rund 24 Millionen Mark) wenn er bereit sei, Island zu verkaufen. Das Angebot war total konfus.

Keiner weiß heute mehr mit Sicherheit, was Island damals wert war, sicher jedoch mehr als das, was WEA bot. Anfang 1970 zog die Firma aus der Oxford Street in ein eigenes Haus in Hammersmith. Mittlerweile arbeiten 19 Leute für Island, und die Factory hat ihre Kinderkrankheiten mit Bravour überwunden. Island bemüht sich, nicht mehr Künstler zu verpflichten, als sie konkret betreuen können. 1970 schließen sie einen Vertrag mit Emerson, Lake & Palmer ab; das soll vorerst die letzte Welle der Firma bleiben.

Island hat sich auf der Insel wie auf dem Kontinent einen Namen gemacht. Das pinkfarbene i wird immer mehr zum Symbol einer Firma, die sich bemüht, anspruchsvolle, gute Musik der kommerziellen Masche vorzuziehen. Ihre Macher beweisen, daß es möglich ist, auch mit ‚progressiven‘ Künstlern Umsätze zu erzielen, die sonst den kommerziellen Lollipop-Stars vorbehalten waren. Damit die Gruppen und Interpreten nicht durch begrenzte Studiozeit unter Kreativitätsdruck geraten, richtet die Gesellschaft ein eigenes 24-spuriges Studio im Hause St. Peters Square Nr. 22 ein. Nach außen präsentiert sich die Firma als eine große swingende Familie, doch hinter den Kulissen beginnt es zu knistern. RICHARD WILLIAMS, Produzent: „Wir müssen von dem Image weg, ein superprogressiver Haufen zu sein. Lieber wäre mir, wir würden im Verständnis der Leute als die mit dem ausgezeichneten Riecher dastehen.“ Es tritt das ein, was die Manager vor ein paar Jahren unter allen Umständen vermeiden wollten: Das Gruppenangebot nimmt überhand. Aber der Trend in Richtung musikalische Vielfältigkeit ist nicht mehr aufzuhalten. FAIRPORT CONVENTION werden ebenso verpflichtet wie INCREDIBLE STRING BAND, McDONALD & GILES oder QUINTESSENCE. Zugegeben, es sind Gruppen, die zum Selbstverständnis, in dem sich die Firma sonnt, beitragen, doch bei den Fans wird Island nur noch bedingt als der große musikalische Weißmacher empfunden. Es fehlt einfach der große Hammer, wie er mit TRAFFIC, JETHRO TULL oder KING CRIMSON gefunden wurde.

Roxy Music abgelehnt und verpflichtet

Im Juni 1972 legte Island das Produkt einer Gruppe vor, die sich im Stil der US-Truppe SHA NA NA als englische Rock-Nostalgiker qualifizierten. Der Name des Sextetts: ROXY MUSIC. Williams: „Es war schon eine dumme Sache mit Roxy Music. Bevor ich bei Island anfing, arbeitete ich als Journalist beim Melody Maker. Dort bekam ich auch eines Tages ein Demo von einer Gruppe, die sich ROXY nannte. Nach den ersten Takten wußte ich nicht, was ich davon halten sollte, aber ich war fasziniert. Bei Island hatte die Gruppe schon vorgesprochen, war aber abgelehnt worden.“ Einige Monate später heuerte Richard Williams bei Island an und schlug Chris Blackwell vor, Roxy Music doch unter Vertrag zu nehmen. Blackwell ließ sich von dem mit allen Wassern gewaschenen Musikfachmann überzeugen. Roxy Music kam zu Island und läutete nach der eineinhalb Jahre dauernden Phase des Durchhängens die vierte Welle der Island ein. Island kann sich zu Recht rühmen, ‚die Originale zu besitzen, und nicht die Kopien‘. Denn auch Roxy Music züchtete eine Vielzahl von Nachahmern, meist jedoch von schlechterer Qualität. Das Sextett brachte neuen Schwung in die Firma, die an ihrer eigenen Progressivität zu ersticken drohte.

Doch heute – drei Jahre nach dieser sensationellen Veröffentlichung – scheint die grüne Palme braune Spitzen zu bekommen. Daran kann auch der kommerzielle Erfolg von BAD COMPANY, PETE WINGFIELD oder der SPARKS nichts ändern. Zugegeben, nicht nur Island steckt in einer augenblicklichen Krise, sondern auch die übrige Musikindustrie. Neue Impulse sind nicht in Sicht, und die Neuverpflichtungen von NASTY POP oder MILK’n’COOKIES sind mehr Lückenbüßer als durchschlagende neue musikalische Aspekte. Für die Manager und Musikenthusiasten auf der Insel heißt das: warten auf die fünfte Welle. Sie kommt bestimmt, aber wann?