ELO: Immer Ärger mit den Streichern
„Klassik-Rock“ – ein Begriff, der den meisten Leuten suspekt vorkommt und vielen den Magen umdreht. Erstens, weil sich kaum jemand beiden Stilarten gegenüber gleich tolerant verhält, und viele strikt anzweifeln, daß diese beiden Extreme zu vereinbaren seien. Zweitens gab es in den vergangenen Jahren ohne Zweifel keinen überzeugenden Beweis, so daß sich alle Zweifler nur bestätigt fühlen. Egal, welche Namen einem auf der Zunge liegen mögen, ein gleichberechtigtes Nebeneinander brachte bisher niemand zustande. Allerdings gibt es eine Gruppe, die inzwischen ziemlich nah an die Idealvorstellungen herangekommen ist: Das Electric Light Orchestra. Mit nunmehr vier LPs und zwei überraschend gut verkauften Hit-Singles stellen sie konsequent ihre hartnäckigen Versuche unter Beweis, die ganze Sache unter einen Hut zu bekommen. So leicht geben sie nicht auf! Die neueste Platte „Eldorado“, die vor ein paar Wochen erschien, macht da keine Ausnahme.
Ein sturer Streichertyp?
Sieht man genau hin, so ist Jeff Lynne, seines Zeichens Mitbegründer, Gitarrist und Kopf des ELO, ein völlig untypischer Vertreter der Rockmusik. Mit seinen Meinungen und Vorstellungen hat er es nicht leicht, in diesem Geschäft klarzukommen. Als eingeschworener Klassik-Anhänger, der keine lauten Gitarren mehr hören kann, liegt ihm daran, Geist in die Musik zu bringen. Früher versteckte er sich hinter seiner Anlage, weil er die Musik, die vorn aus den Verstärkern kam, nicht gut genug fand. Er hört so gut wie keine Platte von anderen Kollegen und wenn, dann nur uralte Beatles- und Beach Boys-Nummern oder noch älteres Zeug. Er meint, die heutige Pop-Szene sei ausgelaugt, bringe nichts Neues mehr und „es war doch schon alles da!“ Hört er nun doch ab und zu ein paar neue Titel, oder was? Außerdem steht er nicht besonders auf Live-Auftritten. Viel lieber sitzt er in seinem eigenen kleinen Studio und tüftelt neue ELO-Songs aus. Manchem mag er erscheinen wie die Streicher-Typen der Anfangszeit, von denen er selbst meint: „all dead, straight, used to play in their dinner suits playing off the dots, very strict“, was nichts anderes bedeutet als langweilige, sture, verbohrte und stockkonventionelle Musiker. Auf jeden Fall total anders als ELO.
Nostalgische Idole
Jeff steht natürlich nicht allein auf der Bühne. Auf der Deutschlandtour im März leisteten ihm Bev Bevan (Drums), Richard Tandy (Tasten), Mike Croucatt, der Bassist, der erst wenige Tage vor Tourneebeginn einstieg, und die drei Streicher Mik Kaminski (Geige), Hugh McDowell und Michael Edwards (beide Cello) die nötige Schützenhilfe. Auffällig ist, daß sie alle weniger die Umschreibung Klassik-Rock gutheißen, sondern eher eine Mischung von Klassik mit Rock’n Roll-Elementen anstreben. Und hier muß man Jeff Recht geben, der ELO (ursprünglich mit Roy Wood) hauptsächlich ins Leben rief, um etwas völlig Neues zu bringen. Neben Beatles und Beach Boys bevorzugt er Leute wie Dei Shannon und Bobby Vee, Idole der 50er Jahre. Also nicht ganz zufällig geriet Chuck Berry’s „Roll Over Beethoven“ ins Repertoire der Gruppe. Auch Roy Wood, der große Geist der Move, hat ähnliche musikalische Wurzeln.
Nach Move folgte ELO
Roy und Jeff trafen sich schon 1966 bei den „Idle Race“, und mit der Zeit entwickelten sie gleiche Interessen. Nach mehrmaligem Bitten von Roy, der inzwischen die „Move“ gegründet hatte, stieg auch Jeff bei ihnen ein. 1970 spielten die „Move“.zwar noch hier und da, in Wirklichkeit hatten sie jedoch schon lange ihren Geist aufgegeben, und insbesondere Jeff, Roy und Bev Bevan beschäftigten sich mehr und mehr mit dem neuen Projekt: Der Gründung von ELO. Die „Move“-Hiterfolgs-Groschen entschieden letztlich die Realisation der Träume. Denn ein Traum war es schon sehr lange. Sie wollten um jeden Preis mit Streichern arbeiten, aber auf der Suche danach fielen die Drei von einer Enttäuschung in die nächste. Viele hatten und wollten nie etwas mit Rock’n Roll zu tun haben oder waren gerade der Musikhochschule entronnen und noch nicht reif für solch stattliche Pläne. Das Feeling, die Spielweise, kurz die ganze Ebene beider Extreme, war zu verschieden, um die Suche erfolgreich zu beenden.
Die erste Besetzung war schrecklich
„Zugegeben, anfangs lief nicht alles wie geplant. Ich weiß, daß es besser gewesen wäre, wenn wir in dieser Zeit nicht auf Tournee gegangen wären. Die Streicher spielten eben wie Streicher und die Rhythmusgruppe stand fast allein da. Ich hoffte anfangs immer, daß die Streicher den Sound schon füllen würden, aber die erste Besetzung war schrecklich. Es war auch keine richtige Band, eher eine Art „Session-Besetzung“, kommentiert Jeff die ersten Tage. In dieser (Session-)Besetzung nahm man die erste LP auf, die genauso hieß wie die Gruppe. Die ausgekoppelte Single jedoch wurde, was nur wenige wissen, von Roy und Jeff allein eingespielt. Sie nannten sie“ 10538Overture“, und es wurde wahrhaftig ein Hit daraus. Roy hatte aber bald die Nase voll und stieg aus. Er wollte zwar klassische Elemente beibehalten, sich aber hauptsächlich dem Rock (oder Rock’n Roll) widmen. Er gründete „Wizzard“ mit Bill Hunt und Hugh McDowell, die er bei ELO mitgehen ließ. Das war für Londoner Musikkreise eine mittlere Sensation, denn Roy hatte durch sein eigenwilliges Spiel und den auffälligen Verkleidungen ein Image für ELO geschaffen. Und nun sollte Jeff das Werk alleine weiterführen!
Ständig wechselten die Musiker
Bev Bevan blieb ihm treu, und für die untreuen „Wizzard“-Abgänger stellte man neue ein. Wilf Gibson, Colin Walker und Michael D’Alberquerque kamen hinzu, sowie Mike Edwards und Richard Tandy, die heute noch mitmischen, betraten die Bühne. Die zweite LP wurde aufgenommen: „ELO II“. Immer noch Klassik-Rock’n Roll! Aber das sollte sich ändern . . . Zunächst änderte sich wieder die Besetzung: Ted Blight ersetzte den Cellisten Walker und Mik Kaminski führte den Geigenstrich von Wilf Gibson fort. In Amerika lief es ganz gut an, denn diese Musik-Mischung kannte man dort noch nicht. Ihre Tournee wurde ein Bombenerfolg, der vielleicht mit dem Stilwechsel zu tun hatte. Amerika-Tourneen haben’s nun mal so an sich, daß die Band sich nach der Rückkehr entweder auflöst, oder der Stil einer Gehirnwäsche unterzogen wird, nach der meist jede Ecke und Verschnörkelung verschwunden sind. Die dritte LP legt Zeugnis davon ab: „On The Third Day“ lebt von sattem Rock und erinnert streckenweise an John Lennon, die Beach Boys und an alte Move-Tage. Das sollte jedoch keinesfalls negativ ausgelegt werden, denn Jeff und ELO bewiesen nur einmal mehr, daß sie inzwischen nicht verlernt hatten, was Rock ist, und wie er gespielt wird.
Und wieder Umbesetzungen
Ganz schlaue Köpfe werden jetzt vielleicht auf die Idee kommen, daß nach dieser Platte, die übrigens nie so richtig einschlug, eine Umbesetzung der Streicher-Garnitur vorgenommen wurde. So kam es auch. Ted Blight ging, und Hugh McDowell kehrte reumütig (von Wizzard) zurück. „Die meisten Streicher sitzen einfach da und spielen ihre Noten runter. Von Feeling wissen sie nichts. Ich bin froh, daß bei der momentanen Besetzung alles bestens läuft. Wir sind heute keine Band mehr mit Gitarre/Baß/Drums und ein paar Streichern, sondern so integriert, daß man die Streicher nicht mehr Streicher nennen kann. Genausogut können sie jedes andere Instrument, von der Spielweise her, reinbringen. Es ist endlich eine richtige Gruppe – ohne Sessionleute“, kommentiert Jeff. Irgendwie geht es aber immer weiter, und so erscheint ’74 die LP „The Night The Light Went On“, die alle Fans erneut vereinigt und begeistert. Die gewohnte Synthese ist wieder da und die Welt wieder in Ordnung. Da kann selbst der Austritt von Michael Alberquerque (diesmal kein Cello) nichts dran ändern.
Superproduktion „Eldorado“
Die bis heute letzte Platte von ELO ist die Superproduktion „Eldorado“. Neben seinem Wunsch, Klassik mit Rock zu vereinen, hatte Jeff nämlich noch einen zweiten Wunschtraum: Er wollte eine Rock-Symphonie schreiben, arrangieren, texten und produzieren. Und er tat’s: mit „Eldorado“! Ein 30köpfiges Orchester und 20 Chorstimmen unterstützten ihn dabei. Jeder Titel symbolisiert einen Traum, und man findet ein solch reichhaltiges Klangspektrum, daß einem der Kopf zu platzen scheint. Aber Jeff tüftelt immer noch: Der Sound muß „live“ besser werden, Filme und Light-Shows vermehrt eingesetzt, neue Möglichkeiten zur Verstärkung der Streichinstrumente müssen gefunden werden. Dazu kommen Basteleien im eigenen Studio, Texten, Komponieren usw. Für Jeff, dem Mann hinter ELO, dem geistigen Vater und ideologischen Sprecher der Gruppe, steht trotz allem fest, daß das Erreichte erst ein (kleiner) Anfang ist: „Wir lernen ja noch, welche Kombinationen noch möglich sind. Wir bekommen noch weit mehr Spielraum, wenn wir mit Dingen beginnen, die wir bisher noch gar nicht kannten. Es ist wirklich nur ein bescheidener Anfang!“ Aber nicht doch, wer wird den so zurückhaltend sein, Jeff.