ELTERN HAFTEN FÜR IHRE KIDS


Genau jetzt hätte man ihm gern in die Augen geschaut. Was in dieser Sekunde nicht möglich ist. Und so beginnt der Tag in New York ungestraft mit einer kleinen, charmanten Lüge.

Montagmorgen, 10 Uhr Ortszeit, Ostküste USA – Anruf aus Berlin bei MGMT. Harmloser Einstieg (zum Flunkern später mehr): Stören wir beim Frühstück? „Gar nicht“, sagt Ben Goldwasser am anderen Ende der Leitung, „ich schlage mich seit ein paar Stunden mit New Yorker Bürokratie herum, um mein Auto registrieren zu lassen. Das ist wahnsinnig mühsam.“

In den frühen Morgenstunden eine Autozulassung in New York beantragen – das ist ganz bestimmt mühsam, und null Rock’n’Roll. Rockstars haben mit Bürokratie nichts zu tun, sie registrieren auch keine Autos, Rockstars lassen sich chauffieren. Ein bisschen anders waren MGMT wohl schon immer.

Unmittelbar nach dem Riesenerfolg ihres Debüts ORACULAR SPECTACULAR im Jahr 2008 hatte das Duo zwei konkrete Angebote. Für die kommerziell angelegte Gelddruckmaschine THE BLUEPRINT 3 von Jay-Z einen Song schreiben oder mit den liebenswerten Flaming Lips obskure Soundlandschaften für ein Album basteln, dessen Namen niemand mehr so recht parat hat. Am Ende fiel die Wahl auf das Flaming-Lips-Projekt, statt der großen Popnummer mit dem Jigga. Rückblickend waren diese beiden Angebote die grundlegende Richtungsentscheidung auf dem weiteren Karriereweg von Ben Goldwasser und Andrew VanWyngarden alias MGMT, wie das britische Magazin „Q“ damals ganz richtig anmerkte.

Der Schritt weg vom Pop Richtung Psychedelic Rock irritierte viele Fans, die sich an Goldwassers und VanWyngardens offensichtliches Talent für Melodien gewöhnt hatten. „Electric Feel“,“Time To Pretend“ hießen die Hits vom ersten Album. Das erfolgreichste Stück darauf, das Popdestillat „Kids“, fand gar einen unerwarteten Fan in Frankreichs Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy, der es ohne Genehmigung im Wahlkampf einsetzte.

Wenn man sich am Anfang in ein Abenteuer stürzt, vergisst man schnell, dass die unachtsame Leichtigkeit der Jugend eines Tages zur Jugendsünde werden kann. Weshalb beispielsweise der Song „Kids“ MGMT verfolgt wie ein unliebsamer Suffschnappschuss auf Facebook – die eine Momentaufnahme bestimmt mit einem Mal das Gesamtbild. Ignorieren geht, weg bekommt man es nicht.

In solchen Fällen zählt nur Verdrängung – ein noch absurderes Absturzfoto produzieren, das das alte vergessen macht. Übertragen hieße das für MGMT: mal wieder einen schmutzigen Ohrwurm schreiben. Einen, der noch mehr abgeht als „Time To Pretend“, als „Electric Feel“, als „Kids“.

MGMTs Reaktion auf den Erfolg der Pop-Wundertüte ORACULAR SPECTACULAR? Sie nahmen CONGRATULATIONS auf, eine Totalverweigerung gegenüber den Zwängen einer umsatzschwachen Musikindustrie, die von umsatzstarken Hits lebt. Ein Album mit viel Störgeräuschen, Feedback, psychedelischen Flötentönen, einem Zwölf-Minuten-Stück in der Mitte der Platte, jedoch ohne nennenswerte Melodien oder eine einzige Singleauskopplung.

Für die einen kommerzieller Selbstmord, für den Musikexpress die „Platte des Jahres 2010“. „New Yorker Psychedelic-Duo gelingt Pop-Paradoxon: das wahrscheinlich hitreichste hitlose Album der Welt“, hieß es in der Rezension von Albert Koch. „CONGRATULATIONS ist nicht das störrische, widerspenstige und dahingerotzte Album geworden, mit dem zarte und beleidigte Künstlerseelen gegen die Tendenz des Rosinenpickens im Downloadzeitalter protestieren, sondern ein hübsch anachronistisches Plädoyer für ein Tonträgerformat, das in der Gegenwart immer mehr an Bedeutung verliert.“

Ganz recht, nur funktioniert der Mechanismus des Marktes manchmal erschreckend einfach. Plattenfirmen wünschen sich von ihren Künstlern ein, zwei herausragende Stücke. Jede gefällige Single erhöht das Interesse am Album, siehe Daft Punks „Get Lucky“.

Wie wär’s denn, Mr. Goldwasser, Mr. Van-Wyngarden? Dreieinhalb abgefahrene Minuten, gleich da, total drauf, schöne Melodie, großer Refrain? Eben wie, ja doch, bei „Kids“.

Ein resignierter Pfiff durch die Nase hallt im Telefonhörer. Logisch, mindestens ein bisschen leid müssen MGMT die Reduzierung auf diese Songs schon sein.

„Das ist etwas, worüber wir gar nicht viel nachdenken. Wir versuchen einfach, bei unserer Arbeit nicht auf der Stelle zu treten und stattdessen Musik zu schreiben, die uns selbst mitreißt“, sagt Ben Goldwasser. „Diese Lieder, die du gerade genannt hast, haben wir vor mehr als zehn Jahren geschrieben. Wir haben uns weiterentwickelt, wir leben ein ganz anderes Leben als damals. Es würde gar nicht passen, jetzt ein Lied in der Art zu schreiben.“ Eine kurze Pause. Dann hinterhergeschoben in einem Ton, als sei das Künstlerethos infrage gestellt worden: „Es würde sich für uns überhaupt nicht produktiv anfühlen, noch mal so was zu machen.“

Worauf wir hinauswollen, dürfte klar sein. Nach CONGRATULATIONS hätte man denken können: da will eine Band sich ein paar Freiheiten nehmen, experimentieren, ausprobieren; die kommen schon zu Sinnen, wissen schließlich, wie man tolle Popstücke schreibt.

An dieser Stelle folgt, ganz logisch: das große ABER. Das dritte und neue Album, quelle surprise!, ist nämlich noch versponnener, noch weiter draußen verortet im Koordinatensystem moderner Popmusik, als es CONGRATULATIONS bereits war. Wieder eine Platte ohne Single oder erkennbare Hits, dafür noch mehr wuchernde, sich räkelnde Psychedelic-Songs. Es dudelt, es fiept, es zerrt, schnipselartige Versatzstücke, entstanden durch stundenlanges Improvisieren im Studio, reihen sich aneinander. Gar nicht unhörbar, keineswegs misslungen, nur eine satte, irgendwie fast lustige Extraschüppe „Leck mich doch, Musikindustrie“.

Die Erwartungen der Plattenfirma und die der Fans vom Debütalbum, die auf den Konzerten gern noch vergeblich „Kids! Kids! Kids!“ skandieren, weil sie Hitshitshits hören wollen, komplett zu ignorieren – kann man machen, keine Frage. Vielleicht ist das die große Popstarnummer.

Diese Lieder waren mal nicht viel mehr als musikalische Blödeleien während der ersten gemeinsamen Auftritte zu College-Zeiten, als sich Goldwasser und VanWyngarden kennenlernten. Simple, ansteckende Songs über Erweckungserlebnisse („Kids“) und die herrliche Absurdität des Popstardaseins („Time To Pretend“). Viel später erst fielen diese Stücke dem Sony-Label Columbia Records in den Schoß und bescherten der Band ihren Plattenvertrag.

Die Columbia-Leute dürften gelinde gesagt überrascht gewesen sein mit CONGRATULATIONS, was haben die dann erst beim ersten Hören des neuen Albums gesagt?

Da ist er dann, dieser eine Augenblick. „Die Plattenfirma?“, sagt VanWyngarden ohne Zögern, „die waren sehr beeindruckt.“

Da sich übers Telefon die Mimik nur erraten lässt, verrät allein das hinterhergeschobene Kichern, dass es sich bei diesem Satz wohl doch um eine blanke Lüge handelt. Eine völlig harmlose, selbstverständlich. „Ihnen haben die akustischen Weiten imponiert, die wir geschaffen haben.“

Imponierende akustische Weiten. Immerhin. Das kann man interpretieren, wie man mag. Plattenfirmen, ist nun mal so, wollen Platten verkaufen. Das geht mit Singles eigentlich ganz gut. Hat man die Qualität der Songs von Led Zeppelin, kann man selbstredend auch jahrzehntelang ohne Single auskommen. 1997 veröffentlichte die Band ihre erste Auskopplung auf der britischen Insel und hatte trotzdem bis dato mehrere Millionen Alben verkauft. Mit elf, zwölf versponnenen Tracks wird die Sache schon schwieriger. Ein wenig Kommerz dürfte Columbia Records also nicht unrecht gewesen sein. Sogenannte boutique signings, die Prestige statt Profit einfahren, leisten sich die Labels nicht ewig.

„,Kids‘, ,Time To Pretend‘, ‚Electric Feel‘ sind großartige Songs, brauchen wir nicht zu diskutieren. Und trotzdem: Wir haben sie mit 20 geschrieben, inzwischen sind wir beide 30. Jetzt noch einmal in diese Richtung zu gehen, würde sich nicht ehrlich anfühlen“, sagt VanWyngarden. „Die neuen Stücke sind offensichtlich nicht auf die größtmögliche Zuhörerschaft ausgerichtet. Es geht vielmehr um die Verbindung, die man zu den Leuten herstellt, die sich darauf einlassen. Gerade, da wir in unserer Karriere an einem Punkt angelangt sind, wo die Plattenfirma von uns kein neues ‚Kids‘ mehr erwartet.“

Der Hang der Band zum Psychedelic Rock klang 2008 auf der zweiten Hälfte von ORACULAR SPECTACULAR an und fand zwei Jahre später in CONGRATULATIONS nur seine Ausbaustufe. Es scheint, als hätten sich MGMT nunmehr ganz ihren musikalischen Einflüssen zugewandt, die eben nicht den einschlägigen Popkonventionen entsprechen. Da die Band wie beim Debüt mit Produzent Dave Fridmann ins Studio ging, hätte man den ein oder anderen Popmoment erwarten können. Die Band verließ sich jedoch lieber auf ellenlanges Improvisieren. „Wir wollten den Songs Raum geben“, erzählt VanWyngarden. „Es gibt schon ein paar Lieder, die wir auf traditionellere Art geschrieben haben“, sagt Goldwasser. „Aber wenn ich die Platte mit etwas Abstand höre, klingen die unkonventionelleren, wie ‚Astro-Macy‘ oder ‚I Love You Too, Death‘, viel aufregender, weil darin so viele Dinge stecken, die gar nicht geplant waren. Wir haben diese langen Improvisationsstrecken auf vier, fünf Minuten heruntergebrochen und die besten Stellen “ – Goldwassers Stimme verliert sich kurz im Großstadtgeheul, das von draußen in sein Zimmer hereinschwappt – „keine Ahnung, so Musik zu machen, fühlte sich definitiv nach einem Weg an, neue Dinge auszuprobieren und uns selbst zu überraschen. Wir würden gern weiterhin auf diese Weise arbeiten.“

Wenn es um experimentierfreudige Duos geht, gibt es eine illustre Schlange, in die sich MGMT einreihen: Spacemen 3, Suicide, Chrome und Royal Trux sind nur einige Referenzen für das, was den beiden am sprichwörtlichen Herzen liegt.

Laufen lassen, maximale Freiheit, herrlich. Nur hin und wieder ist das Konventionelle, das Poppige doch auch irgendwie super. Oder?

Gerade die Vorstellung, alle Welt hat meine Melodie auf den Lippen, ist doch aufregend. „Es ist ja nicht so, dass es unmöglich wäre, in diese Richtung irgendwann einmal zurückzukehren“, erwidert Goldwasser. „Aber wir wollen nicht, dass es sich anfühlt, als würden wir uns in etwas reinknien müssen, das nicht von allein aus uns herauskommt. Was die neuen Songs so aufregend macht, ist die Tatsache, dass diese Entwicklung einfach passiert ist, vollkommen natürlich.

Ah!, der alte Griff in die Mottenkiste der natürlichen Entwicklung. Sollen wir das glauben? Gab es also nicht den einen Moment, an dem die Band sich ausdrücklich entschlossen hat, sich vom Poptralala endgültig zu verabschieden?

VanWyngarden meint nein. „Wir lieben Popmusik immer noch. Als wir 2012 ins Studio sind, um neue Stücke zu schreiben, haben wir uns sogar noch gesagt: ,Komm, nur zum Spaß, wir schreiben einen Popsong, aus purer Laune oder als Übung, wie auch immer.‘ Aber im Kopf waren wir ganz woanders. Weder streiten wir unsere Vergangenheit ab, noch distanzieren wir uns von dem Sound der alten Stücke.“

Heißt: MGMT könnten Hits, wollen nur nicht. „Na ja, was bei dem Versuch rausgekommen ist, ist das, was dabei herausgekommen ist“, sagt VanWyngarden. Macht es wenigstens Spaß, sich die Freiheit zu nehmen, den Hörer an der Nase herumzuführen – einen Song wie „Plenty Of Girls In The Sea“ zuerst in ein konventionelles Gewand zu packen und dann plötzlich auf musikalische Wanderschaft zu schicken? Genau will VanWyngarden auf dieses Spiel nicht eingehen. „Eine Verbindung zu unseren Zuhörern aufzubauen, ist das Wichtigste für uns. Deshalb machen wir eben diese Art Musik. Ich finde es gut, wenn Leute ihre eigene Interpretation haben. Wenn sie aber auf dich zukommen und dir sagen, bei der einen Stelle hätten sie dieses und jenes Gefühl gehabt, genau wie wir, das ist cool, genau das wollen wir.“ Goldwasser: „Für uns fühlen sich die neuen Stücke auf dem Album an, als seien sie noch zugänglicher als die Songs auf dem Vorgänger. Meiner Meinung nach ist es geradezu lächerlich, Musik eine starre Struktur zu verpassen und zu sagen, das ist Pop und der Rest nicht. Die Leute sind nicht doof, die verstehen die verschiedenen Spielarten. Wir nennen das, was wir gerade machen, auch Popmusik. Ich weiß gar nicht, wer das Recht beanspruchen kann, zu entscheiden, was Pop ist und was nicht. Ich bin ganz sicher, dass Leute Musik in ihrer Vielfalt begreifen, ohne gleich zu denken, sie sei irgendwie seltsam oder unzugänglich.“

Diesen Sätzen merkt man einerseits eine gewisse äußere Genervtheit an, sich immer noch rechtfertigen zu müssen. Andererseits eine innere Gelassenheit, mittlerweile nur noch die Art von Musik zu machen, die zuallererst ihnen selbst gefällt. Diese Ruhe lässt sich einwandfrei am Titel des neuen Albums ablesen, den wir uns bis jetzt aufgehoben haben. Die Platte heißt schlicht MGMT. Die Fans, die von Anfang an dabei sind, können den Titel als Art Gütesiegel lesen: angenehm, M-G-M-T, wir kennen uns von früher. Und dann gibt es, fünfeinhalb Jahre nach dem ersten, drei Jahre nach dem zweiten Album, zusätzlich eine ganz neue Generation von Zuhörern, denen der Erstkontakt mit Planet MGMT noch bevorsteht.

Ob in naher Zukunft nun ein Hit der Band aus jedem Radio plärrt oder nicht, man kann es ihnen nicht verdenken, sich eine Nische gesucht zu haben. Und grast der Blick flüchtig über die aktuelle Musiklandschaft, bleibt er nicht gerade an Gaga und Guetta hängen, wenn es um gewagte Alben geht. Es sind die Freak-Folker, die Shoegazer, die New-Psychedeliker, wie Wild Nothing, tUnE-yArDs oder Yeasayer, die dem Einheitsbrei ein Spannungsfeld entgegensetzen. Der Erfolg von MGMTs erstem Album hat diese Bands bei den Plattenfirmen nicht gerade ungefragter gemacht. Verfolgen die beiden, welche Gruppen da nachrücken?

„Wir sind gut befreundet mit Tame Impala“, sagt Goldwasser. Viele neue Bands kenne er allerdings nicht. „Kann sein, dass da was in der Luft liegt, warum Bands momentan diese Art von Musik machen. Falls wir denjenigen geholfen haben, die diese Musik schon länger machen, jetzt noch mehr Aufmerksamkeit zu bekommen, weil wir psychedelische Musik machen, freut mich das natürlich.“

Die New Yorker Bürokratie drängt, irgendwann geht das Gespräch dem Ende entgegen. Eins noch – was erwartet uns bei den Liveshows, wenn im Studio nur improvisiert wurde?

VanWyngarden und Goldwasser lachen. Ein kurzes, Zeit herausschlagendes Lachen.

„Das tüfteln wir gerade noch aus, wie wir diese improvisierten Stellen live unterbringen. Wir wollen, dass es einen organischen Sound hat. Die Proben klingen schon mal großartig“, sagt Goldwasser. VanWyngarden fügt hinzu: „Sicher hat das Publikum Erwartungen, wer hat die nicht? Das ist normal. Und was die alten Lieder angeht: Wir haben sie zehn Jahre lang live gespielt, wir haben sie erst vor ein paar Abenden wieder live gespielt. Mal sehen „

Nichts ist sicher, wie immer im Leben. Aber mit viel Glück gibt’s Kinder-Überraschung.

CD im ME S. 19, Albumkritik S. 109