Das asoziale Netzwerk
Trolle, Hetze, braune Parolen: 2015 war das Jahr, in dem wir erkannten, dass unser aller Internet-Startseite Facebook sich leider ganz prima als Hatebook anbietet. Wie konnte es so weit kommen – und was machen wir jetzt?
Wachstum ist alles, was zählt für einen Giganten wie Facebook. Deshalb kaufte man die Fotoapp Instagram und den Messaging-Dienst Whatsapp. Doch heute, ein paar weitere Akquisitionen, Produkterweiterungen und Datenschutzdiskussionen später, steht Facebook vor einem neuen Problem: Besonders in Deutschland müsste der kalifornische Social-Media-Gigant ein paar seiner User am besten wieder loswerden, mindestens aber in ihre Grenzen weisen. Denn Facebook ist vom sozialen Netzwerk zum asozialen Netzwerk geworden.
„Man sagt sich über den Autor, er fresse Schwänze wie Nudelsalat“, kommentierte ein User auf der Facebook-Seite des Musikexpress um 2 Uhr morgens als Antwort auf eine gewöhnliche Plattenbesprechung, die nicht mal als Verriss durchging. Eine mögliche strafrechtliche Relevanz und die Homophobie in diesem Erguss mal außen vorgelassen: Der Absender hatte im Schutze seiner eigenen vier Wände schlicht vergessen, dass auch am anderen Ende der Leitung Menschen sitzen. „Sorry, war betrunken“, lautete seine lapidare Entschuldigung auf Nachfrage. Doch diese Kommunikation in Schieflage zieht sich auch bei gesellschaftlich bedeutsameren Themen als dem neuen Album von Tame Impala durch fast alle Facebook-Kommentarspalten – und vermutlich sind viele Trolle erschreckend nüchtern bei Eingabe ihrer Kommentare.
Spätestens seit Deutschland als Folge des Syrienkriegs in einer nie da gewesenen Flüchtlingsdebatte steckt, hat die Hetze nicht nur auf Montagsdemos, sondern auch auf Facebook in einem erschreckenden Ausmaß zugenommen: Unter Klarnamen überschreiten Menschen regelmäßig die Grenze zwischen freier Meinungsäußerung und Nötigung, Volksverhetzung und Aufruf zum Mord. Über Verschwörungstheorien und -theoretiker kann man im besten Fall immerhin noch lachen. Über „besorgte Bürger“, die mit nichts als Angst und Hoffnung ankommende Flüchtlinge am liebsten zurück nach Ungarn, Griechenland, Syrien oder gleich „ins Gas“ schicken würden, nicht.
Der vielfach geforderte „Dislike“-Button auf Facebook würde vermutlich nur noch mehr Hetze Tür und Tor öffnen.
Die Krux: Klar, auch mit den verfassungswidrigsten Aussagen wird Enrico/Stefan aus Heidenau/Dortmund etc. endlich gehört, sammelt Likes und obliegt dem Irrglauben, er und seinesgleichen seien viele. Letztlich wohl gefährlicher, weil schwieriger zu identifizieren und sicherlich zahlreicher sind aber die Scharfmacher, Rassisten und Nationalisten, die der sogenannten Mitte der Gesellschaft entspringen. Die „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen“-Deutschen. Der vielfach geforderte „Dislike“-Button auf Facebook würde vermutlich nur noch mehr Hetze Tür und Tor öffnen, solche Hater ließen sich davon jedenfalls nicht beirren.
Facebook selbst nimmt das Problem billigend in Kauf. Gemäß seiner US-Policy geht Zuckerbergs Monstrum streng, konsequent und innerhalb weniger Stunden gegen nackte Haut und Busenblitzer vor, Rassismus aber wird kaum Einhalt geboten. „Der gemeldete Kommentar widerspricht nicht unseren Gemeinsschaftsstandards“, lautet häufig die Standardantwort, wenn man mal wieder versucht, eindeutig braune Parolen, Bilder oder Seiten zu melden. Unter Hashtags wie #NippelstattHetze wurde sich über Facebook lustig gemacht – auf Facebook, weil die kritische Masse des eigenen Umfelds und Gleichinteressierter ebenda unterwegs ist.
Wie es weitergeht? Im September traf sich Bundesjustizminister Heiko Maas mit Facebook-Vertretern und forderte ein strengeres Vorgehen gegen Volksverhetzung. Von einer „Taskforce“ war die Rede. Klingt erst einmal gut, nach Chefsache. Bei einer Veranstaltung der Vereinten Nationen unterstrich Bundeskanzlerin Angela Merkel diese Notwendigkeit gegenüber Facebook-CEO Mark Zuckerberg. Ja, daran müsse man arbeiten, meinte der. Spiegel online meldet im November, dass bereits im ersten Halbjahr 2015 deutlich mehr Einträge wegen Hasskommentaren und Gewaltverherrlichungen oder, wie Facebook selbst in einem Report ausweist, nach Anfragen von Strafvollzugsbehörden oder wegen lokaler Gesetzgebung gelöscht wurden. Auch sei die weltweite Nachfrage von Justizbehörden nach Nutzerdaten sprunghaft gestiegen. Zudem leitete die Staatsanwaltschaft Hamburg eine Ermittlung gegen Facebooks Nordeuropachef ein. Der Vorwurf: Beihilfe zur Volksverhetzung.