Faithless: Glaube, Hiebe, Hoffnung
Vor zwei Jahren glückte ihnen einer der SuperseUer des Sommers. Jetzt versuchen Faithless, an den großen Erfolg von 1996 anzuknüpfen - bei vier erklärten Individualisten nicht gerade das leichteste Unterfangen
SISTER BLISS: „HOUSE IST DIE MUSIK IN DER ICH MEINE GEFÜHLE AM besten ausdrücken kann.“ Jamie Catto: „Ich kann das nicht nachvollziehen. Sicher gibt es Leute, die dazu gerne tanzen, aber am Ende klingt doch alles gleich.“ Sister Bliss: „Blödsinn! Ich kann einfach nicht glauben, daß du das immer noch denkst.“ Jamie Catto: „Mir sind die Grenzen bei House zu eng gesteckt. Du mußt dich an lauter Regeln halten, sonst tanzt keiner.“ Sister Bliss: „Aber die Herausforderung ist doch gerade, innerhalb der Grenzen Neues zu schaffen. Ich könnte ohne House nicht mehr leben.“ Streitereien wie diese gehören bei Faithless zur Tagesordnung. Kein Wunder, wenn sich zwei House-Produzenten und DJs zusammentun, ein Rapper und Acid-Jazz-Liebhaber sowie ein Sänger und Songwriter, der lieber Peter Gabriel hört, als Clubs zu besuchen. Erstaunlich, daß Faithless trotz unterschiedlichster musikalischer Vorlieben überhaupt existieren, ihre konträren Ideen in das gemeinsame Projekt einbringen und die einzelnen Mitglieder die Freiheit haben, andere Visionen für sich selbst zu verwirklichen. Faithless ist der Kern einer selbstgeschaffen Familie. Für Produktion, Remixe Videos und Covergestaltung sorgt man in Eigenregie, alles weitere besorgen Freunde und Verwandte sowie Cheeky Records, das Label von Faithless-Gründer Rollo Armstrong. Armstrong ist Erfolg gewöhnt. Die erste Platte, die er veröffentlichte, „Don’t You Want Me“ von Felix (1992), verkaufte sich zwei Millionen mal. Danach gründete Armstrong seine eigene Firma und avancierte mit Projekten wie Gloworm und Rollo Goes Camping sowie mit Mixarbeiten für die Pet Shop Boys, Simply Red und U2 zu einem der erfolgreichsten Danceproduzenten Englands. Auch Sister Bliss, Rollos langjährige Studiopartnerin, hatte sich in englischen Clubs als Produzentin und D-Jane bereits einen Namen gemacht bevor sie mit Faithless weltweit bekannt wurde. Seltsamerweise fing die Erfolgsgeschichte der Gruppe in Deutschland an. „Insomnia“gelangte hier an die Spitze der Charts, während sich in England kaum jemand für den Song interessierte. „In Deutschland hatten wir die Unterstützung von einer großen Plattenfirma, während wir in England auf uns selbst gestellt waren“, bemerkt Sister, „das ist die einzige Erklärung, die mir dazu einfällt. Eigentlich gelten die englischen Charts ja als Trendbarometer. Aber in unserem Fall war alles anders.“ „INSOMNIA“, MIT SEINEM VON MAXI JAZZ GESUNGENEN „I CANT GET NO Sleep“-Mantra und der dazugehörigen euphorischen Melodie, avancierte zum Sommerhit ’96. Doch was Faithless von anderen, zur gleichen Zeit erfolgreichen Acts unterschied, war die Tatsache, daß “ Reverence“, das Album zur Single, mehr zu bieten hatte als leicht variierte Synthie-Loops zu vorgestanzten Beats. Die Bandbreite der Platte spiegelte die unterschiedlichen musikalischen Interessen von Rollo, Sister Bliss, Jamie Catto und Maxi Jazz wieder. Zu Dancefloor-Hymnen gesellten sich Blues- oder HipHop-Songs – und die wohl erste Ballade mit Scratcheinlage. „Reverence war eine Platte, die der englischen Clubkultur entsprang, aber auch berücksichtigte, daß es ein Leben nach dem Wochenende gab. Darüber hinaus eignete sie sich bestens zur Umsetzung auf der Bühne Die letzten beiden Jahre verbrachten Faithless denn auch hauptsächlich auf Tour. „Wir haben uns bemüht, in Ländern zu spielen, die viele Bands normalerweise nicht auf ihrer ersten Tour besuchen, wie zum Beispiel die Türkei, Kroatien oder Puerto Rico“, erinnert sich Jamie Catto, „wir konnten dabei jede Menge Erfahrung sammeln.“ Das neue Album („Sunday 8 p.m.“) wurde im Anschluß an die Tournee zu Beginn dieses Jahres in einem Studio in Nord-London innerhalb von drei Monaten geschrieben und aufgenommen. „Wir haben die Platte ‚Sunday 8 p.m.‘ genannt, weil diese Zeit für uns die Atmosphäre des Albums widerspiegelt“, erläutert Sister Bliss, „das Wochenende ist eigentlich schon vorbei, aber die neue Woche hat noch nicht begonnen. ‚Sunday 8 p.m.‘ hängt irgendwo zwischen diesen Phasen.“ Für eine elektronische Danceproduktion, welche die Platte trotz aller Stilvielfalt fraglos darstellt, klingt „Sunday 8 p.m.“ erfreulich zeitlos. Vergleicht man das Album etwa mit „Reverence“, ließe sich beim bloßen Hören kaum beurteilen, welche Scheibe die neuere ist. Faithless haben sich also weniger um aktuelle Entwicklungen in der Musik, sondern mehr um die Fortsetzung ihres eigenen Sounds gekümmert. Doch wenn „Insomnia“ mit seinen fulminanten Rhythmuswechseln und Spannungsbögen noch wie die perfekte Zusammenfassung eines grandiosen DJ-Sets in zehn Minuten klingt, wiederholen neue Stücke wie „God is a DJ“ bisweilen nur bereits Dagewesenes. “ Darüber muß man sich klar sein: Wir können das Rad nicht jeden Tag neu erfinden“, meint Sister Bliss, „aber wenn wir nur einen einfachen Abklatsch von ‚Reverence‘ hätten machen wollen, hätten wir das auch wesentlich einfacher haben können.“
SO BRACHTE DAS NEUE ALBUM ZUM BEISPIEL PERSONELLE Veränderungen mit sich. Tourgitarrist Dave Randall ist jetzt festes Mitglied von Faithless, während sich Rollo Armstrong weitgehend aus dem Licht der Öffentlichkeit zurückzieht und sich statt dessen verstärkt um die Geschicke seiner Firma Cheeky Records kümmert. Auch für die anderen Bandmitglieder ist Faithless nicht das einzige Betätigungsfeld. Alle arbeiten auch auf anderen musikalischen Baustellen. Am fleißigsten ist Jamie Catto. Der Clubhasser und Peter-Gabriel-Anhänger ist mit drei eigenen Vorhaben, die er Schlag auf Schlag realisieren möchte, völlig ausgelastet. Zunächst produziert Catto eine Platte mit dem afrikanischen „Real World „-Künstler Ayub Ogada. Anschließend stehen zwei Konzeptalben auf der Tagesordnung. Dafür sicherte Catto sich die Unterstützung von Mitgliedern der Sneaker Pimps, von Oasis und Becks Tour-DJ Swamp. Nebenher kümmert sich der 28jährige Catto auch noch um die Videos von Cheeky Records: “ Durch Faithless habe ich Kontakt zu vielen interessanten Leuten bekommen. Letzte Woche zum Beispiel habe ich Michael Stipe getroffen. Bei dieser Gelegenheit hat er mir verraten, daß er ein großer Fan von Faithless ist. Und wer weiß, vielleicht wird er ja mal auf einer meiner Platten zu hören sein.“ Doch erst mal muß der Tourbus von Familie Faithless wieder ins Rollen gebracht werden. Im November soll er in Deutschland haltmachen. Man darf gespannt sein.