Jahresrückblick

Ungeordnete Verhältnisse


Willkommenskultur, Angstbürger und Nazi-Angriffe. Was der Umgang mit und die Diskussionen über Menschen auf der Flucht über uns verraten – hierzu gab es tatsächlich auch ein paar Erklärungshilfen aus Kunst und Pop.

„Wo die Kunst versagt, gibt es Unmenschlichkeit, denn menschliche Grausamkeit erwächst aus Mangel an Vorstellungskraft.“

Dieser bemerkenswerte Satz stammt von der schottischen Schriftstellerin A. L. Kennedy, er war konkret auf den europäischen Herbst 2015 gemünzt, den Umgang mit den Flüchtlingen, das Aufkommen der Rechtsparteien, er fragte nach den Ursachen von Hass und Gewalt.

Das asoziale Netzwerk
Wer das kollektive Gedächtnis ausknipst, wird kaum in der Lage sein, sich eine Zukunft mit den Neuankömmlingen vorzustellen. Migration gibt es seit Menschengedenken. Wo Krieg und Katastrophe waren, waren Flüchtlinge. Unsere Geschichte ist voll von ihren Geschichten. Germanen flohen vor den Hunnen („Völkerwanderung“ heißt der Euphemismus dazu). Deutsche flüchteten im 19. Jahrhundert nach Amerika, um nicht auf ihrer Scholle krepieren zu müssen (Edgar Reitz’ Filmepos „Die andere Heimat“ aus dem Jahr 2013 erzählte davon), Hitlers Mörder-Regime vertrieb Millionen von Europäern.

In unserer Entertainmentgesellschaft waren uns Flüchtlinge lange Zeit nur auf Leinwand und TV-Bildschirm entgegengekommen. Als sie dann in unseren Städten eintrafen, war auch die Stimme der Kunst weitgehend verstummt.

„Ihr Partypatrioten, seid nur weniger konsequent als diese Hakenkreuz-Idioten, die geh’n halt noch selber ein paar Ausländer töten.“

Das linke Berliner Rap-Kombinat K.I.Z. packte diese seine „Bestandsaufnahme“ in ein radikales, von Ku-Klux-Klan- und IS-Ästhetik befeuertes Gewalt-Video zum Song „Boom Boom Boom“.

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So verstörend war 2015 kein anderer Beitrag zur Stimmung im Land, die sich täglich neu sortierte und einen zunehmend schärferen Ton generierte. Hunderttausende von Menschen, die es nach Deutschland schafften, demonstrierten uns, wer wir sind und wer wir sein können. Sie entlockten uns Hilfsbereitschaft und Willkommenskultur, entblößten aber auch die tief schlummernden Ängste, die braune Lust an der Zerstörung eines humanen Gemeinwesens.

Rechtsextreme Gewalt nahm 2015 massiv zu: Im Vergleich zu 2014 verdreifachte sich laut BKA die Zahl der Straftaten gegen Asylunterkünfte auf 637 – Stand Anfang November!

„So ungeordnet wie jetzt war es in Deutschland noch nie.“

Edmund Stoiber bellte bei Günther Jauch in der ARD gleich mal vor, was viele dachten. Die CSU hatte ordnungshalber ein „Deutsches Integrationsfernsehen“ als Leitkulturschule für die Neuankömmlinge propagiert. Plötzlich wollte jeder mitreden, war jeder von den Flüchtlingen betroffen, das reichte von den „Ich bin zwar kein Nazi, aber“-Bürgern, die von Joko und Klaas im YouTube- Video korrekt angezählt wurden, bis zu den besorgten Eigentümern und Erziehungsberechtigten, die ja nichts gegen die Aufnahme von Flüchtlingen hatten, „aber bitte nicht bei uns“.

Ging es überhaupt noch um das Leben der Flüchtlinge? Eher um Besitzstandswahrung und Projektionen sozialen Unfriedens in den Feldern Arbeit, Wohnen und Glauben. „Wir schaffen das“, hatte die Kanzlerin gesagt. Geschichte wurde gemacht, es ging nur nicht voran (mit der Lösung der Probleme).

„Über euer scheiß Mittelmeer käm ich, wenn ich ein Turnschuh wär. Oder als Flachbild- Scheiß – ich hätte wenigstens ein’ Preis“

Mit dieser Textzeile kommentierte Schorsch Kamerun die Flüchtlingssituation schon 2006, heuer legten die Goldenen Zitronen ihren Song noch einmal in englischer Sprache auf: „If I Were A Sneaker“. Als Verweis auf das Unmenschliche im menschengemachten Kapitalismus, der Gelder und Waren so frei fließen lässt.

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Bei denen, die nicht daran teilhaben können, zirkulieren nur die Bilder, die Illusionen. Der Boden, auf dem Europas Reichtum so lange gedieh, wird nun von denjenigen aufgesucht, die Krieg, Armut, Perspektivlosigkeit zu entkommen versuchen. Auch sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“ haben dabei nur unsere kapitalistische Lektion gelernt: Geh dahin, wo Geld ist. „Warum ist man überhaupt in die Schiffe gestiegen und hat Kolonien erobert?“, fragte Kamerun im ME- Interview und gab gleich die Antwort: „Aus Gier. Ich finde das ziemlich zynisch, wenn wir nur Leute aufnehmen, die gut ausgebildet sind, oder weil uns hier die Kinder ausgehen.“

„Ein Foto, um die Welt zum Schweigen zu bringen“

So schrieb die italienische Zeitung „La Repubblica“. Es zeigte die Leiche des ertrunkenen dreijährigen Aylan Kurdi am Strand von Bodrum. Ein Foto, das in seiner brutalen Unschuld berührte, zu schrecklich war, um hinzusehen und im selben Moment zu schrecklich, um die Augen abzuwenden, zur Tagesordnung überzugehen. Das, was einige Medien aus Rücksicht auf die Würde des toten Kindes nicht zeigten, zeigte doch etwas: Scham und Hilflosigkeit, unser Versagen.

Dahinter erscheinen die Bilder von den Flüchtlingstrecks als abstrakte apokalyptische Metaphern, die Zahlen über Versorgungsengpässe und Notunterkünfte als unwirkliche Fakten. Wir schauen paralysiert auf das, was auch unsere Urheberschaft trägt. Der Blick danach auf die Manipulationsvorwürfe zu VW und DFB, den ganz normalen Wahnsinn – er sorgte fast schon für Ruhe und Geborgenheit.