„Früher habe ich mir in die Hosen gemacht“


Er sagt, seine Band mache Musik für Außenseiter. Sie sagt, seine Musik hätte ihr als Teenager das Leben gerettet. Er nennt seine Hardcore-Fans den „schwarzen Schwarm“. Sie plakatierte ihr Jugendzimmer mit seinem Gesicht. Höchste Zeit also, sich endlich auszusprechen: Wir baten die Golden-Globe-Gewinnerin Chloë Sevigny, den Depeche-Mode-Sänger Dave Gahan für uns auszufragen.

GAHAN: Hi Chloë!

SEVIGNY: Hi! Bist du nicht in New York?

Leider nicht. Wir sind mit der Band gerade in London.

Als ich auf der Highschool war, wollte ich zur Zeit von 101 unbedingt zu einem Konzert von euch.

Mein Gott, da kannst du ja gerade erst fünf Jahre alt gewesen sein. (lacht)

Stimmt nicht! Ich war 14 oder 15 und hörte damals alles Mögliche. Mein Vater kannte sich mit angesagten Bands gut aus, und außerdem hatte ich ja noch einen älteren Bruder. Aber Depeche Mode war die erste Band, die ich alleine für mich entdeckt habe.

Cool.

Ich konnte jedoch nicht genug Geld zusammenkratzen, um mir ein Ticket zu leisten; das Geld vom Babysitten reichte nicht. Aber da war dieser Bursche, der mich an Damone aus „Fast Times at Ridgemont High“ („Ich glaub‘ ich steh‘ im Wald“, eine Teenager-Filmkomödie von 1982 – Anm. d. Red.) erinnerte. Er verkaufte Tickets und Pot und alles Mögliche. Also ging ich zu ihm und fragte, ob er noch Depeche-Mode-Tickets hat. „Klar“, sagte er: „Aber sie kosten ’ne Stange Geld.“ Ich hatte nicht genug, worauf er sagte: „Wenn du mir einen runterholst, können wir uns über den Preis einigen.“

Nein, sag es bitte nicht!

Ob du es glaubst oder nicht: Ich wusste damals nicht, was er mit „runterholen“ meinte. Also ging ich zu meinen Freunden zurück und erzählte, dass ich die Tickets haben könne, wenn ich ihm einen „runterholen“ würde. Und alle sagten: „Bloß nicht, tu’s nicht!“

Oh mein Gott.

Also habe ich euch damals nicht gesehen, aber in den Jahren danach regelmäßig. Worauf ich mich immer besonders gefreut habe, waren die Sekunden zwischen den Songs, wenn du das Mikro zur Seite schiebst und etwas vor dich hin murmelst.

(lacht) Ja, das ist richtig, das mach ich.

Ich habe mich immer gefragt, was du da sagst. Fühlst du dich von den Songs eingeschnürt? Willst du aus einem Korsett ausbrechen?

Da ist was dran. Gestern ging mir ein ähnlicher Gedanke durch den Kopf. Neben Depeche Mode habe ich ja noch eine Band für mein Solo-Material, alles Jungs, die ich aus Los Angeles kenne: Martyn LeNoble spielt Bass und war früher bei Porno For Pyros, Victor Indrizzo, unser Drummer, spielte früher bei Beck. Es ist ein völlig anderer Schuh als Depeche Mode, wo alles exakt an seinem Platz sitzt. Und machmal frustiert es mich, dass alles so festgelegt und durchorganisiert ist. Innerhalb dieser Strukturen fühle ich mich manchmal wie ein Joker, von dem man nicht weiß, wie er sich verhalten wird.

Aber gerade diese Momente sind doch unglaublich stark!

Das ist wohl das Tier in mir, das in solchen Momenten raus will.

Was mir darüberhinaus an euren Shows auffällt, ist die Tatsache, dass viele eurer Songs inzwischen Sing-alongs geworden sind. Das Publikum darf singen. Kannst du das auf der Bühne überhaupt hören? Ist es laut?

Absolut. Ich bekomme den Monitor-Sound nicht über Kopfhörer, wie das heute weit verbreitet ist, sondern bevorzuge noch immer die Monitor-Lautsprecher auf der Bühne. Da bin ich ganz altmodisch. Ich muss das Publikum fühlen. Ich liebe diese Momente der Gemeinsamkeit – das ist fast schon eine religiöse Erfahrung. Es gibt einem das Gefühl, dass wir hier etwas gemeinsam kreieren. Und man kann das Publikum definitiv hören, vor allem in den Stadien, in denen wir auf unserer jüngsten Tour spielten. Wir haben in Tel Aviv angefangen, wo wir in einem riesigen Fußballstadion auftraten – also ganz so wie zu Zeiten von 101. Und in Europa ging es genauso weiter.

In welchen Städten gibt es die besten Fans?

L.A. ist immer fantastisch. Zu L.A. und New York habe ich einen besonderen Draht, weil es mein Zuhause ist. Auf die Bühne des Madison Square Garden zu gehen ist immer etwas Außergewöhnliches. Ich glaube, man versucht noch ein Quentchen mehr rauszuholen, wenn man vor heimischem Publikum auftritt. Ich verspüre da so etwas wie Pflichtgefühl. Europa kann man nicht über einen Kamm scheren: In Italien etwa singen grundsätzlich alle mit, sogar zwischen den Songs. Mailand ist fantastisch, Paris ist toll, London hingegen ist schwierig, weil dort alle so supercool drauf sind.

Das stimmt tatsächlich. Bei allen Shows, die ich in London gesehen habe, hatte ich immer diesen Eindruck.

In London habe ich das Gefühl, als würden um mich herum riesige Tore ins Schloss fallen. Es ist auch nicht mehr meine Heimat. Polen ist wahnsinnig, Prag ist großartig, ebenso Budapest …

Glaubst du, dass es gerade die unangepassten Kids in diesen Städten sind, die zu der Band ein intensiveres Verhältnis haben? Mir kommt es immer so vor, als würden die Jugendlichen, die sich am Rande der Gesellschaft befinden, eine größere Leidenschaft entwickeln.

Das war schon immer so. Es sind immer die Kids, die in der Schule gehänselt wurden, die irgendwie nicht reinpassten, wo irgendwas nicht stimmt. Als ich jung war, ging es mir genauso, auch wenn ich mein Fremdsein gut verstecken konnte. Ich hatte völlig gegensätzliche Freundeskreise: Da waren die Kids, die nur in Discos gingen, während andere auf der Straße abhingen und Autos knackten. Ich habe mich nie richtig einer Gruppe angeschlossen, so dass niemand wusste, wer ich eigentlich war. Das ist ein Verhaltensmuster, das sich durch mein ganzes Leben gezogen hat. Ich glaube, dass Martin (Gore) und ich da einen ähnlichen Background haben. Wir hatten beide Stiefväter, von denen wir dachten, sie seien unsere leiblichen Väter. Wir wuchsen in der gleichen Atmosphäre des Misstrauens auf. Und es gibt eine Menge Kids, denen es ähnlich geht. Und irgendwie scheint Depeche Mode diese Sonderlinge instinktiv anzuziehen – Leute, die nach etwas suchen, das außerhalb des Mainstreams liegt.

Für eine Band, die nur Außenseiter anspricht, verkauft ihr aber verdammt viele Platten.

Es gibt da draußen nun mal eine Menge Freaks (beide lachen).

Wenn du heute einige der alten Songs singst – wie „Enjoy The Silence“ oder „Blasphemous Rumours“, die ja wirklich tiefschürfende Lyrics haben: Bekommen die Texte dann eine andere Bedeutung?

Absolut. Aber Songs wie „Enjoy The Silence“ haben für mich immer gepasst. Der Titel hat für mich eine zeitlose Qualität, ich hatte nie das Gefühl, etwas hinzufügen zu müssen. Und es ist eine Mitsing-Nummer, was immer hilfreich ist. Und „Stripped“ hat auch was von einer Hymne – es wird immer der Song vom Ende der Zeit sein.

Aber er drückt auch schwer auf die Tränendrüse (Gahan lacht). Ich weiß nur eines: Wenn ich über längere Zeit eine Rolle in einer Theateraufführung spiele, stelle ich fest, dass ich in meinem Text immer neue Nuancen entdecke. Aber du hast mit manchen Songs zigtausendmal auf der Bühne gestanden. Es muss doch schwerfallen, dann noch Leidenschaft hinein zu projizieren.

Ich mache mir auch oft Gedanken darüber. Sollte dieser Fall wirklich eintreffen, würde ich dafür plädieren, die Nummer nicht mehr zu spielen. Ich möchte nicht, dass jemand in der Band Aversionen aufbaut oder wir sie nur aus schierer Nostalgie im Repertoire haben. Obwohl das auch seine Reize haben mag. Ich kann durchaus nachvollziehen, dass Stones-Fans noch immer zu ihren Konzerten gehen. Ich war im Beacon Theater, als Martin Scorcese dort seinen Konzertfilm drehte, und ich konnte nicht glauben, wie gut sie waren. Gleichzeitig dachte ich aber auch: Nee, wenn ich alt bin, möchte ich so was nicht machen (lacht).

Wenn ich mir eure Platten anhöre, habe ich den Eindruck, dass sie im Lauf der Jahre dunkler, auch maskuliner wurden, jedenfalls nicht mehr so tanzbar wie früher sind. War das eine bewusste Entscheidung?

Ich denke, das hat sich organisch entwickelt. Als wir mit SOUNDS OF THE UNIVERSE anfingen, hatten wir so viele Songs wie nie zuvor beisammen. Und wir wollten sie alle aufnehmen, um dann das Album zusammenzustellen. Ich denke noch immer in der „Album-Kategorie“: Es hat zwei Seiten, und wenn die erste zu Ende ist, fängt die zweite an. Aber bei einigen Songs, zumindest was die Instrumentierung angeht, haben wir durchaus einige tanzbarer gehalten, ein bisschen Richtung retro gedacht. Was meine Stimme angeht, so bin ich aber ganz sicher „dunkler“ geworden. Ich mag dieses Gefühl der Erlösung in einem Song: wenn man durch die Musik, durch die Melodie aus einem deprimierenden Zustand aufgerichtet wird. Selbst wenn die Lyrics düster und depressiv sind, sollte die Musik dich aufbauen. Musik kann das. Ich glaube noch immer daran, dass eine Platte deine Gefühle in eine andere Richtung lenken kann. Musik ist das einzige Mittel, das so was kann – zumindest das einzige ohne folgenschwere Konsequenzen (lacht).

Ich hätte eine Frage zu eurem Bühnendress. Mode ist ja sowas wie ein Hobby für mich.

Ja, mir ist aufgefallen, dass du immer Wahnsinns-Klamotten trägst.

Ich hatte den Eindruck, dass du in den frühen Jahren viel von Gaultier getragen hast.

Stimmt. Du hast recht.

Und Martin ging mehr in diese S&M-Richtung. Hattet ihr je einen Designer, der euch in diesen Dingen beraten hat?

Nein, wir haben das immer selber gemacht, auch heute noch. Selbst wenn wir uns mit jemandem zusammensetzen und besprechen, wie wir auf der Bühne aussehen wollen, suche ich noch immer das Material aus. Ich mag diesen Aspekt der Arbeit sogar. Ich ging ja mal zur Kunsthochschule, auch wenn ich im dritten Jahr ausgestiegen bin. Aber eines der Fächer, die mich am meisten interessierten, war Mode. Wahrscheinlich nur deshalb, weil außer mir und einem anderen Jungen nur Mädchen in der Klasse waren.

(lacht) Wer hat euch denn beim Design geholfen?

Auf der letzten Tour habe ich mit einem Mädchen aus New York zusammengearbeitet, April Johnson. Sie ist eine Stilistin. Wir setzten uns zusammen und brachten ein paar Ideen aufs Papier. Martin hat auch ein paar tolle Outfits. Zuletzt ohne Flügel! Er dachte, es sei an der Zeit, auf die Flügel zu verzichten.

Ihr beiden saht immer toll aus, während der Rest der Band Rollkragenpullis und alte Lederjacken bevorzugte …

Ja, ich liebte die Sachen, die wir uns anfangs aus Second-Hand-Läden rausgefischt haben. Wir hatten ja kein Geld. Und als wir dann Geld hatten, haben wir es gleich in eine teure Jean-Paul-Gaultier-Lederjacke investiert (lacht).

Trägst du jeden Abend die gleichen Sachen auf der Bühne?

Ich variiere, aber wenn ich einmal etwas gefunden habe, das ich wirklich mag, lasse ich mir gleich vier identische Exemplare schneidern, weil ich mich damit dann identifiziere. Und wenn ich einmal da drin stecke, fällt es mir schwer, mich davon zu verabschieden. Also bleibe ich dabei. Depeche-Songs sind ja irgendwie sehr anschaulich: Es geht immer um einen Charakter, der sich von etwas lösen will – oder etwas sucht, an das er glauben kann. Einen Schimmer der Hoffnung. Vielleicht ist der Weg dorthin ein Holzweg, aber am Ende erblicken wir hoffentlich immer das Licht am Ende des Tunnels.

Wieviele Kinder hast du?

Einen Sohn, der 21 ist, also inzwischen ein Mann. Dann noch Jimmy, meinen 16-jährigen Stiefsohn, und Stella Rose, meine neunjährige Tochter.

Ich frage deshalb, weil einer von Nick Caves Söhnen jetzt als Model arbeitet. Gerade hier in New York gibt es ja eine Menge Kinder berühmter Eltern, die als Musiker oder Schauspieler beschäftigt sind. Versuchst du bewusst, deine Kinder da rauszuhalten?

Ja, aber mein Ältester lebt in London und will ins Musikgeschäft; er arbeitet für eine PR-Firma, will aber selbst Musik machen. Jimmy, der in New York lebt, interessiert sich nur für Basketball. Alles dreht sich um die New York Knickerbockers.

Aber ich habe dich noch nie bei einem Knicks-Spiel gesehen, und ich bin fast immer dort.

Doch, manchmal gehe ich hin, während Jimmy jedes Spiel sieht. Basketball ist ein bisschen wie Rock’n’Roll: Man braucht Disziplin, um sich da hinzustellen und jeden Abend eine Leistung abzurufen.

Man muss ein Athlet sein, um in einer Band zu spielen.

Ja. Ich verausgabe mich auf der Bühne – und ich bin stolz darauf. Ich schaue mir eine Menge Bands an, und manchmal bin ich einfach enttäuscht. Es gibt eine Handvoll Performer, vor denen ich den Hut ziehe – wie Nick Cave oder Iggy Pop, die sich selbst kompromisslos in den Ring werfen. Aber oft genug sieht man auch Leute, denen die Qualität ihrer Performance offensichtlich am Arsch vorbeigeht.

Ich muss gestehen, dass ich den Mund nicht aufkriege, wenn ich meine Idole treffe. Ich traf einmal Siouxsie in London, und ich konnte nichts sagen. Sie ist einfach eine Ikone für mich.

Ich bin bei bestimmten Leuten auch nicht gerade relaxt, und Siouxsie kann schon sehr einschüchternd sein. Sie kommt schnell zur Sache, wenn sie dich abwatschen will.

Aber sie kann auch eine tolle Show auf die Bühne bringen.

Ja, sie ist großartig. Früher habe ich mir regelrecht in die Hose gemacht, wenn ich Leute kennenlernte, die ich verehrte. Ich traf einmal David Bowie und hatte panische Angst, weil ich mir vorstellte, dass ich von ihm vielleicht enttäuscht sein würde. Aber er war unglaublich nett, und wir hatten sofort einen Draht. Ich bin ein Riesen-Bowie-Fan, ich höre noch regelmäßig seine Sachen. Wenn ich in einer bestimmten Stimmung bin und ZIGGY STARDUST oder ALAdDIN SANE auflege, weiß ich genau, dass sich meine Gefühlslage komplett ändern wird. Die Musik nimmt mich mit zu Plätzen, die ich immer besuchen wollte, als ich ein Teenager war. Wo Bowie war, da wollte ich auch hin.

Deswegen glaube ich, dass es wichtig ist, auch alte Songs auszugraben, selbst wenn man sie tausendmal gespielt hat: Es bringt die Zuschauer zurück in eine Zeit, als sie noch Teenager waren.

Stimmt. Das versuche ich mir immer zu vergegenwärtigen. Wenn ich manchmal nicht in der rechten Stimmung bin oder mich schon mit der Frage beschäftige, ob sie nach dem Gig im Hotel wohl noch Room-Service haben, dann reiße ich mich wieder zusammen, weil man Depeche-Mode-Fans einfach nicht ignorieren kann. Sie verlangen dir einiges ab. Und das ist es, was Depeche-Mode-Shows auszeichnet: Es ist eine gemeinsame Anstrengung. Ich sage immer, dass diese Erfahrung größer ist als die Band. Es ist eine Einheit – und die wird noch bestehen, wenn wir uns längst von der Bühne verabschiedet haben.

Und ihr habt weiß Gott einige ausgeklinkte Fans.

Ja, in einigen Orten können sie einem schon Angst machen. Wir nennen sie den „black swarm“.

Klingt super. Morrissey nennt seine beinharten Fans die „irregular regulars“.

(lacht) Und wir haben den schwarzen Schwarm, und in ganz Europa siehst du sie bei jeder Show. Ich weiß auch nicht, was sie privat machen. Vermutlich arbeiten sie, aber wenn eine Tour angekündigt wird, kaufen sie sich Tickets für die ganze Tournee.

Und hängen sie auch in euren Hotels rum?

Zum Teil. Es sind coole Vögel, und deswegen kümmern wir uns auch um sie. Einige können schon mal über die Stränge schlagen, aber im Lauf der Jahre haben sie gelernt, dass es immer auf den richtigen Zeitpunkt ankommt. Wenn ich mit meiner Familie zusammen bin, möchte ich keinen von ihnen rumhängen haben. Wenn es um meine Kinder geht, schiebe ich sofort den Riegel vor. Die beiden Jungs könnten damit vielleicht umgehen, aber bei meiner Frau und meiner Tochter ziehe ich eine strikte Trennlinie. Und wenn sich jemand nicht daran hält, kann ich auch schon mal unangenehm werden.

Wenn du sagst, dass ihr euch um eure Fans kümmert: Heißt das auch, dass ihr sie mit Tickets versorgt.

Durchaus, vor allem bei denen, die uns überallhin nachreisen. Man versucht dann, ihnen zu helfen. Manchmal buchen wir ihnen auch Zug- oder Flug-Tickets, um sie an den nächsten Ort zu bringen.

Der schwarze Schwarm. I love it.