Gedanken zum Gegenwärtig*innen, Folge 3: Mutter, Faser, Entenfeder
Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert. Und wie und warum lässt sich alles mit Zeilen aus International Musics ENTENTRAUM erklären?
Drei Beobachtungen:
1. *all is misery
Rituale soll man sich schaffen. Im Post-New-Normal-Life. Sich jeden Abend auf seine Akupressurmatte legen und etwas lesen, hören, schauen, das einen an ein sorgenfreieres Gestern erinnert. Wie „Dawson’s Creek“ auf Netflix. Die Serie, in der eine der Schülerinnen eine Jugendzeitschrift aufschlägt, um einen Purity-Test zu machen. Wie „pure“ bist du, fragten sich amerikanische Teenager*innen Ende der Neunziger. Also wie möglichst wenige sexuelle Erfahrung hast du? Boy, did times change!
Gäbe es heute noch Jugendzeitschriften, würden sie vermutlich Adornos F-Skala-Test drucken: Wie möglichst unautoritär bist du? Wie wenig klassistisch, ableistisch und rassistisch ist dein Weltbild? Inwieweit konntest du dich – mit eigener Bildungsarbeit – von den Strukturen, in denen du lebst, emanzipieren? Das Neunziger-Elterngeneration-Tabu Heterosex wurde vom Pop derart gebrochen, dass es nun sogar aus einem Titel des „Sex and the City“-Reboots gestrichen wurde: „And just like that“ soll der heißen.
2. *die Sprache ist eklektisch, as you and me
Wie möglichst unautoritär bist du, fragt sich auch der Schriftsteller-Protagonist Christian Kracht in „Eurotrash“. Einer Autofiktion, die seinen Neunzigerjahre-Hit „Faserland“ fortsetzen, beziehungsweise umschreiben soll. Ihn von dem damaligen Zeitgeist in den heutigen übersetzen, ihm die tiefere Ebene geben soll, die man in den Neunzigern immer nur wohlwollend hineininterpretieren musste. In die Leerstellen Sex, Partys und Barbour-Jacken. Darunter geht es natürlich um Deutschland, das Nazi-Erbe, Vergewaltigung, Mutter, Vater, Schmerz. Denn niemand ist ein Individuum. Sondern hineingeboren in ein System. Eine Familie.
3. *der Wahnsinn ist symmetrisch, er dreht mich im Kreis
So wird einem wirklich ein bisschen schwindelig, wenn man sich die Dokumentation „The World’s A Little Blurry“ über Billie Eilishs Arbeit an ihrem Debütalbum ansieht. Eilish musiziert mit ihrem Bruder. Zu Hause im Bett. Immer umgeben von ihren Eltern, die sie in die Kamera sagen lässt, wie sehr Eilish früher Justin Bieber angehimmelt hat. Eilish lässt sich von ihren Eltern filmen, während die sie wecken, um ihr von ihren Grammy-Nominierungen zu erzählen.
Man erlebt eine Künstlerin, die in ihren Eltern keine Strukturen sieht, die es zu zerstören gilt. Da ist kein Uncool. Keine Scham und kein Tabu. Eilish kann sie selbst sein. Ohne Pose. Offen mit der Mutter über Selbstmord-Gedanken reden. Es sind Gespräche, wie sie der Kracht-Protagonist wahrscheinlich nie mit seiner Mutter führen können wird. Eilish sagt, ihre Eltern haben alles richtig gemacht. Die Zuschauerin auf ihrer Akupressurmatte weint: How pure is that?
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 05/2021.