Kritik

„Geheime Anfänge“ auf Netflix: Wie der „Tatort“-Remix eines Fincher-Films


„Geheime Anfänge“ von Netflix ist wie ein glitschiger Fisch, der nicht ordentlich zu fassen ist. Der spanische Film ist weder richtig gut, noch ein Schuss in den Ofen – und rinnt deshalb ohne großartige Reibung wie Sand durch die Finger. Deshalb haben wir versucht danach zu greifen, was den Film sehenswert macht.

Cosplay, Crime, Nerdkultur – was kann bei diesem Milieu-Mix schon schiefgehen? Eigentlich ziemlich viel, wenn man etwa „The Big Bang Theory“ zum Vergleich heranzieht – auch, wenn die Serie bereits im vergangenen Jahr zu einem Ende gekommen ist. Die Sitcom hat zwölf Staffeln lang nicht mit, sondern über Nerds gelacht und mit dieser zweifelhaften Botschaft praktisch weltweiten Kultstatus erlangt.

In diese Fußstapfen zu treten, kann sich „Geheime Anfänge“ jedoch abschminken. Dafür fehlt es dem spanischen Netflix-Film nicht nur an charismatischer Starpower, sondern vor allem an wirklich originellen Ideen. Über „Geheime Anfänge“ zu schreiben, ist nicht sonderlich leicht. Denn der Film ist weder ausgesprochen gut, noch leistet er sich richtig grobe Schnitzer.

https://www.youtube.com/watch?v=R1b5AIc5Cqw

Solider Remix statt plumpe Kopie

Ohne Probleme lässt sich jedoch der Plot zusammenfassen: Der Inspektor David (Javier Rey) ist ein Kriminologe der „alten Schule“. Zusammen mit seinem neuen Kollegen, dem Comicfan Jorge Elías (Brays Efe), wird er auf den ungewöhnlichsten und erschreckendsten Fall seiner Laufbahn angesetzt. Ein unbekannter Serienkiller versucht scheinbar, einen realen Superhelden zu erschaffen. Er tut dies, indem er auf bestialische Weise symbolische Ritualmorde begeht, die Storylines der größten Comic-Helden gleichen.

Das kommt Euch jetzt bekannt vor? Glückwunsch, dann kennt Ihr wahrscheinlich den 25 Jahre alten Film „Sieben“ von David Fincher. In dessen Inhaltsangabe mussten wir nur Namen und wenige Worte tauschen, um die gesamte kreative Eigenleistung von „Geheime Anfänge“ abzubilden. Doch dieser Text soll kein brutaler Abgesang werden. Denn „Geheime Anfänge“ schafft es zu umgehen, als bloße Kopie abgetan zu werden. Stattdessen liefert er einen soliden Remix, der bestens zum Überbrücken verregneter Sonntage geeignet ist.

In Kürze: „Geheime Anfänge“ ist die „Tatort“-Version eines Films von David Fincher – hat also ein paar wenige interessante Ideen, jedoch auch größtenteils kaum ausgearbeitete Charaktere im Gepäck.

Religiöse Überhöhung von Superhelden-Filmen

Die größte Stärke des Films liegt in dem, was das Drehbuch nicht vordergründig auf dem Silbertablett serviert. Genau genommen wird darauf vermutlich nicht mal eine einzige Zeile verschwendet. Doch wie so oft lohnt es sich, weiterzudenken und die reine Filmebene zu verlassen. Denn in der strukturellen Schablone von „Sieben“ die Ritualmorde nach Vorbild der sieben Todsünden gegen grausame Tode à la Comicvorlage zu tauschen, lotst „Geheime Anfänge“ in katholische Fahrwasser. Damit spiegelt die spanische Produktion – ob nun bewusst oder nicht – die regelrecht blind-religiöse Überhöhung von Superhelden-Blockbustern aus den vergangenen zehn Jahren und zieht sie ins Lächerliche.

Wem das zu viel Gedankenspagat ist, der wird von „Geheime Anfänge“ trotzdem nicht alleine gelassen. Fans von „X-Men“, „Batman“, „Watchmen“ und anderen großen Comicreihen kommen alleine durch visuell augenzwinkernde und ihren Tribut zollende Set-Pieces auf ihre Kosten. Daran tut dann auch eine absolut jeglicher Logik entbehrende Liebesgeschichte keinen Abbruch mehr. Und auch ein ellenlanger Expositionsmonolog des bösen Masterminds, der zum Schluss alle verworrenen Fäden zusammenzieht, Unlogiken zurechtbiegt und dem „Helden“ bequemerweise genug Zeit zum Eingreifen verschafft, fügt sich letztlich überraschend organisch in das Film-Konstrukt ein.

À la Karl-Theodor zu Guttenberg zusammenkopiert

Und so lässt es sich an einem verregneten Sonntag auch verschmerzen, dass es der Film verpasst, eine originäre Aussage zu formulieren, sondern sich sein Vermächtnis à la Karl-Theodor zu Guttenberg aus bereits bekannten und durchgenudelten popkulturellen Versatzstücken zusammmenkopiert. Dazu schafft „Geheime Anfänge“, woran „The Big Bang Theory“ zwölf Jahre lang gescheitert ist: Es gibt tatsächlich nur wenige Momente, in denen sich wirklich über Nerds lustig gemacht wird – und wenn, dann bleiben sie nicht ungeahndet. „Denken Sie etwa, Sie sind etwas Besseres mit ihrem ‘Ich bin ein Polizist aus den 90ern’-Anzug? Sie tragen auch ein Kostüm, Inspektor. Und zwar genauso wie wir alle hier. Es gibt nur einen Unterschied: Ihr Kostüm ist langweilig wie Scheiße!“, knallt Norma (Verónica Echegui) als Leiterin der Mordkommission (und Cosplayerin) Inspektor David nicht umsonst um die Ohren.

Und ausgerechnet der Bösewicht bringt auf den Punkt, was popkulturell Interessierte sowieso so sehen und aus einem „Nerd” schon lange keinen Exoten mehr macht: Kostüme schneidern und Comics lesen ist unschuldig. „Und nur eine kranke Gesellschaft würde Unschuld als ein Zeichen von Schwäche ansehen.“

Nach anderthalb Stunden Laufzeit reichen Plattitüden wie diese, um einen zurück in den Film zu ziehen. Denn „Geheime Anfänge“ strauchelt damit, im letzten Drittel fokussiert zu bleiben. Er verliert sein Ziel aus den Augen und zerfasert – wie eine Regenwolke an einem faulen Sonntag auf dem Sofa.

„Geheime Anfänge“ ist seit dem 28. August weltweit auf Netflix zu sehen. In den Hauptrollen spielen Brays Efe und Javier Rey. Die Spieldauer beläuft sich auf 1 Stunde und 36 Minuten.

Netflix, Andre Paduano
Netflix, Andre Paduano
Netflix, Andre Paduano