Geil auf hohe Pegel


Eine milde Form von Wahnsinn hat seit geraumer Zeit Musiker, Produzenten und Plattenpresser gepackt. Weil und wo sie zur Verfügung stehen, müssen sie auch vollbespielt werden: nicht acht, nicht 16, auch nicht 24 Tonspuren, nein -48 oder 56 müssen es schon sein, aus denen man bei der Abmischung dann auswählt, was man letztlich auf die zwei Kanäle einer Stereoaufnahme verteilt. Das hat wohl auch etwas mit der Überflußgesellschaft zu tun, in der wir ja angeblich leben, vermutlich aber auch einiges mit Selbstüberschätzung und schierer Dummheit.

In vielen Fällen kann man all das, was da auf 48 miteinander computerverkoppelten Spuren an Aufzeichnungen konserviert wurde, gar nicht gebrauchen, weil man plötzlich merkt, daß das einen ganz anderen als den ursprünglich gewünschten Sound ergeben würde. Umgekehrt kann der Zuhörer vieles von dem, was da in ein Klangbild gepackt wurde, am Ende gar nicht mehr richtig verdauen. Wo ein halbes Dutzend Synthesizer im Hintergrund mit vorprogrammierten Computer-Effekten vor sich hin spielen, wird das Wichtigste fast schon zur Nebensache: die Musik.

Diese Exzesse gibt es längst nicht mehr nur im Pop- und Rock-Bereich. Auch bei Klassikaufnahmen setzt man immer mehr Multitrack-Maschinen mit immer mehr Tonspuren ein. Als der Pult-Autokrat Herbert von Karajan vor Jahr und Tag seine bislang letzte (und künstlerisch ziemlich schlimme) Einspielung von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ dirigierte, mußten die EMI-Techniker eine Sony PCM-3324-Maschine herbeischaffen, eine 24-Spur-Digitalapparatur also, obwohl die Aufnahme mit ganzen acht Mikrofonen gefahren wurde, mithin auch nur acht Spuren bespielt werden konnten. Am Ende wurde dann zu 80 Prozent für die Platte bzw. CD das Material benutzt, das parallel auf einer Sony 1610 in Zweispur-Technik mitgeschnitten worden war!

Als Emil Berliner 1887 die runde und flache Scheibe erfand, die man bis heute als Schallplatte kennt, dachte er nicht im Traum daran, daß irgendwer auf die Idee kommen könnte, diesen analogen Tonträger mit computerprozessierten Digitalsignalen, Sägezahntönen und Rechtecksignalen zu bespielen. Er hatte nur die Idee, daß man auf einer solchen Platte Musik in annähernd „realistischer“ Tontreue konservieren könnte.

Da haben die Plattenmacher heute schon ganz anderes im Sinn. Wie beispielsweise die Jungs von Depeche Mode, die sich diebisch freuten, als bei der Überspielung ihrer letzten Computer-Pop-Produktion in einem britischen Schneidstudio die Lackfolien gleich reihenweise kaputtgingen, weil der Schneidstichel derartige Auslenkungen in den Lack schnitt, bis der Saphir sich in den Aluminiumträger bohrte und zum xten Male neu überspielt werden mußte. Musiker haben möglicherweise präzise Vorstellungen von „ihrem“ Sound, und geil auf hohe Pegel sind heute bekanntlich nicht nur die Vorreiter an der Schwermetall-Front. Aber was technisch machbar bzw. vernünftigerweise vertretbar ist, davon haben viele offenbar herzlich wenig Ahnung.

Ein Vorreiter für die heute millionenfach verkauften Maxis und sogenannten Super-Sound-Singles war der berühmt-berüchtigte Klassik-Bestseller der Firma Telarc, eine Aufnahme von Tschaikowskis „1812 Overtüre“, bei deren Überspielung Tonmeister Stan Ricker im JVC-Schneidstudio in Hollywood alle Sicherheitsschutzschaltungen der Schneidapparatur abschaltete und bei den Böllerschüssen am Ende dieser Klassik-Schmonzette in die Lackfolie Auslenkungen von sage und schreibe 457 Mikrometern schnitt, und zwar mit einem Winkel von mehr als 70 Grad!

Das Resultat: Tausende von Käufern dieser Platte reklamierten, daß an der besagten Stelle mit den lauten Böllern ihr Tonabnehmer glatt aus der Rille flog oder gar permanent beschädigt war. Kein Wunder, denn abtasten lassen sich solche scharfkantigen Auslenkungen allenfalls dann, wenn der Diamant die Ecke buchstäblich wegrasiert. Ein BMW kann schließlich auch nicht mit 210 Stundenkilometern um die Ecke fahren.

Aber das kümmert viele Maxi-Schneider heute offenbar auch nicht mehr. Die überspielen auch technisch defektes, weil verklirrtes Programm wie die jüngste Hurnpe & Humpe-Maxi mit 3 bis 5 Dezibel mehr als bislang normgerecht praktiziert, also fast doppelt so „laut“, wie man das bisher aus vernünftigen Erwägungen getan hat. Vernünftig deswegen, weil die Mehrzahl der heute angebotenen Tonabnehmer so hohe Amplituden und „Schnellen“ gar nicht verzerrungsfrei abtasten kann. Wenn’s da speziell bei hohen Frequenzen verzerrt, dann weil der Abtaster halt im übertragenen Sinne das Handtuch geworfen hat und notgedrungen Klirr in beträchtlichen Prozentgrößen produziert.

Wegen der höheren Umdrehungsgeschwindigkeit und der geringeren Dichte der Rillen kann man bei Maxis natürlich versuchen, auch hohe Frequenzen mit hohem Pegel „aufzuschreiben“. Aber der Tonabnehmer macht am Ende nur bestimmte Auslenkungen und Beschleunigungen mit, bis er in hörbare Verzerrungen getrieben wird. Den Auflagedruck zu erhöhen, nutzt meist wenig. Man kann zwar einen 2CV mit Zentnern von Bleiplatten auskleiden, um so etwas wie eine bessere Straßenlage in der Kurve zu erhalten. Aber Motor, Räder usw. machen das nur bedingt mit, weil sie dafür nicht konzipiert sind!

Der Clou bei der Sache ist schließlich noch: Die mit aberwitzigen Pegeln geschnittenen Maxis neuerdings auch LPs wie die neuste von Christopher Cross – mit ihren breiteren und tieferen Rillen müssen entsprechend länger unter Hitze und Druck ausgepreßt werden. Beim Auskühlen verziehen sich die Platten dann eher. Anfälliger für Verwellungen sind sie außerdem, weil sie nicht in dünne weiße Innenhüllen eingetascht werden, sondern in Pappmache-Kartons.

Was am Ende dazu führt, daß der Tonabnehmer bei seiner Berg-und-Tal-Fahrt im Walzertakt über die Plattenoberfläche schlingert und merkliche Tonhöhenschwankungen produziert. Aber das ist dann auch schon egal, denn: Wer merkt das schon bei dem oft verklirrten Musikprogramm?! Wenn’s um Dezibel geht, fragen die Schneid-Ingenieure ihre Kunden (sprich Musiker und Plattenproduzenten) dann wie der Fleischermeister hinter der Ladentheke: Darf’s ein bißchen mehr sein?