Gekommen, um zu bleiben


Wer gut gekleidet ist, entscheidet Jan Joswig. Heute vor dem Stilgericht: Beth Ditto

Wer leistet mehr für die Emanzipation der Schwulen – Klaus Wowereit oder Divine? Und wer leistet mehr für die Emanzipation der Lesben – Anne Will oder Beth Ditto? Klaus Wowereit und Anne Will beweisen, dass einem auch als Homosexueller der Weg des stromlinienförmigen Karrieristen nicht versperrt ist. Wenn man mit den sonstigen Eigenschaften seiner Persona perfekt ins konventionelle Raster passt, sieht die Öffentlichkeit mittlerweile über die sexuellen Präferenzen als Privatsache hinweg. Bei den assimilationsfreudigen Homosexuellen hängen Wowereit und Will deshalb als Centerfold-Celebs über dem Eiermann-Tisch.

Aber was ist mit den Parallelgesellschafts- Homos, die in kein Raster passen – weil sie nicht wollen oder nicht können? Denen schreiten Divine und Beth Ditto voran. Beth Ditto ist nicht nur lesbisch, sie ist dick, polterig, ordinär – und wird trotzdem nicht zur Jahrmarktsmonstrosität degradiert, sondern als Künstlerin (und Frau) ernst genommen. Wer dachte, dass sie zwischen „Standing In The Way Of Control“ und dem frenetischen Zuspruch von Karl Lagerfeld als One-Hit-Wonder verglühen würde, musste sich bei ihrem Laufstegauftritt für Jean Paul Gaultier im Oktober 2010 die Augen reiben. Mit ihrer punkigen White-Trash-Aura ist sie dabei, sich über die High-Fashion-Laufstege zur Größe einer echten Diva aufzuschwingen. Beth Ditto endet nicht als Novelty-Scherz. Sie ist gekommen, um zu bleiben.

Schönheit mag im Auge des Betrachters liegen. Aber Beth Ditto lässt dem Betrachter keine Wahl. Er muss kapitulieren, wenn nicht vor ihrem Selbstbewusstsein, dann vor ihrem Witz. Ihren Humor unterfüttert sie mit einem Stilwillen, der sie davor schützt, ihre sexuelle Aura zu sabotieren. Nie würde sie so freiwillig ent-erotisiert wirken wie der Speckkasper Meat Loaf oder die Biene Maja Dirk Bach. Der „NME“ nominierte sie 2007 zur „Sexiest woman of the Year“. Das war nicht als ironische Volte besonders gewitzter Journalisten gedacht. Beth Ditto ist so erschlagend sexy wie eine Puffmutter aus den Südstaaten, einem der Urbilder aus dem erotischen Typenkatalog. Ihr Frontalhumor haut dabei längst nicht nur in die Tasten derber Herzlichkeit, sondern zupft an weitaus subtileren Saiten – die deshalb umso wirkungsvoller nachklingen.

Ihr Reise-Outfit spielt beide Formen dieses Humors durch. Mit Jeremy Scotts Longchamp-Tasche, kittelartigem Jeanshemd und vorne geknotetem Seidentuch inszeniert sie sich als Luxus-Parodie einer White-Trash-Putzfrau. Dieser Teil ihres Outfits fällt noch in die Kategorie Frontalhumor. Aber wie sie mit dem Keith-Haring-Kleid zur Uminterpretation der Kunstgeschichte einlädt, schlägt mehreren Subtilitätsfässern den Boden aus. Mitten auf ihrer Wampe prangt das berühmte Strahlenbaby von Keith Haring. In dieser direkten Gegenüberstellung – Beth Ditto und Strahlenbaby body to body – geht einem plötzlich ein Licht auf: Die Speckigkeit der Keith-Haring-Figur ist keine Babyspeckigkeit, es ist die Beth-Ditto-Speckigkeit. Beth Ditto deutet das Strahlenbaby zum Porträt ihrer selbst um, allein indem sie es so augenfällig auf ihrem Körper ausstellt. Der 1990 gestorbene Graffiti-Star Haring hätte sicher Sinn für diese Verdrehung. Keith Haring hat die Ehre, posthum Beth Ditto porträtieren zu dürfen. Ich sag‘ ja, sie ist auf dem besten Weg zur echten Diva.

Jan Joswig ist studierter Kunstgeschichtler, wuchs in einer chemischen Reinigung auf, fuhr mit Bowie-Hosen Skateboard und arbeitet als freier Journalist für Mode, Musik und Alltag. Was LL Cool J in den Achtzigern die Kangolmütze bedeutete, ist ihm der Anglerhut.