Gekommen, um zu bleiben
Vier Monate lang haben sich Wir sind Helden im Studio in Berlin eingeschlossen, um ihrzweites Album VON HIER AN BLIND aufzunehmen. Und der MUSIKEXPRESS durfte (ein bißchen) dabeisein. 14 Stunden, die die Welt erschütterten.
Ende Januar. Ein Donnerstag. Später Vormittag. Feuchtigkeit hängt über der Stadt. Die Stadt heißt Berlin. Ein Hinterhof in Kreuzberg, der aussieht, wie man sich einen Hinterhof in Kreuzberg so vorstellt in seinen sozialromantischen süddeutschen Berlin-Träumen. Ein hohes Tor, durch das man erst einmal durchgehen muß, um in den Hinterhof zu kommen, mit Plakaten an den Mauern, die auf Veranstaltungen hinweisen, die längst veranstaltet sind. Eine schwere Eisentür, ein Treppenhaus, und wieder eine Tür. Dahinter ist das „Freudenhaus“. So hat Patrik „Patti“ Majer sein Studio genannt. Seit ziemlich genau vier Monaten verbringen Wir sind Helden ziemlich viel Zeit im Freudenhaus, um ihr zweites Album aufzunehmen.
Im Freudenhaus
Hinten aus dem Aufnahmeraum hört man Bläser blasen, während im Vorraum des Studios Judith Holofernes, Pola Roy und Studioassistent Dirk Heinrich stehen und nichts tun. Nichtstun oder vermeintliches Nichtstun nimmt neben Tischfußballspielen breiten Raum ein im Studioalltag. Breiten Raum im Vorraum nimmt das Tischfußballgerät ein, es ist der Mittelpunkt des Raumes, der mit dem warmen Holzboden und den unverputzten Backsteinwänden im schönen Gegensatz zum feuchten, sozialromantischen Kreuzberg draußen vor der Tür steht. Ansonsten: kreatives Chaos, zwei Sofas zum Abhängen, Laptops, die aufgeladen werden, und – ganz wichtig eine kleine Küchenecke mit einem Kaffeeautomaten. An einer Wand hängen zwei D1N-A3-Blätter mit über 30 handschriftlichen Titelvorschlägen für das zweite Helden-Album. Ganz oben auf dem ersten steht: „Von hier an blind“. Drinnen im großzügigen Kontrollraum herrscht das übliche Gewirr von Mischpulten, Knöpfchen, Computermonitoren, Konsolen, Monitorboxen, Verstärkern, Effektgeräten und Instrumenten, das auf einen Laien leicht verwirrend wirken kann. Am Pult sitzt Produzent Patti, Jean-Michel Tourette hat es sich auf dem Sofa bequem gemacht, und Mark Tavassol filmt mit der Handkamera ein paar Szenen, die später sicher auf einer Wir-sind-Helden-DVD auftauchen werden.
Die Bläser sind mit ihrem Part für „Wütend genug“ fertig und kommen aus dem Aufnahmeraum. Patti spielt die Aufnahme vor. Man macht Witze. Alle lachen. Zum Abschluß spielen die Bläser noch ein Ständchen. Die Stimmung ist relaxt. Das Album ist eigentlich fertig, aber eigentlich auch noch nicht. Es geht noch um Kleinigkeiten. Wie den Bläsersatz oder die Single-B-Seite, die später am Nachmittag aufgenommen werden soll. Dann geht es ans Mixen, um Dinge wie die Gitarre bei einem Track ein bißchen lauter zu machen, das Keyboard ein bißchen leiser, oder umgekehrt.
Pause. Rumlungern im Vorraum. Kaffeetrinken, in die Zukunft blicken. Judith befürchtet, daß die Journalisten diesmal wieder dieselben Fragen stellen werden wie beim ersten Album: „Wie seid ihr eigentlich zu eurem Bandnamen gekommen?“ Kickerspielen. Mittlerweile sind Wir sind Helden echte Könner in dieser Disziplin. Zwei vernichtende Niederlagen für den Musikexpress sind der Beweis (Pola-ME 10:1, Mark – ME 10:2), wobei das Trainingsdefizit des Gastes und der Heimvorteil der Helden eine nicht unwesentliche Rolle dabei gespielt haben dürfte. Patti spendet Trost: „Sie spielen auch jeden Tag drei Stunden und nehmen nur zwei Stunden auf.“ Auf die Frage, was denn sein persönlicher Höhepunkt der letzten vier Monate gewesen sei, antwortet Jean: „Ich bin eigentlich mitgehörigem Abstand der schlechteste Kickerspieler bei uns in der Truppe. Gerade im Sturm bin ich sehr schlecht. Es gab ein Spiel, da habe ich mit Mark zusammengespielt gegen unseren Assistenten Dirk, der im Tor ein zäher Hund ist. Und ich habe es geschafft, als er einen Einwurf gemacht hat, den Ball abzublocken und ihn direkt ins Tor zu schießen. Das war eine ganz große Sternstunde meiner Kickerkunst.“
El Pattino – der Produzent
Patrik Majer ist ein Held. Er hat die erste Helden-EP und DIE REKLAMATION produziert, er hat bisher in jedem Helden-Video schwierige und schmierige Typen dargestellt, Plattenfirmenmenschen und Zuhälter – sagt da jemand, daß das dasselbe ist? nein -, er ist der fünfte Held bei Wir sind Helden. Wie er so am Mischpult sitzt, wie er bei den Aufnahmen und beim Playback den Kopf im Takt wiegt, wie er beiläufig ein „Genial!“ in die Runde wirft, wenn er eine Aufnahme für gelungen hält, dann ist zu spüren, daß er hundertprozentig bei der Sache ist. Für Judith ist Patti ein „Löwenbändiger“, einer, der Ordnung ins Chaos bringt. „Man merkt, daß er genauso fiebert wie wir. Er macht immer einen auf cool. Er reißt immer so Sprüche: ‚Das läuft sowieso scheiße!‘ Aber er lacht dabei. Er versteckt sich immer hinter so Witzchen, aber in Wirklichkeit sitzt er mit genauso hochgestellten Härchen auf den Armen da wie wir.“ Jean attestiert dem Produzenten „Visionskraft“. „Wenn wir einen Song vielleicht nochmal umschmeißen, dann hat er dafür eine Idee, wie wir das machen können, die wir dann gemeinsam entwickeln. Und – wie das gute Produzenten machen – er holt das Beste aus uns raus. Erschafft ein gutes Umfeld, er spornt uns an.“ Pola: „Es gibt häufig Momente bei so einer Produktion, bei denen man denkt, ach, das ist irgendwie alles Scheiße, oder der Song funktioniert nicht. Patti strahlt dann das Gefühl aus: ,Ja, ist vielleicht noch nicht so, aber das kriegen wir noch hin!‘ Er strahlt so eine Geborgenheit aus. Ich hatte ganz viele Momente, in denen ich überhaupt nicht mehr weiter wußte, aber irgendwie vertraue ich einfach mal darauf, daß Patti recht hat damit, wenn er sagt, daß der Song funktioniert.“ Mark: „Er fühlt die Musik sehr, muss man sagen. Punk.“ Punkt.
Die Kostümprobe
Ortswechsel. Praktischerweise sind die Büros der Produktionsfirma „Filmlounge“, die für die Videos von Wir sind Helden zuständig ist, im selben Gebäude untergebracht wie die von „Labels“, dem Label von Wir sind Helden. Auf diese Weise kann ein Besuch bei der Filmlounge mit einem bei Labels verbunden werden. Das ist auch deshalb praktisch, weil dann nur eine Taxifahrt nötig ist. Denn es ist nicht leicht, in Berlin über die Taxizentrale einen Wagen zu bekommen. Das kann schon mal vier Anrufe und 30 Minuten dauern. In fünf Tagen soll das Video für „Gekommen, um zu bleiben“, die erste Single aus von hier an blind, gedreht werden – in der Art einer Revue aus den 20er Jahren. Die Filmlounge bittet zur Kostümprobe für das Video in einen Nebenraum. An einer Kleiderstange hängen verschiedene Fracks und Kleider. Die Helden probieren diverse Varianten aus. Weiße Fracks, schwarze Fracks, mit Zylinder, ohne Zylinder. „Die Jungs“ finden die Fracks zu „zirkusmäßig“. Und Judith kann kein Kleid finden, das ihr für die 20er Jahre glamourös genug ist. Am Montag wird es eine weitere Kostümprobe geben, mit Kleidern aus einem Theaterfundus. Während Judith weitere unpassende Kleider probiert, sitzen Mark, Jean und Pola beim Mittagessen in der Küche bei Labels. Asiatisch vom Heimservice. Anschließend checkt Jean den iPOD des Gastes nach peinlichen Songs. Das dauert. Der peinliche Song kommt erst am Schluss der Liste. Jean bleibt hartnäckig. „Nein, das gibt’s doch nicht‘. Sarah Connor ,From Sarah With Love‘? Keine Angst, das bleibt unter uns.“ Ja, genau!
Keine Angst mehr
Zurück im Studio. Die Aufnahme der B-Seite „Keine Angst mehr“. Ein langsamer Song. Judiths Gesang soll zunächst nur vom Keyboard begleitet werden. Vielleicht wird später noch eine Baßspur daruntergelegt. Jean probiert verschiedene Sounds auf seinem Keyboard aus. Streicher zum Beispiel. Patti: „Nein, keine Streicher.“ Piano. „Nein, das klingt zu kitschig.“ Jean: „Ein Klavier klingt halt immer wie ein Klavier!“ Sitar, Mundharmonika, Bandoneon. Die Helden lachen sich schlapp. Schließlich bleiben sie doch beim Klavier, weil: ein Klavier klingt halt immer wie ein Klavier. Judith geht in den schalldichten Aufnahmeraum und setzt die Kopfhörer auf, Jean spielt das Intro, Judith beginnt zu singen. Das ist ein Gänsehautmoment, so intim, wie Freunde beim Sex zu überraschen. Die Intimität verschwindet kurzzeitig, als aus den Boxen ein „Scheiße, ich habe den Text vergessen!“ dringt. Nochmal. Noch dreimal. Nach dem vierten Take ist Patti zufrieden. „Genial! Zwei Minuten Pause!“ Anschließend diskutieren die Helden darüber, welcher Take der beste war. Mark meint, er mag keine B -Seiten, „weil die schneller weg sind als ein Albumtrack.“ Jean sagt: „Nur weil ein Song eine B-Seite ist, ist er ja nicht verloren.“ Derweil kommt Judith aus dem Aufhahmeraum und sagt in einer Mischung aus Stolz und Ironie: „Hach, was wir für B-Seiten haben!“ Anschließend weitere Diskussionen über „Keine Angst mehr“. Der Song soll so bleiben, wie er ist. Nur Keyboard und Gesang, kein Baß.
Von hier an blind
Sagen wir, wie es ist. Wenn Musiker einem Musikjournalisten ihr neues Album vorspielen, das noch niemand außer ein paar Leuten von der Plattenfirma gehört hat, dann ist das eine unbefriedigende Situation für beide Seiten. Die Musiker werden vielleicht Reaktionen erwarten, die der, der das Album zum ersten Mal hört, nicht bringen kann, nicht zuletzt deshalb, weil er weiß, daß irgendeine Reaktion von ihm erwartet wird – zum Beispiel, daß er aufspringt und schreit: „Jaaa, das ist es!“ Aber der, der das Album zum ersten Mal hört, wird einen Teufel tun, und auch wenn er der Meinung wäre, „Jaaa, das ist es!“, würde er nicht schreien und aufspringen, weil er sich bei all dem So-unbeteiligt-Tun der Musiker, die ihm ihre neue Platte vorspielen, unter ständiger Beobachtung fühlt, was irgendwie auch nicht unbedingt ein gutes Gefühl ist.
Patti spielt die Songs des Albums von der Festplatte des Computers ab – in der Reihenfolge, in der sie aufgenommen wurden, nicht in der Abfolge, in der sie später auf dem Album zu hören sein werden. Als der erste Ton des ersten Songs beginnt, ist von einen Moment auf den anderen eine Anspannung im Raum zu spüren. Jean sitzt auf dem Sofa wie angewurzelt, Mark und Pola sind seltsam still geworden, und Judith checkt ganz beiläufig ihre E-Mails. Die Spannung löst sich, als der Zuhörer eine Textstelle wie „Zieh dir was an – Mädchen/Wer etwas kann – Mädchen /Zieht dann und wann – Mädchen / Ein bißchen was an“ mit einem zustimmenden, breiten Grinsen kommentiert, und wenn bei Passagen wie „Ich werde mein Leben lang üben / Ich will daß du verstehst /Ich werde mein Leben lang üben/Dich so zu lieben/Wie ich dich lieben will /Wenn du gehst“ die Gänsehaut spürbar wird, die diese Worte verursacht haben, dann kichert Judith ein befreiendes Kichern. Der Musikexpress fragt Jean, der neben ihm sitzt, flüsternd: „Was ist das für ein Gefühl, wenn du die Songs jetzt hörst?“ Der flüstert zurück: „Ich habe ein Kribbeln im Magen.“
Die Tanzstunde
In der „Tanzschule Göttlicher“ sieht es so aus, wie man sich vorstellt, wie es in einer ordentlichen Tanzschule auszusehen hat, wenn man noch nie eine von innen gesehen hat, außer in „Flashdance“ vielleicht oder in einem bescheuerten Jennifer-Lopez-Video. Es ist alles da: der Parkettboden, die verspiegelte Wand, die Balletstange und die Tanzlehrerin. Annemarie Zeisinger ist eine sehr geduldige Frau. Sie versucht diesen vier Musikern eine – für einen vom Tanz weitgehend unbeleckten Beobachter – sehr komplizierte Szene für das Video „Gekommen, um zu bleiben“ beizubringen. Bei Judith sieht das schon sehr gut aus, nur die Männer haben noch ein paar, nun ja, Defizite. Einmal in dieser Nacht wird Annemarie Zeisinger sagen: „Normalerweise lache ich meine Schüler ja nicht aus.“
Einmal, als es mit der Choreographie nicht ganz so klappt, wird sich Pola entschuldigen und sagen: „Das kommt davon, wenn man mit dem falschen Fuß weiterläuft!“, und die Tanzlehrerin wird antworten: „Ihr seid gar nicht weitergelaufen, auch nicht mit dem falschen Fuß.“ Einmal wird Jean sich beim Musikexpress darüber beklagen, daß der Musikexpress gar keinen Kommentar abgibt zu den tanzenden Bemühungen der Helden-Männer, und die Tanzlehrerin wird sagen: „Wenn er euer Freund ist, ist er gut beraten, nichts zu sagen.“ Die Tanzlehrerin hat Humor. Sie ermahnt, die „Kinder“, wenn sie nicht bei der Sache sind oder wenn sie sich am Boden wälzen, weil wieder irgendeiner einen Witz gemacht hat. Die Szene geht so: Die Männer mit ihren Spazierstöcken (jetzt noch Holzstöcke) in einer Reihe. Ihr Ziel ist es, sich durch geschickte, leichtfüßig wirkende Tanzschritte und Drehungen Judith zu nähern, die hinter ihnen in einer (noch imaginären) Torte kauert, sie mit ein paar weiteren grazilen, anmutigen Drehungen revuegirlmäßig aus der Torte herauszuholen und sicher am Boden abzusetzen. Die Nummer wird bis zum Exzess geübt. Später im fertigen Video wird natürlich alles gut sein. Annemarie Zeisinger hat einen perfekten Job gemacht, weil Wir sind Helden so wirken, als hätten sie nie etwas anderes getan als Tanzen. Und die Kostüme sind edel, nicht zirkusmäßig.
Kebab und Falafel
Es ist spät geworden. Nach Mitternacht. Die Helden sind müde. Und das „offizielle“ Interview steht noch aus. Mark redet vom terminlich „tightesten“ Tag der vergangenen vier Monate. Pola schlägt vor, das Interview auf den nächsten Tag zu legen. Mark und Jean wollen aber noch essen gehen. Judith fällt der Kebab-Laden in Kreuzberg ein, in dem immer dieselbe Musik läuft. Einer der Vorteile Berlins gegenüber anderen deutschen Großstädten: Man bekommt früh um zwei immer noch eine warme Mahlzeit, ohne sich an einen Ort begeben zu müssen, an dem verstrahlte, halbnackte Jugendliche ihre Version vom „Feiern“ vorführen. Als Wir sind Helden den Kebap-Laden in Kreuzberg, in dem immer dieselbe Musik läuft, betreten, läuft dieselbe Musik wie immer. Und als die drei Bediensteten ihre Gäste erkennen, hören sie kurzzeitig auf mit dem, was sie gerade hinter dem gläsernen Tresen getan haben, und schenken ihnen ein breites Grinsen. Nach dem Essen (Kebab und Falafel) folgt ein zwanzigminütiges Interview, das dann doch eine Dreiviertelstunde dauern wird. Als der Mini-Disc-Recorder eingeschaltet wird, weicht die lockere Stimmung einer eher offiziellen, die aber nicht lange anhält. Alle Beteiligten sind müde und ausgelaugt wegen 14 Stunden harter Arbeit, die nach außen hin gar nicht so hart wirkt, weil Wir sind Helden immer im richtigen Moment mit dem richtigen Humor um die Ecke kommen:
Die Songs …
JUDITH:… haben wir nicht selber geschrieben …
… wurden sie von denselben Leuten geschrieben…
JEAN:… Schweden. Diesmal Schweden …
… die sie später auch aufgenommen haben ?
MARK: Schwedische Songwriter und französische Studiomusiker. Du findest die besten Gitarristen in Italien. Die tightesten Schweine. Die haben früher mit Eros gearbeitet.
POLA: Gesungen hat zu 80 Prozent Gianna Nannini, 20 Prozent Bonnie Tyler.
Und wie seid ihr eigentlich zu eurem Bandnamen gekommen?
POLA: Durch dich.
JEAN: Hast du mal Feuer?
Nein!
JEAN: Wie, nein???
Doch, ja.
www.wirsindhelden.com