Globales Monologisieren
Mit abertausend Blogs -wird das Web zur größten Speaker's Corner
Mit einer Mischung aus Mitleid und Spott beobachten wir bei einem London-Besuch gerne für ein Viertelstündchen die Irren im Hyde-Park, die auf einer Kiste oder einer Leiter an der „Speaker’s Corner“ ihre einsamen Reden schwingen. Ein Narr jedoch, wer denkt, das seien Einzelfälle: In dem bunten Treiben, das auf www.speakcrscorner.net dokumentiert wird, offenbart sich nur ein verschwindender Bruchteil der wahnsinnigen Mitteilungssucht, die den Mensch millionenfach zur Predigt treibt. Welche Heerscharen von unbesuchten Rednern, umnachteten Literaten und verwirrten Kolumnisten sich in Wirklichkeit in unseren Reihen finden, zeigt sich nun im Internet. Fallt der natürliche Selektionsprozess erst weg- es erfordert immerhin ein Mindestmaß an Mut, sich vor Artgenossen aufs Podest zu stellen -, treibt die Geltungssucht in allen Farben ihre Blüten: „Blogs“ heißen die Websites, auf denen sich meist junge Menschen in hemmungslosen Wortschwallen ergießen, um ihre Gedanken in die duldsamen Weiten des WWW in der Hoffnung hinauszuschreiben, sie würden dort mit Sinn erfüllt. Allein in Deutschland soll es etwa 50.000 solcher Seiten geben, sagen Don Alphonso und Kai Pahl, die in dem Buch „Blogs!“ mit liebevollem Ernst die Auswüchse der [ederisierung der Literatur, Poesie und des Journalismus dokumentieren. Sie haben geistreiche Beiträge wie „Das Sakko, die Strickjacke des Mannes von Welt „gesammelt, die auf Seiten wie http://kutter.antville.org, http://freakshow.twoday.net und http://blog.voll mondlicht.com gepostet werden. Verdient es ein jeder, auch noch so banale Gedanke, bewahrt und zur Schau gestellt zu werden? Wenn ja, dann empfiehlt sich www.blogger.de. Die hoch frequentierte Seite ist seit etwa einem Jahr ein Ausgangspunkt, von dem aus kommunikationsenthusiastische „Blogger“ wie zum Beispiel „kinky“ ein eigenes Reich gründen können:
„Da liegt er vor mir, der unbeschriebene, reinejungfräuliche Blog“, schreibt sie in ihrem ersten Eintrag. „Zum Bejammern und Erfreuen,fiir Melancholie und Lebensfreude, fast, als würde er auf mich warten. […] Hallo ihr da draußen! ‚wink*:) „Die da draußen, sprich: andere „Blogger“, melden sich dann in lobenden oder tadelnden „Kommentaren“, obwohl die Begeisterung der Betreiber von Seiten wie http://monolog.blogg.de wohl weniger auf dem Dialog als auf der theoretischen Möglichkeit eines Selbstgesprächs vor Publikum begründet ist. Ganz empfehlenswert sind einige MP3-Blogs (http://nevvfiux.blogspot.com ist ein hervorragender Ausgangspunkt mit unzähligen Links), deren Betreiber eine kleine, mehr oder weniger geschmackssichere Auswahl von Songs im MP3-Format zum kostenlosen Downlaod anbieten. Die Industrie -und das ist das Erstaunliche daran – klagt bisher nicht gegen die Programmierer dieser Seiten, da deren Empfehlungen als konsumfördernde Werbung angesehen werden. Webmaster besonders populärer Musik-Blogs sollen sogar bereits mit Promo-Alben bemustert werden, damit die Neuerscheinungen auf ihren Seiten Beachtung finden.