Grabschänder


Dieser Schlag ging selbst dem Schlagerkönig unter die Gürtellinie: Was "Grand Prix"-Teilnehmer Martin Engelien im letzten Heft über ihn behauptet hatte, wollte Ralph Siegel nicht unkommentiert lassen. Sein Plädoyer für den darbenden deutschen Schlager beginnt mit einem (Alp)Traum: dem All-Eurovision-Song-Contest 1997 im roten Moskau.

Gestern nacht wachte ich schweißgebadet gegen 4.00 Uhr morgens in meinem Hotelzimmer auf. Es war der 7. Mai 1997 – ich hatte den All-Eurovision-Song Contest ’97 in Moskau gewonnen. Unser Lied „Ein bißchen frei zu leben“ (Text: Michael Bernd Kunzunger. Interpret: Die Gruppe „L.A.D.S.“ – Letztes Aufgebot Deutscher Schlagersänger) war entgegen aller Voraussagen von sämtlichen europäischen Teilnehmern auf Platz 1 gewählt worden. Was nun?

Ich fühle mich wie ein Selbstmörder und lese in Gedanken schon die Schlagzeilen der Gazetlen und Illustrierten: „Europa versiegelt“ – „Europa unter dem Siegel der Verschwiegenheit“ – „Knackte Siegel das EURO-Telefonnetz?“ – „EBU-Chef Frank Naef mit Siegel und Schwarzschilling auf Mallorca gesichtet…“

Drafi Deutscher (inzwischen mit Dolly Dollar verheiratet) verklagt zum achten Mal den TED, weil Dolly in der deutschen Vorentscheidung nur Vierte geworden war – trotz 4000 nachweislichen Telefonfreunden. Plagiatsprozeß-Androhungen von allen Seiten, und der Immer-Noch-Klaus-Lage-Bassist Martin Engelien findet gemeinsam mit Dr. Dieter Dehm einen neuen Song, der den deutschen Kanzler „parodistisch“, via Grand-Prix, im Ausland durch den Kakao ziehen soll – Titel: „Kohldampf‘. (Übrigens soll sein langgeplantes Interview bei „Antenne Bayern“ inzwischen stattgefunden haben. Thema: Wie war es nur möglich, daß ein vom Bayerischen Rundfunk beauftragter Produzent auf die unverständliche Idee kommt, einen Mann, der über 1200 Titel komponiert hat, den ersten Platz, drei zweite Plätze und zwei vierte Plätze beim Internationalen Grand-Prix belegt hm, seit über 25 Jahren in diesem Beruf als Komponist, Texter, Produzent und Verleger tätig ist, beauftragt, ein Lied für diesen Wettbewerb zu schreiben?)

Der Versuch, wieder einzuschlafen, war unmöglich. MOSKAU STAND KOPF! Raissa Gorbatschowa hatte uns noch in der Nacht gratuliert und wollte bei dieser Gelegenheit von mir wissen, wie es passieren konnte, daß in der UDSSR „Kalinka“ und „Otschi Tschornije“ (Schwarze Augen) nur noch in englischer Sprache gesungen würde – Media Control Moskau habe nur noch sieben russische Lieder in den UDSSR-TOP 100 registrieren können, und sogar die „Don Kosaken“ singen jetzt „When The Saints Go Marching In“. Übrigens hatte das Autorenteam des russischen Beitrages „Kremlglühn“‚ (Hanna Hallerowska/Don Hendrikski) – Interpret: Juri Drewski – ihr Lied nach der Aufführung und Wertung (Platz 44) zurückgezogen. Litauen. Kroatien und Österreich vergaben „Null“-Punkte, Plötzlich schlief ich ganz ruhig ein, in Gedanken an all die schönen Erlebnisse, die ich im Rahmen der vielen Eurovisions-Jahre erfahren habe. Wie viele spannende Momente voller Glück und Hoffnung, enttäuschte und strahlende Gesichter durfte ich erleben – Künstler, Manager. Delegierte und Journalisten, die sich aus Freude um den Hals fielen – Briefe, die mich von jungen und alten Leuten voller Anteilnahme erreichten und all das, weil ich mit meinen immer noch besten Freunden Bernd Meinunger und Michael Kunze Lieder geschrieben habe, die einzig und allem den Menschen Freude bereiten, Deutschland vertreten und deutschen Interpreten eine Chance geben sollten, in dieser, durch Anglofizierung gebeutelten Medienlandschaft, entweder oder wieder Fuß zu fassen.

Natürlich sind die Gedanken eines Unternehmers, der immense Investitionen für so einen Anlaß bereitstellt, zumindest so weit gerechtfertigt, daß er wenigstens den Einsatz wieder erwirtschaftet – aber dies war bei diesem Wettbewerb nie ausschlaggebend, eher war die Chance zu recoupen bei „Null“. Das Gefühl beziehungsweise das Bewußtsein aus 25 Jahren erfüllten Musikleben können auch mir unverständliche Artikel von Herren wie der bis dato mir unbekannte Martin Engel ien oder ähnliche „Kollegen“ nicht kaputtmachen oder nehmen. Sollte der Grand-Prix auch bis ins Jahr 2000 bestehen bleiben, so wünsche ich jedem meiner Kollegen das Glück, ähnliches zu erleben. Es scheinen wohl viele zu vergessen, daß auch ich bei nationalen sowie internationalen Wettbewerben schon oft verloren habe, damit leben mußte und offensichtlich somit nichts „versiegelt“ war.

Wie schön wäre es, wenn auch wir in Deutschland endlich lernen würden, was uns nicht nur die Amerikaner täglich vormachen: nämlich uns gegenseitig zu achten und zu stärken und die verschiedenen Sparten der Musik in sich leben zu lassen.