„Grand Army“ (Staffel 1) auf Netflix: Das buntere „Gossip Girl”
Endlich mal weniger perfekt sitzendes Make-up in einer Serie, dafür genug Platz für Gesellschaftskritik. Der neueste Netflix-Streich widmet sich dem Erwachsenwerden auf eine erfrischende und ehrliche Art.
Das neue Netflix-Original „Grand Army“ zeigt das Leben verschiedener Schüler*innen einer High School in New York. Bleibt dabei jedoch angenehm authentisch auf dem Boden der Tatsachen. Es geht um nichts anderes als die große Aufgabe des Erwachsenwerdens, vom Finden der eigenen Stimme und dem Kampf gegen die Tücken der Gesellschaft. Anhand der Hauptcharaktere Joey, Leila, Jayson, Sid, Dom und ihren jeweiligen Freundeskreisen erzählt „Grand Army“ lebensnahe Geschichten. Dabei ganz ohne Glanz und Glitzer, dafür aber mit schroffen Dialogen, politischen Themen und vor allem Aufrichtigkeit.
„Grand Army“ basiert auf dem Theaterstück „Slut: The Play“ von Katie Cappiello, das 2013 auf dem New York Fringe Festival von jungen Frauen der All-Girl Theater Company uraufgeführt wurde. Die Theatergruppe wurde von Autorin Capiello selbst mitbegründet, um jungen Menschen eine Stimme, sowie einen kreativen Ausdruck zu geben. Mit gesellschaftskritischer Kunst sollten sie Gehör in der Öffentlichkeit bekommen. Mit Erfolg. Später tourte die Crew mit dem emanzipatorischen Stück durch die USA, es gab Produktionen in Kanada, Australien und Mexiko. Und jetzt adaptiert auch Netflix den Stoff und bringt die Geschichte der jungen Frau Joey und ihren anderen Mitstreitern*innen in die globale Streamingwelt.
Daraus entstanden ist eine neunteilige Dramaserie für junge und jung gebliebene Erwachsene, die von Joshua Donen („Gone Girl“) und Beau Willimon („House of Cards“) produziert wurde. Auch Capiello selbst schrieb und produzierte die Serie mit. Dabei greift das Team auf die Erfahrungen echter Teenager*innen zurück, die über Jahre gesammelt und aufgearbeitet wurden. Cappiello arbeitete zuvor fast zwanzig Jahre mit ihrem Theaterprojekt nicht nur als Dramatikerin, sondern auch als Theaterpädagogin. Viele Erfahrungen von Gesprächen mit Jugendlichen konnte sie in das Werk einfließen lassen – vielleicht macht es die Serie deshalb so persönlich.
Von Sexismus und Feminismus
Die Rollen der jungen Schauspieler*innen sind besonders vielschichtig gestrickt. Joey Del Marco (Odessa A’zion) ist eine wahre „Troublemakerin, aber Sechstbeste der Schule“, wie sie selbst von sich sagt. Zwar beliebt bei ihren Freund*innen, muss sie sich ihren Weg als Feministin der zweiten Generation immer wieder erkämpfen. Doch in der Außenwahrnehmung ist es ein schmaler Grat zwischen der selbstbewussten, freien Frau und der gleichzeitig als aufmüpfig wahrgenommenen „Schlampe“.
Dagegen erkämpft sich Leila Kwan Zimmer (Amalia Yoo), die von jüdischen Eltern adoptiert wurde, erst noch ihren Platz an der neuen Schule. „Jetzt bin ich ein Frischling und alles ist beschissen!“ bringt Leilas Dilemma auf den Punkt. Plötzlich landet sie auf der „Grand Pussy Seite“ des Schwimmteams, was zu einer ganz neuen Auseinandersetzung führt.
Ganz andere Probleme hat hingegen der indische Sid Pakam (Amir Bageria). Als beliebter Schwimmer des Schulteams scheint er es auf den ersten Blick richtig gut zu haben. Seine Freundin liebt ihn abgöttisch und für seine Zukunft fehlt nur noch das Motivationsschreiben. Doch der Schein trügt. Sid schaut sich lieber Schwulenpornos an als mit seiner Freundin zu schlafen und fühlt sich ohnmächtig, wenn er aufgrund seiner indischen Abstammung in der U-Bahn schief angeschaut wird. Deutlich wird dies vor allem durch ein Gespräch mit seinem Vater, in dem er seine Sorgen nach einem Terroranschlag mitteilt, der gleich zu Beginn die gesamte Schule in Atem hält. Als der Vater daraufhin erklärt, auch wenn der Attentäter ein Moslem gewesen ist, so sei er kein Moslem, antwortet Sid nur: „Das spielt keine Rolle, weil ich so aussehe.“ Eine bittere Realität.
Bis Rassismus und Armut
Auch der Schwarze Schüler und das Saxofon-Talent Jayson Jackson (Maliq Johnson) kommt trotz reichem Elternhaus immer wieder in rassistische Situationen. So muss sich sein bester Kumpel, der aus armen Verhältnissen stammt, nach einem gemeinsamen Diebstahl um eine Suspendierung Sorgen machen.
Wie es dagegen ist, als Schwarze Frau in New Yorks Armutsvierteln aufzuwachsen, symbolisiert Dom Pierre (Odley Jean) in der Serie. Während die Freundinnen auf Partys gehen, muss sie zuhause das Essen für die jüngeren Geschwister kochen. Das beiseite gelegte Geld, geht beim Familieneinkauf drauf. Es ist ein zu frühes Erwachsenwerden, dass Dom nur ein Ziel vor Augen haben lässt: Studium und bloß weit weg von all dem.
Gespickt ist dieses aufregende Hauptdarsteller*innen-Ensemble mit einem Haufen anderer interessanter Nebencharaktere. Sids Schwester zum Beispiel, die feministische Ausstellungen und Theaterstücke auf die Beine stellt. Ihr verdankt die Serie nämlich zugleich ein wenig Aufklärung in Sachen Klitoris – ein unterbeleuchtetes Thema auch in der Filmlandschaft, das clever in den Handlungsstrang eingeflochten wird.
Alle haben eines gemeinsam: Angst
Alles beginnt jedoch in der Mädchenumkleide nach dem Sport. Auf dem Klo hilft Joey gerade ihrer Freundin Grace etwas aus ihrer Vagina zu ziehen. Ein Tampon? Nein, das Kondom vom letzten Sex mit einem „Fuckboy“. An der Klotür klopfend ruft Doms Clique abfällige Lesben-Anspielungen hinein. Im Hintergrund rappen Mitschülerinnen. Es ist laut. Es ist der ganz normale Wahnsinn einer High School in New York. Doch was kitschig wirkt und längst in anderen Serien tausendmal erzählt wurde, wirkt hier überraschend echt. Die Serie verheddert sich nicht in aussagelosen Drama-Spielchen pubertierender Jugendliche.
Es ist das buntere, querere „Gossip Girl“ einer neuen Generation, in der junge Erwachsene sich als Individuum besser wieder erkennen können. Statt Elite-Schulen und Dienstmädchen gibt es Schließfächer und Joints nach dem Kinobesuch. Die Dialoge sind ehrlich. Und emotional.
Alle fürchten sich vor dem Unbekannten, eben dem, was nach dem Kindsein kommt. Auch wenn die Hauptcharaktere in der Serie frech und cool sind, oder gar beliebt, privilegiert, gutaussehend – alle haben sie Angst, auch die Coolen. Vielleicht die besonders. Das will die Serie betonen. Denn auf einmal scheint sich alles zu verändern. Noch dramatischer wird es, als das Thema sexueller Missbrauch in die Handlung der Freundesclique gelangt. Kein einfaches Thema, aber genau deshalb wieder einmal umso wichtiger. Sie lässt „Grand Army“ noch einmal vielschichtiger als bisher erscheinen.
Insgesamt lässt sich bei der Dramaserie wenig Banalität finden. Zum Glück. Was ansatzweise die drastische UK-Serie „Skins“ für eine vorherige Generation war, könnte „Grand Army“ für einige im Jahr 2020 werden. Unbeschönigt und impulsiv bringt sie zum Vorschein, was in den Köpfen von Teens neben Partys, Shopping-Mall-Ausflügen, Nebenjobs und Prüfungsstress eben auch kreist: Identitätssuche, Angst und manchmal die pure Verzweiflung. Alle kämpfen sie mit unterschiedlichsten Problemen, doch der innere Kampf bleibt bei allen derselbe: die Emotionen. Diese menschliche Verletzlichkeit, die wir alle in uns haben.
Staffel 1 von „Grand Army“ mit Odessa A’zion und Amir Bageria ist seit dem 16. Oktober 2020 bei Netflix verfügbar. Sie umfasst 9 Folgen, die jeweils 50 Minuten dauern. Eine zweite Staffel ist noch nicht bestätigt.