Die neuen Heiden kommen
Mit Blut beschmierte Trommeln und Knochen als Instrumente: Eine Parallelgesellschaft, die mit Musik Verbindung zu unseren Vorfahren aufnehmen will, füllt die Konzerthallen – weltweit. Krieger*innen und Schamanen wie aus Mittelerde zelebrieren rituell die World Music untergegangener Welten. Seelenreinigung oder Aufrüstung zur letzten Schlacht? Insider-Bericht aus einer Szene, die Heads bangen und Köpfe schütteln lässt.
Was Heilung mit ihrer mannschaftsstarken Crew im Berliner Tempodrom aufführen, ruft Erinnerungen an den „Herrn der Ringe“ wach. Gehörnte Gestalten steigen aus dem Nebel, rußbeschmierte Krieger stoßen im Stroboskoplicht Speere in die Luft. Über allem dröhnt ein schwer zu lokalisierender Bass und das Donnern von Trommeln – eine davon haben Christopher Juul, Kai Uwe Faust und Maria Franz mit ihrem eigenen Blut bemalt. Die Choreographie, die das Trio an diesem Novemberabend entfesselt, scheint in einer fiebrigen Trance zustande zu kommen.
Die Teilnehmer auf der Bühne wirken, ebenso wie die Zuschauer der ersten Reihen, hypnotisiert. Im Zentrum des Tumults wandelt Sängerin Maria Franz in weißer Tracht wie ein Todesengel, die Augen von Lederfransen verborgen, die roten Dreadlocks mit einem Rentiergeweih geschmückt. Zu den Instrumenten, die Heilung verwenden, gehört auch ein Paar Schenkelknochen aus einem Massengrab der Pest-Zeit. Faust, der aus Nordrhein-Westfalen stammende Vortänzer der Gruppe, hat es in einem medizinischen Archiv in Dänemark erworben.
Klanghölzchen aus menschlichen Überresten könnten in Europa einst normal gewesen sein, erklärt der bärtige, glatzköpfige Hüne am Tag nach der Show. „In der tibetischen Ritualmusik gibt es Trommeln aus Schädeldecken oder Flöten aus Oberschenkelknochen. In Afrika wurden Instrumente aus menschlicher Haut gefertigt. Den Menschen in alten Kulturen war es wichtig, auf diese Art mit ihren Vorfahren in Kontakt zu bleiben.“ Mit ihren Konzerten, oder „Ritualen“, wie sie es nennen, will das deutsch-dänisch-norwegische Trio die Krieger und Schamanen der Wikinger- und Eisenzeit wiederauferstehen lassen.
Ungeschminkt wirken die drei jedoch eher wie eine verkaterte Metal-Band. Faust scheint der Einzige, der an diesem Morgen keinen Kaffee braucht, um das Konzept von Heilung leidenschaftlich auszuführen. „Wir wollen, dass sich die Besucher unserer Konzerte durch einen Zustand der Trance und Meditation mit ihren Wurzeln und ihrem ursprünglichen Selbst verbinden“, erklärt er mit einem intensiven, fixierenden und leicht manischen Blick. „Denn die Siege und Leiden unserer Vorväter machten unsere Leben erst möglich.“ Auch der Bandname sei so aus verschütteten Welten zu ihm gekommen. „Auf der Bühne und im Studio habe ich kein Ich mehr. Ich bin hohl wie ein Knochen, durch den die Geister hindurchfließen.“
Ein neuheidnischer Hype
Heilung ist nicht die einzige Band, die die Riten vergangener Zeiten in moderne Konzerthallen übersetzen will. Wardruna aus Norwegen, Danheim aus Dänemark, Forndom aus Schweden, Nytt Land aus Sibirien, Vévaki aus Island oder Osi and The Jupiter aus Ohio sind Teil eines neuheidnischen Hypes, der sich auch in Filmen und Serien wie „Vikings“, „Barbaren“ oder „The Northman“ manifestiert. Für ihre Musik kursieren die Genrebezeichnungen Nordic Ritual Folk, Dark Folk oder Pagan Folk. Vor allem Wardruna und Heilung füllen damit mittlerweile Venues mit Tausenden von Zuschauern – und das nicht nur in Europa. Dabei sind ihre dunklen, mantraartigen und oftmals bedrohlichen Klänge eigentlich viel zu experimentell für ein breites Publikum. Tracks mit Tolkien’schen Titeln wie „Lyfjaberg“ oder „Elddansurin“ klingen wie Industrial aus einer vor-industriellen Zeit der Jäger und Sammler oder Goa-Trance für ausgedachte nordeuropäische Aborigines.
Ein amerikanisches Rockmagazin nannte Heilung „The Flintstones from Hell“. Die Band selbst spricht von sich als „amplified history“. Mit State-of-the-Art-Soundtechnik und überwältigender Lightshow wollen sie eine spirituell durchwirkte Welt erlebbar machen, die durch das „Christentum und seine politischen Sprösslinge“ ausgerottet wurde. Einen Widerspruch zwischen Hightech und Tradition sehen sie nicht. „Die Inszenierung mit Licht geht weit zurück“, erklärt Kai Uwe Faust, der wie die anderen in Dänemark lebt und dort eine der größten Buchsammlungen über historische skandinavische Künste verwahrt. „Sieh dir Höhlenmalereien an. Die waren so gestaltet, dass es aussieht, als würden sich die Tiere bewegen, wenn du mit der Fackel daran vorbeiläufst.“
Maria Franz fügt hinzu: „Wir spielen auf vielerlei Art mit Elementen nativer europäischer Kunst. Vieles ist jedoch nicht überliefert. Deshalb erarbeiten wir Theorien, was unsere Vorfahren getan haben könnten.“ Zeitgenössische Politik oder Religionen kämen ihnen dabei nur in die Quere, sagt die 41-Jährige, die im norwegischen Borre aufgewachsen ist, einem wikingerzeitlichen Machtzentrum, von dem heute noch riesige Grabhügelfelder zeugen.
Dass der Neoheiden-Trend in eine Zeit fällt, in der Minderheiten in westlichen Ländern ihre präkoloniale Identität einfordern, ist kein Zufall. Auf den ersten Blick scheint die Barbarenverehrung der Versuch weißer Menschen, bei der identitätspolitischen Rückbesinnung nicht außen vor zu bleiben. Doch dürfen sich Menschen, die noch immer vom kolonialen Erbe profitieren, in ein mystisches Land vor unserer Zeit zurückfantasieren, in dem sie selbst die Opfer von Verfolgung und Unterdrückung waren? Und haben die Nazis germanische und nordische Überlieferungen nicht bereits vereinnahmt, um mit ihnen rassische Reinheit zu propagieren?
Die Runen den Rechten entreißen
Einar Selvik, Gründer und Kopf der Band Wardruna, glaubt im Gegenteil, dass der Pagan Folk dabei hilft, die Runen endlich den Rechten zu entreißen: „In Norwegen sind nicht mehr nur rechte Subkulturen an der Wikinger- und Bronze-Zeit interessiert. Menschen aller Schichten begeistern sich dafür“, sagt der 42-Jährige. Bei Wardrunas einzigem Deutschlandkonzert im vergangenen Jahr im Theater am Potsdamer Platz in Berlin hatte Selvik nach der Zugabe, die er allein auf einer traditionellen Talharpa-Laute spielte, Standing Ovations bekommen; Metal-Heads und Goths, aber auch Hipster und Bildungsbürger im besten Alter waren gleichermaßen von ihren samtroten Sitzen aufgestanden.
Seit der Experte für nordgermanische Geschichte den Soundtrack für die geschichtlich nicht eben akkurate Netflix-Serie „Vikings“ komponiert hat, ist Selviks einstiges Nebenprojekt zur bekanntesten Band der neuheidnischen Welle geworden. Das jüngste Album KVITRAVN (dt. weißer Rabe) kletterte 2021 auf Platz zwei der deutschen und schweizerischen Charts und in Österreich sogar auf Platz eins. Selvik glaubt, dass das Genre, das auch auf Popbands wie die schwedische Gruppe Hedningarna zurückgeht, längst ein globales Phänomen ist. „Es ist ein bisschen wie damals, als sich der Westen für Kung Fu begeisterte.“ Unter dem Video zum Album-Titelsong, das auf YouTube beeindruckende 18 Millionen Mal angeklickt wurde, erzählen Menschen aus Ländern wie Mexiko, Sri Lanka oder der Dominikanischen Republik, wie viel ihnen die Ritualmusik aus der Fremde bedeutet. „Ich bin nicht mal annähernd skandinavisch, aber diese Musik spricht zu meiner Seele und ich bekomme Heimweh nach einem Ort, an dem ich nie war“, schreibt ein User aus Lateinamerika. Sigurboði Grétarsson, Multiinstrumentalist bei der in Reykjavik ansässigen Band Vévaki und hauptberuflicher Tätowierer, erzählt, dass ein Fan aus Südamerika ihn einmal fragte, ob es kulturelle Aneignung sei, wenn er sich ein nordisches Runen-Tattoo stechen lasse. „Ich sagte: natürlich nicht. Wir möchten unser Erbe mit der Welt teilen. Zu sagen, es gehört nur uns, ist idiotisch.“
Auch die Mitglieder von Heilung betonen, dass es ihnen nicht um die Verherrlichung ethnischer Reinheit geht – derartiges lasse sich im Fluss der Geschichte ohnehin nicht einzäunen. „Wir sind Nachfahren einer seltsamen Mischung aus Einflüssen und Kulturen“, sagt Kai Uwe Faust. „Lass uns einfach mal ein paar Wikinger-Gräber öffnen: Es gibt Menschen, die diese Zeit klar als Welt weißer Männer definiert haben, aber das ist, basierend auf Fakten, einfach falsch. Du findest Menschenknochen in Norwegen, die ihrer DNA nach aus dem Mittleren Osten stammen. Es gab sogar Crossdresser in diesen Gräbern, Männer in Frauenkleidern. Und auch die Namen weiblicher Schiffskapitäne sind überliefert.“
Am Anfang ihrer Konzerte liest die Band ein selbstgeschriebenes Gedicht vor, das sich auch auf einer Unicef-Postkarte gut machen würde:
Vergesst nicht, dass wir alle Brüder sind
Nicht nur Menschen, auch die Bäume, Tiere, Stein und Wind
Wir alle entspringen von
dem einen großen Wesen
Das schon immer dagewesen
Bevor die Menschen
lebten und gaben ihnen Namen
Bevor entspross der erste Samen
‚Cultural Appreciation‘ statt ‚Cultural Appropriation‘
Selvik von Wardruna, der einen Großteil seiner Lieder in Altnordisch und Urnordisch verfasst, ausgestorbenen Sprachen, von denen niemand mehr weiß, wie man sie ausspricht, geschweige denn singt, sieht es genauso: „Umso weiter wir in der Geschichte zurückgehen, umso ähnlicher werden sich die Kulturen, sei es in Nordafrika, Südamerika oder in Nordeuropa.“ In der Musik gebe es Überschneidungen in der Tonalität, den Rhythmen und sogar den Instrumenten. „Die Ähnlichkeiten sind, soweit sie sich nachweisen lassen, frappant. Deshalb ist die politische Debatte um die Einzigartigkeit einzelner Kulturen Schwachsinn.“
Weil beispielsweise bisher keine Trommeln aus der Wikinger-Ära ausgegraben wurden, holen sich Heilung beim Nachbau ihrer Instrumente Inspiration aus anderen Teilen der Welt. Im Studio und auf der Bühne nutzen sie so auch eine Ravanahattha, eine Spießlaute aus Bambus, die Maria Franz von einer Indien-Reise mitgebracht hat. „Ich nenne das ‚Cultural Appreciation‘ im Gegensatz zu ‚Cultural Appropriation‘, sagt Christopher Juul, der Produzent von Heilung, der sich zuvor mit den Bands Euzen und Valravn an düster-bombastischem Electro-Pop zwischen Björk und Evanescence versuchte.
Fast alle Bands des Dark Ritual Folk haben jedoch vor allem einen Background im Metal und dort vor allem im Black Metal. In der extremen Spielart, die ihre Blüte im Norwegen der Neunziger erlebte, spielte Lokalkolorit schon immer eine wichtige Rolle: pechschwarze skandinavische Wälder, Wikingerschlachten oder Fimbulwintergeschichten aus den Götter- und Heldensagen der „Edda“ waren für das Genre wichtiger als der in den Medien oft breitgetretene Satanismus, der in der Negierung kirchlicher Traditionen aber ohnehin den gleichen roten Faden verfolgte wie die Neuheiden. „Für mich lag die Faszination für Black Metal eigentlich immer in der Faszination für die Natur“, resümiert Selvik, der früher Schlagzeuger in der satanischen Band Gorgoroth war.
Gemeint sei vor allem ein bestimmter, dunkler Aspekt der Natur – „jener, der zum Beispiel die Mythen über Trolle hervorgebracht hat.“ Auf der ganzen Welt machen immer mehr Metal-Bands ihre Landesgeschichten und Mythologien zum Inhalt ihrer Musik. Als Ganzes wurde das Genre den vergangenen 15 Jahren so immer multikultureller: In Taiwan geht die Formation Dharma mit einer buddhistischen Nonne auf die Bühne. In Indien feiern vedische Metalbands wie Purvaja die Göttin Kali, die im Hinduismus den Tod, die Zerstörung aber auch die Erneuerung verkörpert. In Mexiko beschwört die Band Cemican mit Flötenklängen und Federschmuck prähispanische Azteken-Priester. Und 2022 sorgte der indigene Musiker Sgah’gahsowáh für Aufsehen, als er mit seinem Soloprojekt Blackbraid Black Metal mit den Legenden der amerikanischen Ureinwohner der Adirondack Mountains paarte. Was in der Metal-Welt jedoch oft wie Cosplay wirkt, ist bei den Dark-Folk-Bands eine todernste Angelegenheit. Indem sie auf die moderne Rock’n’Roll-Formel von Gitarre, E-Bass und Schlagzeug verzichten, kreieren sie eine atmosphärische, volkskundliche World Music, die den Tod und die destruktiven Kräfte der Natur mit einbezieht, statt sie mit Ethno-Getrommel wegzutanzen. Die Ehrfurcht vor der dunklen Seite des Lebens ist auch ein Eingeständnis, dass wir nicht allein die Kontrolle über unser Schicksal haben. „Es ist unmöglich, dieses Leben ohne Schmerz zu durchlaufen“, sagt Faust. „Unsere Gesellschaft ist so sehr darauf ausgelegt, ihn wegzuschieben. Was wir Zerstörung nennen, ist jedoch nur die Vollendung eines Kreislaufs.“
Echtes Waterboarding für den Sound der Todesangst
Heilung gehen bei der Vertonung des Schmerzes über Schmerzgrenzen hinaus. Um „echte Todesangst“ akustisch wiederzugeben, haben sie für ihr zweites Album FUTHA ein Mitglied ihrer Crew einem Waterboarding unterzogen. Die als äußerst traumatisch geltende Foltermethode simuliert das Gefühl des Ertrinkens, indem ein mit Wasser getränktes Tuch über Nase und Mund gepresst wird. „Unser Freund war dem Tod gefühlsmäßig so nah, wie du ihm nur sein kannst“, erinnert sich Faust. „Die Geräusche, die er gemacht hat, treffen dich als Hörer auf einem tiefen, grundlegenden Level.“ Der Gefolterte habe die Möglichkeit gehabt, jederzeit abzubrechen, ergänzt Sängerin Franz, sichtlich bemüht, die Begeisterung ihres Bandkollegen vor dem Reporter auszubremsen. „Es war ein extremes Experiment, das sich aber als sehr wertvoll herausgestellt hat – unser Crewmitglied sagte danach, er habe seine größten Todesängste überwunden.“
Sein abgehacktes Nach-Atem-Ringen ist nun auf „Vapnatak“ zu hören, einem Spoken-Word-Stück über ein Kriegerritual,
das Faust im Dialekt seines Heimatdorfes eingesprochen hat. Eine tiefe, existenzielle Saite wird dabei aber offenbar nicht in jedem angeschlagen. „Wenn man aus dem hessischen Teil des Westerwalds stammt, ist es zum Totlachen – episches Wikingergebet vom tiefsten Dorf “, schreibt ein Landsmann von Faust in der Kommentarspalte auf YouTube.
Man kann den Dark Ritual Folk unfreiwillig komisch finden. Die Kostüme, die ernsten Mienen und das Schlachtengebrüll als eskapistisches Theater selbsternannter Schamanen aus der Ersten Welt abtun. Aber Heilung und Co. befriedigen ganz offenbar eine Sehnsucht nach spirituellem Ausdruck durch Musik, wie er seit jeher in allen Kulturen der Welt üblich war. „Musik ist die ursprüngliche Sprache der Menschheit. In ihr können wir die göttliche Harmonie des Kosmos wahrnehmen“,
holt Faust abermals im New-Age-Duktus aus. Selvik findet bodenständigere Worte: „Wir alle haben eine dunkle Seite in uns. Sie zu umarmen, nimmt ihr den Schrecken. Sie herauszulassen, ist Therapie.“
Dieser Text erschien zuerst in der ME-Ausgabe 03/2023.