Heinz Rudolf Kunze


Er wird wohl damit leben müssen, auch weiterhin als Oberlehrer und Seelsorger belächelt zu werden. Zumindest für spöttische Kritiker sind seine vertonten philosophischen Reflexionen noch immer ein rotes Tuch. Dabei bemüht er sich doch offensichtlich, nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Bauch zu denken. Und in der Tat: Seine tanzbaren Hirtenbriefe stoßen auf offene Ohren. Heinz Rudolf Kunze der Sänger einer ständig wachsenden Minderheit.

Ich gehöre zu der merkwürdigen Minderheit, die sich abends, wenn alle anständigen Leute ‚Dalli-Dalli‘ sehen, auf Bühnen stellt, um Mitmenschen etwas mitzuteilen, was sie angeht“, meinte er vor Jahresfrist. Und daran hat sich nichts geändert, außer daß die Minderheit der „unanständigen, unbrauchbaren Deutschen“ im Publikum ständig wächst.

Der größte Teil seines Publikums sind „Oberschüler und Studies, und es ist auch ein gewisser Prozentsatz von buntem Volk dabei, das überhaupt nicht über einen Leisten zu schlagen ist.“ Kunze wundert sich noch heute über papageienbunte Punks, die selbstzufrieden in den ersten Reihen auch seinen sanften Songs zuhören. Warum eigentlich nicht? Kommen doch auch schon mal Bildungsbürger-Damen nach vorn und bedanken sich bei ihm brav und händeschüttelnd.

Und dann hat er Lehrer im Publikum, so sie sich zu erkennen geben, jene „verbitterten Hoffnungsträger von irgendwas“, die Kunze besser kennt als irgendeiner. Gehörte er doch selber zu ihnen und schaffte erst kurz nach dem Referendariat den Absprung: „Ich find‘ den Lehrerberuf ja auch wichtig und gut, aber in dem Moment, als der Jugendtraum auf der Matte stand, gab ’s dann doch irgendwie kein Halten, weil ich mir sagte: Wenn ich das jetzt nicht probiere, würd‘ ich mir in fünf Jahren in Delmenhorst als Studienrat einen Strick nehmen. Ich muß es wenigstens probieren.“

Der Proben- wurde bald zum Ernst-Fall. Kunzes preisbestückter Karriere-Start (Literaturpreis der Stadt Osnabrück, Willy-Dehmel-Preis der GEMA, Deutscher Schallplattenpreis) „brachte zwar im Endeffekt keine Mark mehr, aber es zeigt mir, daß das, was ich mache, irgendwo gehört wird und daß ich eine gewisse Bedeutung zugesprochen bekommen habe, mit der ich mich dann nachts erst mal ein bißchen rumwälzen kann, um darüber nachzudenken, ob das auch stimmt.“

Solche Sätze bringt nur einer aus dem Handgelenk, der lesen und mit der Sprache umgehen kann. Der sich freut, wenn Fans ihm schreiben, daß seine Lieder ihnen geholfen hätten, „etwas aufmerksamer mit öffentlicher Sprache umzugehen. Immerhin lesen die jetzt Zeitungen ein bißchen anders. Heißt zwar nicht, daß irgend jemand aus dem Sattel gehoben wurde, aber immerhin. In manchen kleinen und geknickten Momenten würde ich sagen, das reicht auch schon völlig, wenn ich das auslöse. Denn je mehr Leute kommen und je lauter sie klatschen, desto größer wird auch das komische Verantwortungsgefühl, was man hat. Die nehmen alles auch tierisch ernst, vor allem die Jüngeren. „

Da kam auf der letzten Tour ein von Weinkrämpfen geschüttelter junger Mann in Kunzes Garderobe und beklagte sich bitterlich, daß er nun mit Band auftreten und sich vom Publikum feiern lassen würde. Bei seinen Liedern müsse er eigentlich dem Publikum verbieten zu klatschen. Und die Freundin des enttäuschten Fans echote, das Konzert wäre so schrecklich gewesen, sie hätte fast getanzt.

Da spielte sich Kunze nun erfolgreich von dem Vorurteil frei, „der ist eigentlich nichts weiter als ein verlaufener Lehrer – und alles, was er macht, riecht nach Kreide und hat Vorlesungscharakter. Und dann haben wir das ein bißchen überwunden, es macht den Leuten Spaß, sie gehen mit, und wir erreichen auch mit manchen Liedern ihren Körper- und dann ist es auch wieder nicht richtig.“

Was ist schon richtig, wenn der eine seinen Geheimtip mit keinem teilen will – und ein anderer Kritiker (wie unlängst in der „Zeit“) so tut, als hätte Kunze ständig Enzensberger unterm Kopfkissen – und ihm dabei blindlings schiefe textliche Bilder vorwirft?

Da Kunzes Publikum wohl mehrheitlich nicht diese heimliche deutsche Pädagogenzeitung liest, könnte er fast drüber weglesen. Doch da sitzt der handwerkliche Vorwurf tief im Fleisch, und da ist Kunzes selbst auferlegter Zwang, der Kollegen-Gilde von einst beweisen zu müssen, daß der Wechsel vom Katheder zur Bühne nicht nur eine persönliche Entscheidung war, sondern auch ein Ruf der Musen, den nur der Erfolg legitimiert: „Ich war selbst mal Referendar und weiß, wie viele dumme Lehrer es gibt. Und wie viele von denen ‚Die Zeit‘ lesen. Und wie viele von denen nun sagen: ‚Ah, toll, jetzt haben wir den Nachweis. Kunze reimt schlecht, ist Enzensberger-beeinflußt.‘ Alles klar. Zack. Rein. Zu.

Das ist ärgerlich. Denn die sind selbst viel zu blöd, um

überhaupt jemals eine literarische Interpretation hinzukriegen. Und kommen eh nicht oft in Konzerte. Dann erzählen ihre Schüler von Kunze, und sie lehnen sich zurück und sagen: schlechte Bilder, alles Enzensberger-Einfluß und so. Ich kenn‘ doch die Fuzzis, die Deutsch unterrichten, ich war doch selber einer…

Um nicht mißverstanden zu werden: Das ist nicht der Punkt, an dem der arglistige Interviewer (noch’n Klischee) den Germanisten Kunze erwischt (wobei und wozu?). Das ist des Sängers biografischer Fluch, der ihm offenbar selbst mehr zu schaffen macht als seinem Publikum. Da verändert sich seine Stimme, wird unbewußt so stark und schneidend wie zuweilen wohl kalkuliert auf der Bühne.

Was Heinz Rudolf Kunze zu sagen hat, ist in seinen Liedern deutlich. Da braucht’s auch hier keine langen Erklärungen mehr. Interessanter ist, wer und was ihn prägte.

Musikalisch ging’s mit den Beatles los, deren SGT. PEPPER-Album sich der 11jährige zum Geburtstag wünschte. LP Nr. 2 war TOMMY von The Who, mit Nr. 3 und ELECTRIC LADYLAND kam Übergitarrist Jimi Hendrix ins Jugendzimmer des Lehrersohns.

„Dann gab es parallel dazu die anständigen Klavierstunden, die ich acht Jahre lang gehabt habe und davon fünf Jahre haßte, bis ich begriff, daß ich damit auch was für mich anfangen kann.“ Plus die ersten geklopften Griffe auf der Wandergitarre, die sich mittlerweile zu einer anhörbaren Abwechslung auf der Bühne (Kunze sitzt sonst am Piano) entwickelt haben.

Das literarische Turmerlebnis brachte dem 14jährigen Peter Handkes „Angst des Tormanns beim Elfmeter“: „Ich hab gedacht, das kann doch gar nicht wahr sein. Du hast dich jetzt als pubertärer Möchtegern und Besserwisser schon durch so viel anspruchsvolles Zeug gefressen, das hat dir auch zum Teil gar nicht gefallen, das war auch manchmal so komisch. Und Dostojewski hatte ich sowieso schon lange hinter mir. Und dann lese ich plötzlich den Handke als jemand, der so schreibt, als käme ich darin vor.“

Inzwischen hat Heinz Rudolf Kunze eingesehen, daß sich seine „Sehnsucht, mit Bildungsmaterial so souverän spielen zu können, daß es nicht runterfällt“, im akademischen Sinn nicht erfüllen wird. Doch wozu auch? Als Sänger eigener Verse, die inzwischen auch in Buchform vorliegen („Deutsche Wertarbeit“ bei 2001), hat er ein eigenes Podium gefunden.

Hört man sich den Song „Meine Wünsche“ auf der neuen LP AUSNAHMEZUSTAND an, wo kirchliche Begriffe und manche Choralharmonie auftauchen, dann ließe sich „Podium“ in „Kanzel“ umtauschen. Der Liedermacher als Pfarrer, das geht nun doch zu weit, oder?

„Ich habe vor diesem Beruf großen Respekt; ich glaube, daß ein Pfarrer und ich ähnlich unsicher sein müssen über das, was rüberkommt. Das heißt, wenn es mir gelingen sollte, ein Gemeinschaftsgefühl herzustellen und trotz meiner Texte, die angeblich immer so niederschmetternd und traurig sind, auch so eine gewisse Fröhlichkeit zustande zu bringen, dann weiß ich natürlich nicht, ob die hält, wenn die Tür aufgeht und die Leute wieder nach Hause gehen. Genausowenig weiß der Kollege auf der Kanzel, ob von dem, was er dort von sich gibt, überhaupt etwas über die Kirchenschwelle hinaus hält.“

Um das Jonglieren mit Namen noch ein bißchen weiter zu treiben: Randy Newman ist für Kunze wichtig (unabhängig davon, daß er ihn im „Spiegel“ porträtierte und Newman darauf im Konzert aus dem Artikel zitierte), und Morrison, „Jim in diesem Fall, aufgrund seiner Haltung. Der konnte mit den Doors die afroamerikanischen Spuren schön halten und trotzdem Poesie dazu machen.“ Und Pete Townshend und Jimi Hendrix, die im „nachhinein die Erfindung der E-Gitarre notwendig gemacht haben“.

Und Ray Davies von den immergrünen Kinks, dessen Arbeitsweise auch die Kunzes ist: „Die inhaltliche Idee wird ornamentiert, wird ausgeschmückt mit musikalischen Formen, die sich oft ein ganzes Stück weg entfernen von dem, was vom Rock her zu erwarten wäre. Da kommt bei Davies eben Vaudeville rein, und bei mir auch alle möglichen Sachen, die etwas musikalischen Kulissencharakter haben.

Ich kann’s nicht ändern, es ist eben so, daß da eine Textidee, eine inhaltliche Idee ist, und die will, finde ich, irgendwie in Szene gesetzt sein.“

Und so spult Kunze auch auf AUSNAHMEZUSTAND akustische Filme (vom flockigen Reggae über moderne metallische Rhythmik bis zu newmanesken Piano-Vokal-Zwiegesang) ab, die ihn wieder mal in der Gunst der einen steigen, in der anderer fallen lassen werden.

Nur einmal macht er’s dem Zuhörer leicht und bekennt sich zur musikalischen Wahlverwandtschaft: „Lola“ heißt das alte Kinks-Schlachtroß, dem Heinz Rudolf Kunze einen neuen Text verpaßte – und den Strategen seiner Plattenfirma die Entscheidung nahelegte, aus dem LP-Titel die neue Single zu machen. Wenn Kunst wirklich das Gegenteil von gut gemeint ist, dann müssen kommerzielle Absichten ja nicht unehrlich sein…