Heinz Rudolf Kunze
Meister Kunze hörte gründlich. In seinem ländlichen Domizil im Norden Deutschlands wippte er gemütlich im Schaukelstuhl auf und ab, während er die ausgewählten Kostproben aufmerksam begutachtete und seine nahezu druckreifen Kommentare von sich gab. Dabei erwies er sich als Kenner der aktuellen Musikszene - nur bei schwarzer Musik muss er leider passen.
Neil Young: „Rockin‘ In The Free World“
„Das kommt von der neuen Neil Young-LP. Ich halte Neil Young textlich für mindestens so interessant wie Dylan, nur musikalisch besser. Ich liebe seinen Zick-Zack-Kurs, seine Unberechenbarkeit und seinen Mut. sich immer wieder in Frage zu stellen. Hoffentlich kann ich Mitte 40 auch noch so phänomenale Musik schreiben wie er.“
Nina Hagen: „Viva Las Vegas“
„Das Stück kenne ich zwar nicht, aber die Stimme gehört unverkennbar Nina Hagen, in ihrer kratzigen Variante. Die Nummer selbst ist ein bißchen Blondie, ein bißchen Moroder und die schlechteren Playbacks der letzten ZZ-Top-LP AFTERBURNER. Das soll jedoch nicht heißen, daß ich das Stück runtermachen wollte. Es ist eben ziemlich rohes Fleisch. Aber Nina hat ja ohnehin bei allen einen Bonus – die kann kaum was falsch machen.“
Philip Boa And The Voodooclub: „Here Comes Michael“
„Ha, das ist witzig: Mit Boas neuer LP beschäftige ich mich auch schon seit Tagen. Noch stellt mich diese Musik vor Aufgaben, noch bin ich nicht ganz fertig damit – und das spricht bereits für sie. Ich höre in HISPANOLA etwas von The Fall, von den englischen Folkhumoristen James und solche Sachen. Und speziell dieses Stück erinnert mich ganz stark an Bowies ‚The Secret Life Of Arabia‘ – Musik wie ein Flickenteppich mit viel Witz; kein Arrangementanteil wirkt todernst, alles ist sehr verspielt. Aber ich glaub‘, ich werde das gutfinden.“
Simple Minds: „Sign O‘ The Times“
„Das sind die Simple Minds. Jim Kerr singt anfangs sehr ungewöhnlich, aber dann kann die Gruppe doch nicht mehr mit ihren eigenen Merkmalen hinterm Berg halten. Das spricht allerdings für sie. Man kann zu Simple Minds stehen, wie man will, aber ne eigene Art haben sie. und schon diese wenigen Markenzeichen machen die Aufnahme sinnvoll. Ansonsten kann man sich fragen: Was soll’s? Prince hat das schon so gut gemacht, daß ich mich frage, warum es die Simple Minds noch einmal aufnehmen. Vielleicht befinden sie sich in so ner ratlosen Phase wie U2, daß sie nicht mehr recht wissen, was sie machen sollen und deshalb auf fremde Stücke zurückgreifen.“
Peter Maffay: „Steh Auf“
„Peter Maffay, das mußte ja kommen! 1983 habe ich mich ja heftig mit Maffay gefetzt, bzw. an ihm gerieben. Ich bin mir nicht sicher, ob die Redaktion auch weiß, daß ich mich nachher mit ihm wieder versöhnt habe. Maffay hat menschlich sehr nett auf meine galligen Anwürfe reagiert: Er lud mich ein und erklärte mir, daß ihm das doch sehr weh getan hätte. Das hat mich dann leicht schockiert, denn ich hätte nicht vermutet, daß ein solcher Riese überhaupt verwundbar ist. Er war es, und das tat mir dann auch leid. Den Kommentar zu dem Musikstück muß ich verweigern, weil ich die deprimierende Erfahrung gemacht habe, daß man sich in Deutschland gar nicht zu Kollegen im engeren Kreis äußern darf. Sagt man was Abfälliges, egal wie berechtigt, ist man in den Augen der anderen doch nur neidisch, ein Nestbeschmutzer und Kameradenschwein. Sagt man was Gutes, ist man nur taktisch hinterfotzig und will sich anbiedern.“
Konstantin Wecker: „Vom Herzen“
„Ach, der Konny; das Stück kenne ich noch nicht, muß wohl ein neueres sein. Also, bei dem lieben Konstantin bin ich noch mehr vorbelastet als bei Maffay, weil ich ihn etwas besser kenne, und weil er ein wirklich herzlicher Kollege ist. Es ist ihm sogar mal gelungen, mich für eine halbe Stunde aufs Oktoberfest zu zerren. Das hätte wohl kaum ein anderer geschafft. Ich bin dann allerdings mit Schweißausbrüchen und Platzangst davongelaufen. Zum Stück: Ich kann Konstantin besser verstehen, wenn ich ihn live sehe. Wenn ich ihn auf der Bühne am Klavier vor mir habe, teilt er sich mir stärker mit – seine vulkanische Ausstrahlung, die Gewalt, mit der er sein Klavier knetet, die Eindringlichkeit, mit der er singt.“
Gropiuslerchen: „Berlin Berlin“
„Ich bin froh, daß ich wenigstens auch einmal sagen kann: Das finde ich entsetzlich. Ich fühle mich an den Film ‚Die Zeitmaschine‘ nach H. G. Wells erinnert, wo eine Herde von kichernden Idioten-Kindern um eine Technologie herumtanzt, die sie nicht versteht. Was könnte man alles machen, um mit dieser Cut-Up-Technik wirklich Phrasen von Politikern vorzuführen! Die Zitate, die hier verwendet werden, sind so banal und so dümmlich eingesetzt, und die Musik ist so langweilig – ich kann damit überhaupt nichts anfangen.“
Soul II Soul: „Get A Life“
„Was ist das? Soul II Soul? Nie gehört. Zu dieser Art von Musik steht mir kein Urteil zu, weil ich sie einfach nicht verstehe. Ich besitze keinen Sensus für eine Musik, die zu 95 Prozent auf Rhythmus fixiert ist, und alles andere, was nicht Rhythmus ist, bedient ihn nur – sei es die Sprache, sei es irgendein Instrument, das reinschneit. Und da ich ein Nichttänzer bin, steht es mir auch nicht zu, das zu kommentieren.“ Neneh Cherry: „Inna City Mamma“
„Schwer beeindruckender Baß. zum letztenmal habe ich so einen Baß bei Jah Wobbie gehört, auf der zweiten Platte von PIL. Das ist dann auch eher meine Welt. Harmonisch und melodiös ist mir zu wenig los in dieser Nummer. Das bedeutet nicht, daß sie schlecht ist. Offensichtlich unterscheidet sich das, was viele schwarze, gelbe oder braune Menschen von Musik erwarten, heftig von dem, was ich erwarte. Also keine Bewertung, sondern einfach ein Unterschied. Ich habe mit schwarzer Musik ein ähnliches Problem wie Theodor Adorno mit dem Jazz, der ja damals auch geschrieben hat, er könne das nicht richtig nachvollziehen.“