Holger Czukay – Kino auf allen Wellenlängen


Drei Jahre ist es nun her, seitdem die Pflanzen ihm zum erstenmal ihre Zuneigung bewiesen, indem sie ihm die Blätter entgegenstreckten. Zwei Jahre sind vergangen, seitdem er sich entschloß, die Mitwirkenden für seine Solo-LP per Kurzwellenempfänger in aller Herren Länder aufzustöbern - auf telepathischem Wege, wie er sagt. Die Rede ist von Holger Czukay, der seine Arbeit mit Can vor geraumer Zeit auf Eis legte, um mit der LP "Movies" seinen eigenen Film zu drehen.

Irgendetwas stimmte nicht bei Can, aber so richtig wollte sich keiner darüber auslassen. Da kamen plötzlich die Rhythmusleute von Traffic, Rosko Gee (bg) und Reebop (perc), in die Band. Holger Czukay, so hieß es, habe seinen Baß beiseite gelegt, um bei Livegigs nur noch am Kurzwellenempfänger zu hocken und irgendwelche Sendefragmente aus aller Herren Länder einfangen. Bei der LP „Out Of Reach“ tauchte sein Name schon gar nicht mehr auf dem Cover auf und bei „Can“ beschränkte er sich darauf, das Material zu schneiden. Was war los?

Vor ein paar Wochen dann ein Anruf von seiner Schallplattenfirma: Holger Czukay hat eine Solo-LP, wie sieht’s aus? Wir treffen uns zum Essen. Reden. Stundenlang. Über die LP. Über die Telepathie.

Über Pflanzen. Über einen Menschen namens Viktor Schauberger, der bereits in den 30er Jahren anhand seiner sogenannten Implosionstheorie einen Weg zur alternativen Energiegewinnung wies. Holger erzählt uns von Stockhausen und von einem denkwürdigen Trip in die Schweiz. Er hat eine Kassette mit zwei Titeln der LP „Movies“ dabei: „Cool In The Pool“, eine geniale Tanznummer mit zahlreichen collageartigen Einspielungen über Kurzwelle und „Persian Love“, das technisch aufbereitete Liebeslied eines Persers vor einer Kulisse aus melodischen akustischen Gitarren. Das klang alles höchst vielversprechend, also besuchte ich Holger kurz darauf in Köln.

Wir sitzen drei Stunden in seinem Stammcafe. Holger erzählt, was ihn nach Köln zog:

„Köln war in den 50er Jahren eine Weltstadt, was die Musikszene betraf. Die hatte sich inzwischen wie ein Dorf um eine Kirche gebildet.“ Und diese Kirche hieß Stockhausen. Karlheinz Stockhausen gab Kurse für Komposition. Holger, bislang überall wegen Renitenz durchgefallen oder ‚rausgeflogen, fand in ihm seinen verständnisvollen Meister. Weltfremd und verträumt, wie er damals eben noch war, stellte er sich eine Karriere als Komponist vor, war sich nur noch nicht ganz sicher, wie er als solcher überleben sollte. Als Stockhausen aber nach einem Vortrag einem kritischen Zuhörer seine Ehefrau vorstellte, schien dieses schwierige Problem sonnenklar gelöst: Stockhausen hatte sich gegen den Vorwurf zu wehren, er wurde seine provokative Musik nur des Geldes wegen präsentieren. Also erklärte er wahrheitsgemäß, daß er dies überhaupt nicht nötig hätte, da er schließlich mit einer reichen Frau verheiratet sei.

Holger ging daraufhin mit dem gesunden Dünkel eines Stockhausenschülers in die Schweiz und nahm sich mit fünf Mark in der Tasche in Montreux ein Appartment. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, als Lehrer in einem Mädchenpensionat zu arbeiten, denn hier würden mit Sicherheit genügend potientielle gutsituierte Ehekandidatinnen auf dem Präsentierteller sitzen. Nun, die Millionärin lernte er in anderen Kreisen kennen und außerdem landete er auf einem Eliteinternat, wo unter den rockmusikbesessenen Schülern der spätere Can-Gitarrist Michael Karoli saß. „Kinderchen, was gute Musik ist, das weiß doch ich wohl am besten. Dafür werde ich schließlich bezahlt,“ pflegte Lehrer Czukay seinen Jungs, damals zu predigen, bis sie ihn bekanntlich eines Tages mit Rolling Stones- und Beatlesplatten eines besseren belehrten. Ach ja, und die Sache mit der Millionärin halte sich dann auch irgendwann erledigt.

Holger hatte erkannt, daß die ursprünglich von ihm verehrte experimentelle Neue Musik absolut unfruchtbar sei. Daß die Distanz zum Zuhörer nur neue Götter schuf und geradezu einschüchternd wirkte. Die Beatles und die Stones, die animierten zum Mitmachen – dieses neue Bewußtsein hatte ihn geradezu beflügelt.

Spontaneität, Kommunikation – Telepathie, dazu die schon von Kindheit an gehegte Liebe zu elektronischen Medien: all diese Werte, Erkenntnisse, Erfahrungen gipfelten jetzt in der LP „Movies“ (siehe auch Longplayers, ME 1 1/79). „Can war immer neuen Dingen gegenüber aufgeschlossen. Aber wenn ein Mensch erwachsen und selbständig wird, dann kann er irgendwie gar nicht mehr anders als etwas eigenes zu machen. So war es bei mir. In einer derartigen Lage wird man einfach unleidlich. Jetzt, da die LP draußen ist, verstehen wir uns auch wieder großartig.“

Holger wurde immerhin 41, ehe er – wie er es nennt – sein Gesellenstück fabrizierte. Als „Movies“ Gestalt annahm, begannen die Musiker von Can. ihren Bassisten erst richtig zu verstehen: „Ach das hast du die ganze Zeit gewollt…“ Nach und nach trottete schließlich jeder von ihnen mal ins Studio und spielte den einen oder anderen Take ein. Sogar Reebop. mit dem Holger vorher eine handfeste Auseinandersetzung hatte, kam, zeigte sich fasziniert und spielte die „Chickenorgel“ auf „Cool In The Pool“. „Reebop ist ein ausgesprochen mystisch veranlagter Mensch,“ erklärt Holger. „Für ihn als Afrikaner war es unvorstellbar, daß jemand über Funk Kontakt aufnehmen konnte, ohne den anderen seiner Substanz zu berauben. Diese Sache konnte er mit sich selbst absolut nicht in Einklang bringen.“

Wir stehen mittlerweile bei ihm zu Hause im Studio. Eine riesige Antenne beherrscht den Raum. Sie hilft Holger bei der Kontaktaufnahme, wenn er per Kurzwelle zum Wellenreiten ansetzt. „Mich irgendwo einschalten zu können, das fand ich schon immer toll,“ schwärmt Holger. „Besonders die Tatsache, daß ich mit anderen Kulturkreisen verbunden war. Und so habe ich mich schließlich auch an meine Platte gesetzt. Ich habe einfach gespielt und eine 16-Spur-Maschine eingeschaltet… auch wenn ich alles allein machen sollte, das spielte für mich keine Rolle. Ich sagte mir: irgendjemand ist immer mit dir zusammen, du bist nicht allein, das gibt’s gar nicht. Es sind drei oder vier Milliarden Menschen hier, und wenn du auch ganz allein hier mit deiner Gitarre sitzt, irgendjemand ist mit dir zusammen, du mußt ihn nur finden“. Und weil ich ihn nicht in Köln fand, habe ich einfach am Radio gedreht.“

Holger setzt das Radio ein wie ein Instrument. Und immer, wenn er das Gefühl hatte, „da ist jemand in der Luft“, schaltete er sich über Kurzwelle ein. So entstand auch das farbige „Cool In The Pool“: Holger ließ das Band laufen und spielte an der Skala. Und so, wie er die Sendungen einfing, zeichnete er sie bruchstückhaft mit auf: das Hörn aus LeHavre, den Hahn von der Rundfunkwerbung für Jaffa-Orangen auf Radio Luxemburg, Frühaufsteherniusik aus Frankreich… weitergedreht zum nächsten Sender: Baccara mit „Darling“… „Man kann sagen, der Holger spinnt“, kommt es selbstkritisch vom Meister, „der redet sich da was ein und denkt, da wäre was mit Telepathie, dabei ist alles nur Zufall. Na gut. wenn jemand es so nennt, widerspreche ich ihm nicht, weil ich glaube, daß die Dinge zusammengehören“. Auch den Perser („Persian Love“) habe er gespürt. Aber der hat ihm einiges an Arbeit beschert: „Er klingt so ganz natürlich, aber ich habe ihn in den Tonhöhen rauf- und runtergeschoben und mit zahllosen Schnitten entstört. Wenn ich jetzt sage, daß die ganze LP vielleicht 10.000 Schnitte hat, so ist das eher noch untertrieben.“ Die „Hollywood Symphony“ ist ihm mehr oder weniger „passiert“. Dieses ereignisreiche Stück Musik ergab sich fast von selbst und gehört in seiner Spannung zwischen wimmelnder Betriebsamkeit und relaxten Erholungsphasen zu den dramaturgischen Höhepunkten dieser LP. Holger: „Das Stück ist so, wie ich Hollywood sehe. Ich war ja nie in Hollywood. Aber ich stelle es mir ähnlich vor wie Baghdad: Ali Baba und die 40 Räuber. Das ist für mich Hollywood.“ Hollywoodfilme – „diese Verkoppelung von Traumhaftigkeit und amerikanischer Naivität; dieser Irrsinn!“ – üben auf Holger einen magischen Reiz aus. Nicht zuletzt übrigens wegen ihrer telepathischen Begabung von Bild und Ton. Er erklärt das so: „Es gibt Filme, da gehst du aus dem Zimmer und verfolgst sie weiter, obwohl du kein Wort verstehst. Der Film ist in der Lage, sich vom Bildschirm zu lösen, dir zu folgen. Nach 20 Minuten kommst du wieder ins Wohnzimmer und bist mittendrin, hast überhaupt nichts versäumt! Die alten Hollywoodfilme besaßen diese Fähigkeiten. Und genauso mache ich Musik.“

„In der Musik sollte eine Kommunikation stattfinden, die jenseits von Sprache liegt.“ Zitat Holger Czukay. Die Kommunikation jenseits aller Sprachen ist für den eigenwilligen Musiker inzwischen jedoch längst außerhalb dieses Mediums Wirklichkeit geworden. Der Glaube an die telepathische Begabung aller Lebewesen, ob Mensch ob Tier ob Pflanze, versetzte ihn in harmonischen Einklang mit seiner natürlichen Umwelt. Mir selbst ist es zwar nicht gelungen, die Reaktion von Pflanzen auf ihn zu beobachten. Aber ich kenne einige äußerst kritische Jungs, die heute Stein und Bein schwören, daß sich in Holgers Nähe Grünpflanzen bewegten, obwohl es völlig windstill war.

Proteste? Holger wird sie lächelnd anhören. Keiner wird ihn davon überzeugen können, wieder Geld an die Krankenversicherung zu zahlen, solange sein Baum existiert, der ihm die Kraft verleiht, gesund zu bleiben. Ausgeglichen und zufrieden harrt er der Dinge, die passieren. Er werkelt schon wieder an einer neuen LP, will und kann aber dazu nichts sagen. Ehe es wieder Mißverständnisse gibt, ist es vielleicht auch besser so. Fest steht nur, daß er diesmal nicht in erster Linie auf die Sessionleute aus dem Äther angewiesen sein wird. Can-Drummer Jackie Liebezeit, der übrigens auch gerade eine Solo-LP fertig hat, arbeitet schon intensiv mit… Doch hier und heute geht es erstmal um „Movies“. Was ist, wenn dieses faszinierende Experiment sein Publikum verfehlt, weil diese Art von Film so absolut neu und ungewöhnlich ist? Holger: „Ich lege es einfach nicht darauf an, groß herauszukommen. Wenn es sich ergibt, ergibt es sich. Wenn nicht, gibt es immer einen Weg, irgendwelche Dinge zu tun. Ich fühle mich so jedenfalls unheimlich wohl“.