Hurra, wir lösen uns auf!
Der Band-Begriff, wie wir ihn kennen, gehört der Vergangenheit an. Das behaupten zumindest Calexico - diese durchaus traditionsbewusste Band, für die einst die Beschreibung „Border Music" erfunden wurde. Und die sich nun aufmacht, fast alle Grenzen hinter sich zu lassen.
Calexico hören, das ist wie träge im Sitz eines alten Busses zu hängen und unbeteiligt durch staubige Fenster nach draußen zu glotzen. Die Bilder, die man dabei einfängt, setzen sich passiv im Hirn fest und sortieren sich erst später. Jedes Album von Calexico beschreibt eine Reise. Die Trips der Band führten stets an konkrete Orte zwischen Tucson und Tijuana, doch jetzt scheint ihnen die Geografie etwas durcheinandergeraten zu sein. Die Songs auf dem neuen, sechsten Album spielen in Moskau, Valparaiso, Hollywood und an vielen anderen Orten. Kein Wunder, denn nur noch drei Mitglieder des Kollektivs leben in Tucson, der Rest verteilt sich über die ganze Welt.
Unablässig auf Reisen, schnappen Gitarrist Joey Burns und Drummer John Convertino immer neue Ingredienzen für ihre Musik auf. „Wir setzen uns längst keine Grenzen mehr“, sagt Burns. Auf dem Vorgänger garden ruin richteten wir unseren Fokus auf einen bestimmten Aspekt unseres Sounds. Das war zu diesem Zeitpunkt auch die richtige Entscheidung, um einen neuen Ausgangspunkt zu finden. Aber diesmal wollten wir die Tore wieder öffnen. Wir haben Zugriff auf derart viele Stile, Klänge und persönliche Idiome, dass Vielfalt vielleicht unsere größte Stärke ist. Die Herausforderung bestand gerade darin, alle Festlegungen von Calexico zu verwischen und trotzdem nach uns selbst zu klingen.“
Auch inhaltlich wagen Calexico etwas, gleich im ersten Song z. B.: „Victor Jara’s Hands“ handelt von einem chilenischen Sänger, der Anfang der Siebziger als Bob Dylan Südamerikas gepriesen wurde. Als 1973 in Chile das Militär putschte, wurden ihm die Hände gebrochen, dann wurde er erschossen. Es ginge weniger um Jara selbst als um seinen Spirit, der über Jahrzehnte viele Lateinamerikaner inspirierte, betont Burns. Und doch ist das Stück gerade in seiner poetischen Offenheit ein unüberhörbares Statement im Zeitalter des proklamierten politischen Wechsels. Die von Barack Obama endlos penetrierte Wahlkampflosung „Change“ macht Burns misstrauisch: „‚Change‘ ist ein geheimes Codewort für nada mucho. (Er meint offenbar“no mucho“, „nada mucho“ ist eher „spanglish“; auf jeden Fall steht es für „so gut wie gar nichts“ – Anm. d. Red.) Unser Land befindet sich im Krieg, auch wenn es den einen oder anderen graduellen Wechselgeben mag. Eine tatsächliche Veränderung der Gesellschaft wird wohl noch mehrere Generationen brauchen. Immerhin gibt es einen Hauch von Hoffnung. (…) Ich bin ein Songwriter. Meine Texte waren nie besonders positiv, dafür ist die Musik fröhlich. Uns fasziniert der Kontrast zwischen den schönen und bitteren Seiten des Lebens.“
Auf manche Storys stößt die Band im Internet, andere basieren auf selbst Erlebtem. Geschichten von gestern, die plötzlich wieder an die Oberfläche kommen. „In dem Song ,Man Made Lake‘ geht es um eine Gemeinde, die versucht, wieder aufzubauen, was einst von Menschen zerstört wurde.“ Burns pfeift verächtlich durch die Nase. „Seltsames Konzept, oder? Ich habe diesen Song schon vor langer Zeit geschrieben, als ich Freunde in Phoenix besuchte. Ihre Eltern wohnen in einem Viertel draußen vor der Stadt. Die mustergültige amerikanische Nachbarschaft: weiße Zäune, grünes Gras und ein See mitten in der Wüste. Auf den ersten Blick sieht es organisch aus, aber da ist alles künstlich. Zuerst verdrängt man die Natur, dann schafft man sich eine neue. In Arizona gibt es unglaublich viele Golfplätze. Dabei ist es eigentlich viel zu trocken. Sie schaffen einfach Wasser herbei.“
Das Wort Wasser kommt Burns wie eine Zauberformel über die Lippen, er liebt die Metapher: „Musik ist wie Wasser. Man kann sie nicht festhalten. Manchmal hinterlässt sie nur ein paar Tropfen, oft verrinnt sie einfach, manchmal überflutet sie aber alles.“ Rasch kehrt er auf den Boden der Tatsachen zurück. „Als das Album fertig war, bemerkte meine Freundin, dass es in vielen Songs um Wasser geht. Seltsam für eine Band, die in der Wüste lebt. Aber gerade die Distanz stellt die Verbindung her. In der Wüste kreist der Geist ständig ums Wasser. Ich bin an der Küste aufgewachsen, und es ist immer ein wenig schmerzhaft für mich, ans Meer zurückzukehren. Die Erinnerung ans Wasser kommt in meinen Songs durch, ob ich will oder nicht.“
Die Arbeit von Calexico an ihren Songs ist ein Wechselspiel. Die Band baut auf das Vertraute, macht Fehler und definiert sich über diese Fehler neu. Entdeckungen zu machen, hat bei Calexico Methode, doch ist das Neue selten das Ziel, sondern eher ein Produkt des gewollten Zufalls. Burns grinst. „Es ist wie Surfen im Internet. Du willst etwas recherchieren, bleibst aber an irgendeiner Headline hängen und landest ganz woanders. Es gehört nicht viel dazu, aus dem Haus zu gehen und sich inspirieren zu lassen. Kürzlich sah ich einen Dokumentarfilm über Ameisen. Als ich am Nachmittag meinen Hund ausführte, entdeckte ich zwei Kolonien roter und schwarzer Ameisen. Plötzlich glaubte ich, alles über sie zu wissen, und beobachtete interessiert, wie die beiden Völker koexistieren. Wir alle bewegen uns auf unserer Ameisenstraße. Doch beim ersten unerwarteten Hindernis bekommen unsere Rituale plötzlich eine ganz andere Bedeutung.“
Neben ihrem eigenen Album haben Calexico auch am Soundtrack zu dem Dylan-Film „I’m Not There“ mitgearbeitet. Bob Dylan gehört nicht zu den offenkundigen Einflüssen von Calexico, doch bei der Arbeit beeindruckte Burns, wie viele Facetten er bedient. Mit Gästen wie Charlotte Gainsbourg, Roger McGuinn und Willie Nelson sind Calexico ihrerseits in unterschiedliche Inkarnationen geschlüpft, um Dylans Songs umzusetzen. Auch auf carried to dust präsentieren sie sich mehr als spirituelle Einheit denn als Band herkömmlichen Zuschnitts. Vor elf Jahren als Duo aus dem Verbund von Giant Sand herausgetreten, später bis zum Sextett erweitert, steht hinter dem Trademark Calexico inzwischen ein loses globales Bündnis. Joey Burns: „Vielleicht geben wir den Namen an die Stadt zurück. Der gegenwärtige Bandbegriff stammt ja aus der Vergangenheit. Musik wird immer kollektiver. Durch das Internet kann man problemlos mit Musikern auf der ganzen Welt kommunizieren. Platten werden heute anders aufgenommen. Man dockt irgendwo auf Tour an, trifft sich und macht eine Aufnahme. Die Qualität der Musik hat sich dadurch immens verbessert.“
So klingt denn auch carried to dust in seiner stilistischen Komplexität zwischen Loungerock, Space Jazz und Ethnopop weniger nach einem klassischen Album als nach einem unverbindlichen Angebot zum Weiterhören. Vielleicht ist das Wunderbare an diesem neuen Album die Leichtigkeit, mit der eine großartige Band im Zenit ihrer Kreativität eingesteht, dass sie sich selbst überlebt hat.
>>>www.casadecalexico.com
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