Kritik

„I Am a Killer: Released“ auf Netflix: Waffen, Gott und Amerika


Wie ist es, wenn ein verurteilter Mörder, der eigentlich schon im Todestrakt saß, nach fast 30 Jahren Haft entlassen wird? Die erste Staffel der Doku-Serie „I Am a Killer: Released“ zeigt einen Sumpf aus Gewalt und Gottesfürchtigkeit – und bleibt dabei erstaunlich seriös.

Dale Wayne Sigler ist über 50, hat weißes, schütteres Haar, viele schlechte Tattoos an gut sichtbaren Stellen und nur noch wenige Zähne im Mund. Sein Äußeres passt zu den Vorstellungen, die die meisten Zuschauer*innen von einem in die Jahre gekommenen Gewalttäter haben dürften. In der ersten Folge der dreiteiligen (ersten) Netflix-Staffel sitzt er noch hinter Gittern, irgendwo in Texas. Doch wenn er zu reden beginnt, mag das Gesagte nicht so recht zu seiner Erscheinung passen: Er erzählt von der Größe Gottes, seiner Läuterung durch Jesus Christus und davon, dass er seine Taten aufrichtig bereue. Tränen in den Augen.

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Da erzeugt die True-Crime-Doku das erste Unwohlsein. Sigler wirkt so, als wäre er a) ein verdammt überzeugender Taktierer, der die „Durch die Bibel habe ich zur Wahrheit gefunden“-Nummer abspielt, in der Hoffnung bei den gottesfürchtigen Texaner*innen punkten zu können. Oder aber b) ein zutiefst verzweifelter Mensch, der sich in der Ausweglosigkeit seiner Situation mit beinahe widerwärtiger Unterwürfigkeit einer Idee verschrieben hat, von der er sich Buße, vielleicht sogar einen symbolischen Neuanfang verspricht.

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Reuiger Sünder oder traumatisierter Schwulenfeind?

Beides hat seinen ganz eigenen, üblen Beigeschmack. Die ersten Interviews mit Dale Wayne Sigler stupsen das Publikum in Richtung der zweiten Variante. Gleich zu Beginn erzählt er von seiner schrecklichen Kindheit: Der Vater verlor seinen Job, wurde alkoholabhängig, begann Mutter und ihre drei Söhne zu verprügeln. Im Alter von zehn Jahren wurde Sigler von einem Familienmitglied missbraucht. Als er versuchte, mit seiner Mutter darüber zu sprechen, verließ sie einfach den Raum. Als Teenager begeht er die ersten Straftaten, wird drogenabhängig und lebt auf der Straße. Im Alter von 20 Jahren erschießt er bei einem missglückten Raubüberfall auf eine „Subway“-Filiale den Betreiber, um lausige 400 Dollar zu erbeuten.

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Die typische Entgleisungsspirale aus erlebter Gewalt, nicht-aufgearbeiteten Traumata, Drogenkonsum als Bewältigungsversuch und der darauffolgenden Beschaffungskriminalität also. Unwillkürlich fragt man sich, was die gerechte Strafe für Mord ist. Die 30 Jahre erscheinen fast schon überzogen, die Todesstrafe, zu der Sigler eigentlich verurteilt wurde, irrsinnig. Der Hinrichtung entging er nur durch eine Änderung der Regelungen für die Besetzung der Jury, die rückwirkend auch für seinen Fall berücksichtig wurden.

Aber natürlich lässt Regisseur Itamar Klasmer nicht nur den Täter selbst zu Wort kommen. Als der damals leitend ermittelnde Officer und zuständige Staatsanwalt unabhängig voneinander den Fall schildern, verändert sich das Bild von Tathergang und Schwere der Schuld komplett: Sigler habe sein Opfer, John Zeltner, persönlich gut gekannt. Zeltner habe ihm sogar den Laden aufgeschlossen. Nachdem der Safe geöffnet war, habe Sigler ihn mit sechs Schüssen in den Rücken getötet. Freunde des Mörders berichten, dass er im Nachhinein mit seiner Tat geprahlt habe. Auch damit, mit Zeltner einen Schwulen umgebracht zu haben. Und plötzlich drängt sich Option a) auf. Ist Sigler doch einfach nur ein kaltblütiger Brutalo, der das Publikum an der Nase herumführt?

„God made, Jesus saved, Texas raised”

Wie schon die Netflix-Serie „I Am a Killer“, ist auch ihre dreiteilige Erweiterung um die ruhige Suche nach Antworten bemüht, ohne sich selbst an einer Auflösung zu versuchen, die es gar nicht geben kann. Klar, dass das Projekt, einen Mörder bei seiner Entlassung zu begleiten, bereits an sich ein reißerisches Unterfangen ist, das sich an die niedereren Sehgelüste, an die Faszination für das Böse, oder einfachen Sensationshunger richtet. Die Umsetzung aber ist denkbar seriös. Die Folgen bestehen ausschließlich aus längeren Interviews mit umsichtig gewählten Gesprächspartner*innen. Gelegentlich liefert eine kurze Einblendung Fakten rund um den Fall oder leitet zum nächsten Kapitel über.

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Selbst dann, wenn sich die Interviewten als der Inbegriff aller Klischeevorstellungen des amerikanischen Südens präsentieren – wo „Stars and Stripes“ allgegenwärtig und die Leute gottesfürchtig sind, wo man an einen strafenden Staat glaubt – scheint das ohne Zutun der Doku-Serie zu geschehen. Es wirkt nicht inszeniert, wenn die Halbbrüder des Opfers anlässlich der Entlassung Siglers von „Systemversagen“ sprechen. Oder wenn „Mama Carole“ den Trailer präsentiert, in dem sie wohnt und da ein Schild, auf dem „God made, Jesus saved, Texas raised“ steht, am Eingang prangt. Oder auch wenn ihre Enkel*innen die amerikanische Flagge gleich mehrfach am Körper tragen. Man hat es wahrscheinlich einfach mit besonders authentischen Trump-Wähler*innen zu tun.

„Ich bin ein Mörder, aber kein Homosexueller“

„Mama Carole“ ist übrigens die alte Dame, bei der Sigler nach seiner Entlassung, nach über 10.000 Nächten im Gefängnis, leben kann. Zwölf Monate darf er dann das Grundstück nicht verlassen, auf Bewährung bleibt er für den Rest seines Lebens. Carole hat ihn im Gefängnis kennengelernt, als sie ihren Stiefsohn besuchte. Daraus entstand eine intensive Brieffreundschaft, sogar eine Verbindung ähnlich einer Mutter-Sohn-Beziehung. Sie hat ihn nie danach gefragt, was für einen Mord er begangen hat. Als Sigler ihr nach seiner Freilassung davon berichtet, ändert er plötzlich das Motiv: Nie wäre es um einen Raubüberfall gegangen. Zeltner habe ihn zu einer Beziehung erpressen wollen, andernfalls, soll er gedroht haben, erzähle er allen von Siglers vermeintlicher Homosexualität. Da tötete er ihn.

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Die Geschichte klingt absurd, aber zumindest Caroles Enkel*innen scheint sie zu beruhigen: „Ich hätte wahrscheinlich genauso wie er gehandelt“, heißt es nun, und auch die Kirchenmitglieder, denen er die neue Version erzählt, scheinen sein Handeln irgendwie nachvollziehen zu können. Sigler selbst sagt: „Ich bin ja vieles, ich bin ein Mörder, aber ich bin kein Homosexueller“, ohne dabei anzuecken.

Am Ende verstört an „I am A Killer: Released“ überraschenderweise gar nicht der 30 Jahre zurückliegende Mord am nachhaltigsten, sondern das, was man abwertend als „Redneck“-Kultur oder „White Trash“ bezeichnen würde. Der kleine Ausschnitt eines Amerikas, wie sich so manch eingefleischte*r Trump-Anhänger*in das Land wohl wünschen würde.

Die erste Staffel der dreiteiligen Doku-Reihe „I Am Killer: Released“ ist am 28. August 2020 auf Netflix gestartet. Die Folgen dauern im Durchschnitt 35 Minuten. Ob die Serie fortgesetzt wird, steht noch nicht fest.

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