Ian Anderson


Ian Anderson, Boß der Jethro Tull, galt jahrelang als pressefeindlich. Ausgerechnet er rief nun ME als einziges Rock-Magazin zu einer Pressekonferenz ins feudale Montreux, was die Gerüchteküche erneut brodeln ließ. Auflösung der Tull? Was sonst konnte Mr. Anderson veranlassen, über seinen Schatten zu springen und Journalisten zur Audienz zu empfangen? Im Laufe des Gesprächs stellten sich nach und nach die meisten Vorstellungen über Anderson und seine Tull als falsch heraus.

Ian Anderson, Boß der Jethro Tull, galt jahrelang als pressefeindlich. Ausgerechnet er rief nun ME als einziges Rock-Magazin zu einer Pressekonferenz ins feudale Montreux, was die Gerüchteküche erneut brodeln ließ. Auflösung der Tüll? Was sonst konnte Mr. Anderson veranlassen, über seinen Schatten zu springen und Journalisten zur Audienz zu empfangen? Im Laufe des Gesprächs stellten sich nach und nach die meisten Vorstellungen über Anderson und seine Tüll als falsch heraus.

ME:

Ian, offen gesagt sind wir sehr erstaunt über Deine plötzliche Bereitschaft, Interviews zu geben, Du hast die Initiative sogar selbst ergriffen, was ist der Grund, ist Jethro Tüll am Ende?

l. Anderson:

Ich bin noch nie pressefeindlich gewesen, ich lehne es nur ab, während einer Tournee Interviews zu geben, ich konzentriere mich stets auf die Hauptsache, und das sind während einer Tour meine abendlichen Auftritte. Das bedeutet ungeheuren Streß, ich kann und will mich nicht verzetteln. Danach widme ich mich anderen notwendigen Aufgaben wie Pressearbeit, kaufmännischen und technischen Fragen. Einen spektakulären Anlaß gibt es für dieses Interview nicht, ich habe jetzt Zeit, das ist die Antwort.

ME:

Auch auf die Gefahr hin, penetrant zu erscheinen, löst Du Jethro Tüll in absehbarer Zeit auf oder nicht?

Anderson:

Ich weiß es wirklich nicht. Ich wache seit einigen Jahren jeden Morgen mit folgender Frage im Kopf auf: Machst Du heute Schluß mit den Tüll oder nicht? Manchmal bin ich fest dazu entschlossen. Dann schwebt mir vor, mich für zwei oder drei Jahre aus der Szene zurückzuziehen, um danach als ein völlig anderer mit neuer Musik, anderem Namen, ohne Bart und mit kurzen Haaren aufzuerstehen. Die Namen Ian Anderson und Jethro Tüll sind vergessen, und ich kann ganz von vorne anfangen. So ähnlich hat es Cat Stevens vor einigen Jahren angestellt, als er wegen Krankheit pausieren mußte. Das hat wohlgemerkt keine geschäftlichen Gründe, noch immer verkauft sich jedes neue Tull-Album mehr als eine Million weltweit, insgesamt sind es bis heute übrigens 11 1/2 Millionen verkaufte LPs.

ME:

Danke, ein guter Übergang zur nächsten Frage, 11 1/2 Millionen Alben müssen Dich steinreich gemacht haben!

Anderson:

Riesen-Irrtum! Ich stehe etwa auf dem Gehaltsniveau eines Arztes, Rechtsanwaltes oder Top-Journalisten, obwohl bei mir mehr hereinkommt als bei denen, den Rest frißt aber das englische Steuersystem. Deshalb wandern doch so viele von uns aus, die meisten in die USA, wo nur 50% an Steuern zu entrichten sind, in England zahle ich derzeit 83%.

ME:

In einem früheren ME-Interview hast Du Deinen Mitspielern bei Jethro Tull jedes kreative Vermögen abgesprochen, bist Du in jeder Hinsicht „Kopf“ der Gruppe?

Anderson:

Darüber haben wir noch vor ein paar Wochen gesprochen, „diskutiert“ kann ich nicht sagen, denn wir waren uns einig in folgenden Punkten: 1. Ich brauche meine Musiker in dem Maße, wie sie mich brauchen. Allerdings bilde ich mir doch in aller Bescheidenheit ein, nicht so leicht auswechselbar zu sein wie einer von ihnen. 2. Es ist eine Tatsache, daß außer mir niemand in der Gruppe Jethro Tull-Musik konzipieren und verwirklichen kann. Das verschafft mir unbestreitbar mehr Gewicht innerhalb der Gruppe und hat mit Vorgesetzten-Gehabe oder Egoismus nichts zu tun. Das brauchte ich in unserem Gespräch nicht zu betonen, alle haben es akzeptiert. Daß Jeffrey Hammond uns dennoch verließ, hat einen anderen Grund, er möchte endlich Maler sein, wir waren ja vor zehn Jahren auf der gleichen Kunstschule. Jeffrey’s Nachfolger am Baß ist John Glassock, ein sehr junger und talentierter Musiker, von dem Ihr in Deutschland aber sicher noch nichts gehört habt.

ME:

Wie geht es mit Deinen Lieblingsprojekten weiter, der Videokassette und dem eigenen fahrbaren Aufnahme-Studio nach dem Muster des Stones-Mobile?

Anderson: Das Video-Projekt ist ins Stocken geraten, ich wollte Jethro Tull-Kassetten schaffen, eine Erweiterung der Musik ins Optische. Man legt die Kassette ein und sieht und hört Jethro Tüll über den Fernseher. Die Kasette hat sich aber leider als zu teuer erwiesen, im Augenblick laborieren wir an der Video-Platte herum. Zum Thema „Maison Rouge“, dem fahrenden Studio, muß ich etwas richtigstellen: Es gehört nur zum Teil uns. Die Initiative dazu ging von mir aus, und ich konnte Chrysalis, meine Plattenfirma, dazu überreden, es mitzufinanzieren. Es soll unsere Beweglichkeit vergrößern helfen und wird auch an andere Gruppen vermietet, damit es wieder einen Teil der Kosten, die immens waren, einspielt. Ein paar Aufnahmen für unser neues Album, für das ich noch keinen Titel habe, sind bereits dort entstanden, vier andere entstanden in einem Brüsseler Studio, den Rest machen wir in Monte Carlo. Ich spiele in einem Track selbst E-Gitarre, im Stil der Shadows, „Too Old For Rock’n‘-Roll, Too Young To Die“ heißt der Song.

ME:

Siehst du im Älterwerden eines Rockmusikers ein Problem? Du bist 28, wie lange kannst überzeugend Rock spielen?

Anderson:

Also, ein Problem ist es sicher. Einmal physisch: Ich glaube nicht, daß ich meine Bühnenshow mit fünfzig noch einigermaßen sportlich bringe. Ich fahre zum Ausgleich Moto Cross, allerdings keine echten Wettbewerbe, da hätte ich mit sechzehn Jahren anfangen müssen. Wissenschaftler haben festgestellt, daß Moto Cross auf Motorrädern der härteste physische Sport ist. Das ist also Training für die Bühne. Zurück zu Deiner Frage: Ein größeres Problem erwächst einem Rocksänger meiner Meinung nach aus der zunehmenden geistigen Reife und Abgeklärtheit. Rockmusik war ursprünglich Ausdruck einer Jugend-Rebellion, mit vierzig oder mehr kann ich mich wohl kaum glaubhaft über meinen „Alten, der mir seinen Cadillac nicht leihen will“ auslassen.

ME:

Was wäre also die Alternative für einen alternden Rockstar?

Anderson:

Wie ich schon sagte, ein paar Jahre untertauchen, als ein neuer Mensch wiederkommen und etwas ganz anderes beginnen.

ME:

Das scheint sich zur fixen Idee bei Dir zu entwickeln mit dem Untertauchen, laß uns besser zu einem anderen Thema übergehen. Jethro Tull-Musik war nie modische Musik, Ihr habt Euch nie irgendwelchen gängigen Trends angeschlossen, könnt Ihr das weiter durchhalten, mit anderen Worten, wann hören wir den ersten Reggae-Titel der Tull?

Anderson:

Das weiß ich nicht. So, wie wir nie einem Trend bewußt gefolgt sind, haben wir auch nie bewußt gegen einen Trend gearbeitet. Die Trends und Einflüsse sind im Grunde völlig nebensächlich. Nehmen wir Eric Clapton: Wenn er einen Reggae-TiteJ spielt, ist das Spitzenklasse, weil Eric Spitzenklasse ist, und würde er morgen einen C&W-Titel spielen, was ich so ziemlich für die beknackteste Musik halte, wäre das wieder etwas Großes. Oder nimm die Stones, die bestimmt keine intellektuelle Musik machen, aber so wie Keith Richard Rhythmus-Gitarre spielt, die Gitarre immer um einen halben Ton falsch gestimmt, das macht ihm niemand nach, und so sind die Stones eben die größte Rockgruppe für mich, welche Art Musik sie machen, ist mir egal.

ME:

Da wir bei Trends sind, wohin zielt Deiner Meinung nach die Entwicklung des Pop-Rock? Glaubst Du auch, wie z.B. Alexis Korner, daß Ideen und Impulse nur noch aus Amerika kommen können?

Anderson:

Definitely not! Wo sind denn die neuen Impulse aus den USA? Lynyrd Synyrd? Doobies? Little Feat? Haben wir vor ungefähr 15 Jahren alles schon in Good Old England gehabt. Ich weiß, z.Zt. gibt es in England nur Teeny-Käse, aber das ist eine Generationsfrage. Die Fans dieser Musik, die heute 12 bis 14jährigen, werden in drei, vier Jahren eine ähnliche Riesenwelle auslösen wie vor 12 Jahren, als es mit den Beatles losging. Ob eine Epoche „riesig“ oder „tot“ ist, liegt nicht daran, wieviel fähige Musiker sie hat, sondern wie eine ganze soziale Schicht denkt und lebt. Eine solche Welle wird durch ein verändertes Bewußtsein ausgelöst, die entsprechende Musik entsteht dann automatisch.

ME:

Apropos Teenie-Käse! Tull’s Bühnenshow ist spürbar bunter geworden, man kann auch „poppiger“ sagen. Ist das ein Versuch, optisch noch kommerzieller zu werden?

Anderson:

Wenn es kommerzieller geworden ist, bin ich zufrieden. Wir setzen die Bühnen-Show so ein, wie man in einem geschriebenen Satz entsprechende Zeichen macht. Wenn bei uns ein Zebra auf der Bühne erscheint, und der Bassist und sein Instrument ebenso gestreift auf die Bühne kommen, ist das wie ein Ausrufezeichen am Ende eines Imperativ-Satzes zu verstehen. Außerdem hilft es über Sprachbarrieren hinweg. Das bleibt nämlich ein Problem mit der Sprache, unsere Show lebt nicht nur von den Songs, deren Texte alle kennen, sondern auch von dem, was ich zwischendurch sage. Das kommt eben leider nur in den verhältnismäßig kleinen englischen Clubs „durch“, in anderssprachigen Ländern kaum, nicht mal in den USA, wo die Hallen einfach zu groß sind.