Ian Dury


Ian Dury dürfte das cleverste Original sein, das zur Zeit in die Wunderkiste von Stiff Records gehört. Bei seinen Auftritten im Hamburger Onkel Pö und im Berliner Kant Kino faszinierte er kürzlich das Publikum mit seiner unglaublichen Ausstrahlung. Sogar der konservative Ian Anderson von Jethro Tull singt sein Loblied.

Wenn Ian Dury mit seiner rauhen Stimme schnarrt: „Wake Up And Make Love To Me“, kann es einem schon kalt den Rücken herunterlaufen. Denn sein Charakterschädel sitzt auf einem von Kinderlähmung zerstörten Körper. Aber dieser Schädel ist wiederum so faszinierend, daß man nicht eine Sekunde Iang den Eindruck hat, einem armseligen Krüppel gegenüberzusitzen. Seine Augen sind geradezu spitzbübisch und man muß höllisch aufpassen, daß er einen rhetorisch nicht ständig aufs Kreuz legt.

Als er noch mit seiner Gruppe Killbum And The High Roads (oder ganz einfach: The Killburns) die Londoner Pub-Szene bereicherte, soll sich Johnny Rotten fast den Hals ausgedreht haben, um sich von Ian alles mögliche abzugucken. Ian, so sagt man, sei Johnny’s Idol gewesen. „Ehrlich?“ fragt er daraufhin.

Ja Ian, und du giltst als Pionier des Punk Rock. „Das habe ich nie behauptet!“ wehrt er ab. Nein, du nicht, aber… „Ja, das ist schon sehr freundlich, aber Pionier zu sein, ist eine Sache des Augenblicks, aber der Moment ist vorbei, laß uns von morgen reden.“ Aber dann fällt Ian Dury zum Thema Johnny Rotten doch noch etwas ein: „Er beeinflußt mich!“ – ???

„Ja, er brachte mir bei, mit englischem Akzent zu singen. Ehe ich die Sex Pistols hörte: sang ich mit einem unechten amerikanischen Akzent.“ Nun, Ian war wohl ein guter Schüler: Er spricht ein derart breites Cockney, daß es schon beinahe unfair ist.

Nach seinen zwei Auftritten in der Bundesrepublik war Ian mit seiner derzeitigen Begleitband, den Blockheads (Dummköpfen), auf Tournee gegangen. Im März spielte er zum Beispiel an der amerikanischen Westküste im Vorprogramm von Lou Reed. Die Blockheads waren übrigens nicht komplett an der Produktion seiner LP „New Boots And Panties“ beteiligt, deren Aufnahme weniger als eine Woche dauerte. An diesem Werk voller farbiger Cockney-Lyrik wirkten der Drummer Charley Charles, der Bassist Norman Lincoln Watt-Roy und der Saxophonist Davey Payne mit. Mickey Gallagher (keyb) und der Gitarrist Johnney Turnball schlössen sich später an. Ende Mai, nach einer EngIand-Tour, wollen sie sich mal wieder etwas Ruhe gönnen und vielleicht auch mal ins Studio gehen.

Wann eine neue Ian Dury-LP auf dem Markt ist, steht noch in den Sternen. Ian hat mit den Stiff-Leuten einen derart lockeren Vertrag ausgehandelt, daß ihn keiner auf irgendwelche Produktionstermine festnageln kann. „Man kann Kreativität nicht erzwingen“, sagt er. „Das ist auch der Grund, warum es vielen Leuten im Showbusiness so mies geht. Es ist so, wie ich es in dem Song über Gene Vincent schildern will: Du zwingst einen Menschen und er stirbt.“ Beim Thema Gene Vincent drängt sich natürlich eine harte Symbolik auf: Auch er stand auf einen Stock gestützt vor dem Mikro. Doch das ist es nicht, was Ian Dury an ihm interessierte. „Es gibt sehr wenige Leute im Musik-Business, die durchhalten. Irgendwann stürzen die meisten ab. Es ist eine Schande. Gene Vincent ist von seinen Managern ausgebeutet worden. Darüber habe ich geschrieben.“ Der ehemalige Kunststudent Dury weiß, was für ihn gut ist. Er darf sich mit Brief und Siegel Künstler nennen: Maler und Illustrator. Aber: „Ich hab‘ es aufgegeben,“ erklärt er. Für die Musik? „Nein, weil ich nicht gut war.“ Mit seiner Vergangenheit bei den Killburns verfährt er ähnlich kaltschnäuzig: ,Bsi den Killburns spielte die Musik eine untergeordnete Rolle. Wir waren etwas fürs Auge. Heute sehen wir immer noch ganz gut aus, aber heute kann man uns auch ganz gut zuhören. Wir gehen ganz gut los. Das Entscheidende ist jetzt die Musik.“ (Aus der Killburn-Zeit gibt es zwei LP’s. Eine davon wurde nicht veröffentlicht, die andere erschien 1974 unter dem Titel „Handsome“ bei Pye Records.

Ian Dury, dieses merkwürdige Gewächs der Londoner Pub-Szene, erhielt in den vergangenen Monaten eine nie gekannte Publicity. Er ist 35, doch ausgelernt hat er, wie er sagt, noch Iange nicht. Das Leben immer so spannend wie möglich zu halten, ist seine Maxime, bloß nichts etablieren. Ob Punk, New Wave oder welche Klassifizierungen auch immer im Raum stehen, er haßt sie alle. Sie sind unwichtig, soIange irgendetwas gut ist, ihn aufregt, in Bewegung hält. Die wichtigsten Gruppen der Szene sind für ihn die, die er noch nicht kennt. „London“, so sagt er, „rotiert musikalisch mehr denn je. In den Pubs gibt es zur Zeit mehr Musik als jemals zuvor, gute Musik, ernsthafte Musik. Jeden Abend kann man sine andere Band hören. Country, Rhythm’n’Blues, Punk, alles ist vertreten. Es gibt viel mehr Pubs als früher, auch wenn sie weniger Publicity haben. Doch sie sind wichtiger als je zuvor.“