Ihre Musik wirkt wie ein Orkan. Im Gespräch aber offenbaren Staind sehr verhaltene Züge.
Ein Cop der University of Maryland lungert betont unaufdringlich im Konferenzraum über der Ballsporthalle. Sicherheit wird groß geschrieben, schließlich ist es eine Uni, in der heute diese „all ages show“ läuft, und die Milchbar wird pünktlich um 22 Uhr dicht machen. Staind sind heute in der Stadt, und das macht die Security-Leute ein bisschen nervös – wer weiß, was da auf sie zukommt!? Schließlich ist die Band das Ding des Sommers in den USA: Titelgeschichten, fast überall ausverkaufte Konzerte, gigantische Absatzzahlen.
Auch Aaron Lewis, Sänger und Texter von Staind, ist ein bisschen nervös. Der tätowierte, kompakt bemuskelte Mann schielt unsicher zu dem beige Uniformierten hinüber. Im Auspacken seiner vorgefertigten Joints ist Lewis zaghafter, als es sein breiter Nacken und der rasierte Schädel vermuten lassen. Überhaupt täuscht der erste Eindruck: Was da so bullig auf einen zukommt, hat einen ziemlich zarten Kern. Das gilt für Lewis wie für die gesamte Band, und für das neue, mittlerweile Millionen Mal verkaufte dritte Album „Break The Cycle“ sowieso. Die Kritik zieht für Staind immer wieder die proppenvolle Schublade Nu Metal auf; eine hilflose Geste, um diese gewaltige Mischung von Emotion und Schwere in den Griff zu bekommen. Natürlich, natürlich: Der harzige Bass von Johnny April erinnert an Korn, Mike Mushoks Moll-Gitarren sind Creed meets ErnoCore, Drummer Ion Wysocki scheppert dramatisch, und Aarons Gesang ist so aggressiv wie pathetisch. Knappe Songtitel schleudern einem innere Qualen entgegen: „Suffer“, „Pressure“, „Waste“, „Crawl“, „Suffocate“. Wer jetzt noch nicht am Boden liegt, den schafft das Artwork mit gekreuzigten Barbies (auf dem selbst verlegten Debüt „Tormented“), bösen Clowns (auf „Dysfunction“) und den halbgotischen Sturmeshöhen auf „Break The Cycle“.
Aber der erste Eindruck täuscht – nach dieser Dampfwalze aufstehen heißt bei Staind: Mut, Kraft und Hoffnung schöpfen. Es sind die halbakustischen, filigranen Passagen, die im Gedächtnis bleiben. Zusammen mit der nüchternen Selbstanalyse der Texte prägen sie das Bild der Band mehr als alle Nu-Metal-Prahlerei: Das sind doch eigentlich ganz Nette. Und guck mal, denen geht es genau so scheiße wie mir. Staind treffen einen Nerv: Kaum eine andere Band spricht zur Zeit so deutlich die Seelennot amerikanischer Heranwachsender an, in deren liebsten Shopping Mails und Hreizeitparks ein Gespenst umgeht – eine Leere, die gegen Konsumgewohnheiten resistent geworden ist. Alles so schön bunt hier! Aber es sind nur Oberflächen, an denen die Kids ihre Nasen platt drücken: „I’m on the outside / I’m looking in“, singt Aaron Lewis, „1 can see through you / See your true colors / Cause inside you’re ugly / You’re ugly like me…“ Wenn er (wie hier im Song „Outside“, einem heimlichen Hit der Family-Values-Tour mit Limp Bizkit und Korn) von seiner Entfremdung spricht, schlagen Lewis die Herzen entgegen.
Die Fans identifizieren sich mit Aarons Seelenstrip: „Ich höre das oft, dieses ‚Das hast du für mich geschrieben, Mann!‘. Tut mir ja Leid,“ schmunzelt er, „aber ich habe es mich für geschrieben. Welche Erklärung hat Aaron dann dafür, dass sich so viele in seinen Texten wiederfinden? „Ich weiß es nicht wirklich. Ich weiß nur, dass das, was ich sage, ehrlich und ungekünstelt ist. Ich erfinde nichts; ich sage nur, wie ich die Dinge sehe, und ich glaube, das spricht die Leute an.“ Muss wohl. Dabei hat die Entwicklung der 1993 gegründeten Band von der lokalen Covercombo aus Springfield, Massachusetts, zur US-Nummer 1 die Musiker selbst überrascht.
Dass sich ihm bei Konzerten und Autogrammstunden Hunderte ergriffene junge Gesichter entgegen schieben, macht Aaron inzwischen heftig zu schaffen: „Weil sie mich auf einen Sockel heben und mir an den Lippen hängen und in jedes Wort so viel Bedeutung legen. Ich habe niemals behauptet, Antworten für sie zu haben“, hebt er ratlos die Schultern. „Ich bin fucked up wie alle anderen, und was ich sage, ist nicht besser als das, was andere zu sagen haben.“ Genau das aber ist es. Wenn der 29-Jährige sorgenvoll die Stirn in Falten legt, aus dunklen Augen warm und wach in die Welt schaut, wird klar, welche Botschaft die Kids hier hören. Frei nach den Bremer Stadtmusikanten: Komm, etwas Besseres als den Tod können wir wirklich überall finden.
Dazu gehört auch die Selbsttherapie, der sich die Band, Texter Aaron voran, über ihre drei Alben hindurch unterzogen hat. „Tormented“, das Debüt von 1996, das derzeit nur über die bandeigene Website zu erwerben ist, zeigt sie noch als unleidige Hardcore-Kotzbrocken. „Das war eine Folge dessen, wie ich mich zu dieser Zeit fühlte,“ erinnert sich Aaron. „Bei Tormented‘ war ich ein absolutes Wrack, das sich selber nicht verstand. Ich war in einer Art Selbstschutz-Modus, bei dem ich alles um mich herum abgeblockt habe, um es überhaupt durch den Tag zu schaffen.“ Während eines Support-Gigs kam der erste Kontakt mit Limp Bizkit-Vorturner Fred Durst zustande – und ließ weiß Gott zu wünschen übrig: Der fromme Mann wollte nämlich keine Band als Vorgruppe, deren CD-Artwork das Kruzifix frivol missbraucht.
Dann gefiel ihm aber doch, was er da auf der Bühne sah und hörte, und Staind hatten einen Freund fürs Leben gewonnen. Und den Majordeal dazu. Bei „Dysfunction“ (1999) fungierte Durst denn auch gleich als Koproduzent und Gastsänger – ein Album, auf dem Aaron den Kopf aus dem Selbsthass hebt: „Zu dieser Zeit hatte ich akzeptiert, dass ich ein wenig verkorkst bin.“ Entsprechend selbstironisch stellt sich die Band im Booklet dieser CD dar: als groteske Freaks einer Zirkusshow, Holzbein und Verwachsungen inklusive. Zwei lahre später sind die Krücken abgelegt, und Staind gehen aufrecht im Zitronenhagel des Lebens: „‚Break The Cycle‘ handelt davon, die Teufelskreise zu durchbrechen, die einen am Boden hallen. Wenn du erwachsener wirst, ändert sich dein Blickwinkel,“ so Aaron, „und du lernst mit der Zeit, nicht immer nur nach innen zu blicken.“
Wer in „Break The Cycle“ nun den versöhnlichen Abschluss der Staind-Selbsthilfetrilogie sieht, liegt falsch. Das Album hat Orkanstärke. Es enthält immer noch genug Wut, um einen gegen die Wand zu blasen. Und es wird abgerechnet: Mit den Eltern, die nie Zeit für einen hatten (siehe „Fade“ und „ForYou“), mit der Gesellschaft, die lügt, bevormundet und unterdrückt („Open Your Eyes“, „Suffer“), und mit der eigenen Feigheit. „Fade“ wendet sich an Aarons Mutter, die ihm „ein wirklich anschauliches Beispiel gegeben hat, wie man es nicht machen sollte. Ich weiß, dass sie ihr Bestmögliches getan hat. Aber für mich war das schlecht genug, um es selber anders machen zu wollen.“ Das Stück „Waste“ erzählt eine wahre Geschichte: Die Mutter eines Fans, der sich umgebracht hatte, stand eines Tages vor dem Bandbus. In den Sachen ihres Sohnes hatte sie Tickets für das Staind-Konzert gefunden.
Auch die Single „It’s Been Awhile“ ist als Blick in den Spiegel eine Übung in Gewissenserforschung, die weh tut. So schonungslos der Inhalt, so radiofreundiich klingt diese Ballade, und die Billboard-Charts danken es. Dabei hat das Stück aus Aarons Akustikrepertoire schon einige lahre auf dem Buckel, stammt es doch aus jenen Zeiten, da er tingelte: „Das habe ich lange gemacht, vor und während der ersten fünf lahre mit der Band. Wir haben jedes Wochenende gespielt, und alle Einnahmen sind sofort wieder in den Topf zurückgeflossen. Aber von irgendwas musste ich ja auch leben, also habe ich als Landschaftsgärtner gearbeitet, als Koch, Tellerwäscher… und eben auch mit der Akustikgitarre in Kneipen und Clubs gespielt, an mehreren Abenden in der Woche.“
Leise, hymnisch und zurückgenommen sein zu können, wo andere die Eishockeymasken aufsetzen und brettern, gehört zu den Stärken von Staind. Auch wenn der Sänger in dieser Dynamik keine Kunst sieht: „Jeder kann nach sechs Monaten Gitarrenunterricht ‚Outside‘ und ‚It’s Been Awhile‘ spielen. Die Nummern sind unglaublich simpel, und dadurch funktionieren sie. Mit nur drei oder vier Akkorden. Bei beiden Liedern bestehen der Refrain und die Strophen im Grunde genommen aus den selben Akkorden, ganz leicht verändert. Ich bin ein Sänger, der Gitarre bloß zum eigenen Back-up spielen kann,“ wiegelt er ab, merkt aber, wie unecht das klingt: „Na gut, auch wenn ich mich nie richtig vom Oberhals der Gitarre wegbewege – mit diesen rudimentären Kenntnissen kann ich immerhin 70 bis 80 Prozent der Rockgeschichte spielen.“ Überhaupt: Schluss mit der falschen Bescheidenheit. Spätestens hier ist es Zeit anzumerken, dass sich Aaron auch in anderer Hinsicht von den Kollegen der Testosteron-Liga unterscheidet. Statt an den frühen Mannbarkeitsritualen des Schulsports teilzunehmen, belegte er das Fach Chorgesang und lernte Goldschmied. Da ist er dann wieder, der verletzliche Junge, der Gedichte schrieb.
Gerade jedoch hält ersieh hustend an dem mittlerweileglimmenden Joint fest. „Meine Musiklehrerin wäre so sauer auf mich,“ prustet er, „weil ich mich nicht einsinge, keine ordentlichen Techniken anwende, sondern einfach rausgehe und von Null auf 150 Meilen beschleunigt auf die Bühne aufschlage. Der Chor hat mir eine viel umfassendere Wertschätzung für Musik als Ganzes vermittelt. Von Klassik bis zum Death Metal, und das ist ja wohl das ganze Programm!“ Zwischen Hustenattacken gibt der Staind-Frontmann davon überzeugende Kostproben und schwingt kurz von „Carmina Burana“ zu Slayers „Angel Of Death“, bevor er wieder ernst wird. „Das Schreien habe ich übrigens nebenbei gelernt, und ich finde, es hat sich seit der ersten Platte dramatisch verändert. Ich weiß nicht, ob es an dem ständigen Missbrauch liegt, den ich meiner Stimme zumute, dass mein Geplärr heute so anders klingt, oder ob ich irgendwann herausgefunden habe, wie es richtig geht.“ Stimmmissbrauch ist derzeit noch an der Tagesordnung, denn Staind haben in den letzten beiden Jahren eine US-Tour nach der anderen absolviert und dürften bei dem anhaltenden Erfolg von „Break The Cycle“ die eigenen Betten wohl noch lange nicht zu sehen bekommen.
Der Parcours Bus-Halle-Bus-Hotel-Bus indes nervt Aaron nicht zu knapp. „Ich bin wirklich müde von der Straße,“ seufzt er, aber: „Wir sind auch daran gewachsen, so lange auf Tour zu sein. Zu sehen, wie sehr manche Songs das Publikum bewegen.“ Denn an den Konzertabenden hält die „Teenage Angst“ wenigstens für ein paar Stunden den Mund, und die Sicherheitskorridore, die Bevormundung durch Milchbar und Mom’n’Dad vor der Tür sind zumindest zeitweise vergessen.
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