I’m a loser, Baby!
Er leidet. Mal wieder. Unter der unerfüllten Liebe zur Frau aus dem Handyladen, unter Hamburg, natürlich. Nach "Sternstunden der Bedeutungslosigkeit" legt Rocko Schamoni mit "Tag der geschlossenen Tür" seinen neuen Roman über den netten Verlierer Michael Sonntag vor. Ein Auszug.
Ein weiterer strahlender Kristall im Diadem
Am Morgen sitze ich im Bett und starre auf das neue, komplett aufgeladene Handy. Das Handy von Marion Vossreuther. Der direkte Draht zu Marion Vossreuther. Sollte ich bei ihr anrufen und mich darüber beschweren, dass mich niemand anruft?
„So haben wir aber nicht gewettet, Frau Vossreuther, schließlich habe ich Ihnen das Handy abgekauft, damit ich Kontakt zu Menschen bekomme, aber jetzt ruft mich keiner an.“
„Entschuldigung, aber was kann ich denn dafür, wenn Sie keinen Menschen kennen?“
„Zumindest Sie hätten doch mal an mich denken können. Damit hatte ich eigentlich gerechnet.“
„Wieso sollte ich ausgerechnet an Sie denken? Ich habe noch tausend andere Kunden.“
„Ach so. Das wusste ich nicht. Ich dachte, das zwischen uns wäre nicht so profan. Habe ich mich wirklich in Ihnen getäuscht?“
„Verschwinde endlich aus der Leitung, du durchgeknallter Psycho.“
„Marion ? … Hallo … ? … Marion ?“
Aber ich trau mich nicht, sie anzurufen. Ich wüsste nicht, wie ich das Gespräch beginnen sollte.
Also stehe ich auf und besinne mich, denn ich muss meine Kolumne schreiben. Das ist nicht einfach, vor meinem Fenster wird gebaut. Kräne hieven Baumaterialien durch die Luft, Lastwagen transportieren Beton und Kalksandsteine herbei, Fräsen kreischen, Bauarbeiter schreien. Andauernd wird in dieser Stadt gebaut. Diese Stadt wird permanent umgebaut. Diese Stadt wird nie fertig gebaut. Die alte Stadt wird gegen eine neue ausgetauscht. Und das, was gebaut wird, wird von vornherein auf Zeit gebaut. Um, wenn es abgeschrieben ist, wieder überbaut zu werden. In ein paar Jahren werde ich in einer anderen Stadt leben, ohne umgezogen zu sein. Und nach meinem Ableben wird von der Stadt, in der ich gelebt habe, nichts übrig geblieben sein, weil sie nur vorübergehend aufgestellt wurde, um sich zu rechnen und dann wieder entfernt zu werden. Alles Stehende verdampft. Unsere Zeit wird nicht feststellbar sein, wird herausradiert sein aus den Geschichtsbüchern, weil nichts als Beweis bleibt, nicht einmal Briefe, seitdem es E-Mails gibt.
Das meiste von dem, was gebaut wird, stößt mich ab. Architektur als Kunst der permanenten Belästigung. Der bildenden Kunst kann man entgehen, schließlich muss man nicht in die Galerien und Museen pilgern. Der Architektur kann man sich nicht entziehen, denn sie bestimmt das Bild der Stadt um uns herum. Nirgendwo entkommt man ihnen, diesen Stein, Glas, Stahl und Beton gewordenen Großmannsträumereien, diesen faden Visionen einer transparenten und wohlorganisierten, aufgeräumten, geschmacklich abgestimmten und durchdesignten Businesswelt, diesen Festungen der geschäftsweltlichen Tristesse, diesen Bollwerken der Akkumulation.
Aber ich darf mich nicht ablenken lassen. Ich muss meine Kolumne schreiben.
Man will ein neues Hochhaus am Hafen bauen. In einem Internetforum findet das jemand „richtig klasse“. Dennoch dauert es Jahre, bis das Projekt umgesetzt wird. Aber dann geht es los. Mehrere Baufirmen werden beauftragt. Sie machen sich bereit, und am Stichtag fangen sie an zu bauen. Leider kommt bereits am ersten Tag ein Bauarbeiter ums Leben. Er rutscht auf einem nassen Gerüstbrett aus und ertrinkt unbemerkt in feuchtem Zement. Nur ein Fuß schaut noch aus der Wand. Das ärgert den Vorarbeiter, weil ein schlechtes Licht auf die Baufirma fällt, aber er kann den Arbeiter nicht mehr bestrafen. Man sägt den Fuß ab und arbeitet weiter. Die Bauarbeiten gehen zwar voran, aber störend sind die häufigen Unfälle. Fast jeden Tag kommt es zu unangenehmen und ungeplanten Pausen durch Todesfälle. Nach zwei Wochen ist die Belegschaft gereizt und liefert nur noch schlechte Arbeit ab, jeder hat Angst, man achtet mehr auf die eigene Sicherheit als auf die Qualität des Baus. Dem Auftraggeber und Investor fällt die Schlampigkeit auf, die Wände sind an einigen Stellen schief, die Böden uneben, an vielen Stellen gibt es Blutflecke. Auch Knochen liegen herum. Nach einem Monat ist das Gebäude vier Meter hoch, und neun Arbeiter sind tot. Jetzt wird der Investor richtig sauer, er klagt die Stadt an. Die Ansprechpartner aus den städtischen Gremien sind äußerst erregt und planen einen Anschlag auf den Investor. Als er abends im Kreis seiner Familie in seiner Villa in Klein Flottbek sitzt, schießen mehrere Mitglieder der städtischen Gremien mit einer Panzerfaust auf das Haus. Der Investor und seine Familie kommen dabei zügig ums Leben, der Nachlass geht an die Stadt. Ein neuer Investor übernimmt das Projekt. Nun können die Bauarbeiten weitergehen. Alles läuft ungestört, es kommt nur noch selten zu Todesfällen. Nach zwei Jahren wird das Vorhaben zufriedenstellend abgeschlossen. Das Haus ist über siebzig Meter hoch und bietet auf mehreren Tausend Quadratmetern elegante Wohnflächen und großzügige Büros mit einem atemberaubenden Ausblick über den Hamburger Hafen. Die zweistöckigen Lofts haben eine Größe von bis zu 400 Quadratmetern, sind mit edlen Materialien ausgestattet und von Topdesignern eingerichtet. Das Haus trägt den Titel „Kristall von Hamburg“, was viele Wohnungsinteressenten anzieht. Leider kommen der neue Investor und einige Arbeiter bei der Einweihungsfeier durch herabfallende Gerüstteile ums Leben. Aber Hamburg hat ein weiteres neues Wahrzeichen.
Ich lese wiederholt den Text durch und bleibe ohne eine Meinung dazu. Die entscheidende Frage in der Kunst ist: War das Risiko hoch genug, das ich eingegangen bin? War die Fallhöhe groß genug? Ich schicke den Text ab und hoffe auf eine Reaktion von Susanne.
Die Angst vor Sonntagen
Ein weiterer beängstigender Sonntag zieht ins Land. Sonntag im Sommer bedeutet in dieser Stadt, dass die Massen auf komplett aberwitzigen Veranstaltungen dem Irrsinn huldigen. Sich dem absoluten, kollektiven Schwachsinn hingeben. Gemeinsam zu Abertausenden das Gehirn ausschalten. Dem dunklen Fürsten der Sinnlosigkeit bereitwillig wie die Lemminge ins Maul springen.
Ich wache auf von dem schweren Brummen der Motoren und weiß: Es ist mal wieder so weit, Gnade uns Gott – Mogo. Motorradfahrergottesdienst. Eine der grausamsten Großveranstaltungen Hamburgs. Ab morgens um zehn sammeln sich Zigtausende von Motorradfahrern aus ganz Deutschland in der Ost-West-Straße, parken dort ihre Motorräder und lauschen den verstärkten Stimmen eines Pfarrers und diverser anderer Redner, beispielsweise von Motorradzubehörherstellern. Einen solchen Aufruf, ein solches Aufeinandertreffen kann ich nicht ignorieren. Hier zeigt sich unsere Gesellschaft, wie sie wirklich ist. Wie jedes Jahr zu diesem Anlass kleide ich mich sorgfältig, mit einer deutlichen Tendenz zu Jeansmaterialien, um mich in der Masse zu assimilieren. Auch besitze ich noch ein paar alte Cowboyboots, die mir – einst vom Sperrmüll gerettet – jedes Jahr für einen Tag ihren treuen, tarnenden Dienst erweisen. Ich stecke mir eine Billigspiegelbrille ins Haar, dann verlasse ich das Haus, bereit für den totalen Schwachsinn. Seid ihr bereit für den totalen Schwachsinn? Achtzig Millionen: Jaaaa!!! Heil Mattock!
Ich komme zur Ost-West-Straße und stelle fest, dass der Mogo bereits in vollem Gange ist. Etwa zwanzigtausend Motorräder haben die komplette Straße zugestellt, man kann weder Anfang noch Ende der Veranstaltung erkennen, die meisten Fahrer gehen umher und schauen sich die Ausstellungsstücke der anderen an. Aus dem Hintergrund tönt blechern von einer beim Michel aufgebauten Anlage das protestantisch und gleichzeitig modern wirken wollende Geplapper des Pfarrers, der zu diesem Treffen das Thema „Sicherheit“ gewählt hat.
… und so stellt sich für uns die Frage: Freiheit oder Sicherheit? Wir können diese Frage ziemlich klar beantworten: Freiheit UND Sicherheit! Wir möchten unsere Freiheit nicht durch den Begriff Sicherheit einengen lassen, aber es ist für uns trotzdem klar, dass wir uns im Auto anschnallen und auf dem Motorrad einen Helm aufsetzen. Und es ist uns auch klar, dass unsere Freiheit da aufhört, wo die Sicherheit der anderen anfängt. Denn da, wo wir uns frei fühlen, müssen sich die anderen trotzdem sicher fühlen können …
Der mikrofonierte Protestant salbadert monoton und blechern über die Szenerie, ich beobachte die Gesichter der belederten Zuhörer, die meisten wirken müde und gelangweilt, einige versuchen, den öden Ausführungen zu folgen und ihnen einen tieferen Sinn abzugewinnen, was ihnen aber nicht zu gelingen scheint. Was redet der Mann da eigentlich? Und warum bin ich hier? Warum sitze ich hier stundenlang in voller Montur auf meinem Motorrad in einer Art Gottesstau, höre mir sinnloses Gewäsch an und fahre dann wieder nach Hause? Ein Sprecher der Firma Römer betritt die Kanzel.
Liebe Christen, liebe Motorradfahrer. Mein Name ist Bernd Hanneweil, ich bin Produktionsleiter bei der Ihnen bestens bekannten Firma Römer. Ich finde es ganz klasse, dass das Thema Sicherheit auf diesem Gottesdienst auch mal eine Rolle spielen kann. Wir bei Römer als Helmhersteller machen uns zu dem Thema ja schon seit Jahren Gedanken und haben einige nützliche Inventionen vorzustellen …
Er beginnt über die Vorzüge der neuesten Generation seiner Römerhelme zu berichten. Einige der Anwesenden erwachen aus ihrer Agonie. Technik – endlich was Spannendes, dem es sich zu folgen lohnt. Einer zieht einen Notizblock und schreibt sich Begriffe auf. Für ihn hat sich der Mogo auf jeden Fall doch noch gelohnt. Ich überlege, ob ich mich einfach auf eines der freien Motorräder setzen soll, um auch dabei zu sein. Um zu fühlen, was jene fühlen. Um einen tieferen Sinn in ihrem Handeln zu entdecken. „Das kannst du nur verstehen, wenn du mal dabei gewesen bist!“ Wenn mich Blicke treffen, nicke ich jovial zurück: Wir verstehen uns – wir sind aus demselben Holz geschnitzt, uns schweißt ein unsichtbares Jeansband zusammen – wir sind Biker, und wir glauben an Gott! Manchmal nickt man mir zu, einer wirft mir ein Victoryzeichen zu, ich erwidere es und fühle mich nach einer Weile ganz aufgehoben unter diesen urigen Individualisten. Unter diesen Spießern in Leder. Brüdern auf Böcken, Schwestern der Sonne und der Freiheit. Kutte und Jägerzaun. Energieanlagenelektroniker und Harley-Indianer. Ich bräuchte nur die Straße runterzugehen und den jeweils Äußersten von ihnen anzustoßen, dann würde der gesamte Motorradfahrergottesdienst nach links umkippen. Ein Heidenspaß für alle. Und zum Abschluss dürften sie mich einfangen und vor dem Michel teeren und federn.
Nach etwa vier Stunden sind alle Redner mit ihren inspirierten Beiträgen durch. Wie auf ein Zeichen lassen die Christen ihre Maschinen an und rücken nach und nach ab. Gottes Legionäre auf ihren eisernen Pferden. Es dauert nicht lange, und der ganze Spuk ist vorbei, die Ost-West-Straße ist leer, nur ein Haufen Müll bleibt zurück. Das ist, was die Dörfer der Stadt zu schenken haben. Einen Haufen Müll und Exkremente. Als Beweis ihrer Gegenwart. Mit schönen Grüßen vom Land. Ihr glaubt, ihr seid wohl was Besseres. Hier habt ihr, damit ihr euch an uns erinnert. Einen Haufen Müll und Exkremente. Die Straße staunt einen Augenblick über das ihr Angetane und liegt im Schock leer und still da. Straßen glauben nicht an Gott, Straßen sind bescheidene Pragmatiker. Man hält sie für unterwürfige Diener, Sohlenlecker, man verachtet ungerechterweise ihr tiefes Wissen, ihren ungeheuren Erfahrungsschatz. Sie haben schon den größten Gestalten der Geschichte zwischen die Beine geschaut. Aber manches erstaunt selbst sie. Dann öffnen Polizisten die Barrieren, und der endlose Strom der Gottlosen ergießt sich erneut über das Terrain.
Rocko Schamoni Tag der geschlossenen Tür Piper Verlag
Buchkritik S. 119