Im Herzen der Finsternis


Was liest jemand wie Nick Cave? Welche Platten hört er? Ein Besuch in seinem Arbeitszimmer bringt Licht ins Dunkel. von ANDY GILL

Hat man seinen Ruf als Rock n Roll f Animal mit desaströsem Hang zum Exzess im Hinterkopf, mag es ein wenig überraschen. Aber Nick Caves Leben in London verläuft inzwischen in sehr geordneten Bahnen, geradezu diszipliniert. Vorbei die durchgemachten Nächte und die drogenbedingten Auszeiten – sie wurden durch geregelte Arbeitszeiten ersetzt. Cave steht bereits um sechs Uhr morgens auf, verbringt den Vormittag mit Lesen und Musikhören, bevor er gegen Mittag in sein Arbeitszimmer in der Nähe von Chelsea Harbour aufbricht, wo er bis ungefähr sechs Uhr abends an neuen Songs feilt, um dann wieder nach Hause zu kommen. In der Mitte des Raumes steht der Steinway-Flügel, in den Ecken stapeln sich Kartons, die Regale an den Wänden ächzen unter Hunderten von Büchern, überall liegt irgendwelcher Krempel herum. „Hier kommen eigentlich nie Besucher herein“, murmelt der 44-Jährige entschuldigend, „hier arbeite ich.“

Auf dem Flügel liegen bündelweise Songskizzen, der Schreibtisch am Fenster droht unter einer Flut von Büchern zusammenzubrechen, einzig eine Schreibmaschine und ein iMac ragen noch heraus. Aber es sieht nicht danach aus, als ob Cave ihn oft benutzen würde. Er ist nicht der Typ für modernes Spielzeug, wie er überhaupt mit der modernen Well nicht viel anfangen kann. „Es ist mir klar, dass ich keinen einzigen modernen Schriftsteller und keine aktuelle Band genannt habe“, wird er am Ende des Gesprächs zugeben. „Ich finde zu einem Großteil moderner Musik einfach keinen Zugang. Ab und an kaufe ich mir auch ein paar neue Platten, aber jedesmal bin ich dann total enttäuscht. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich diesen Song gerne selber geschrieben hätte, dann weiß ich, dass er mir gefällt. Aber das kommt nicht sehr oft vor. Manchmal glaube ich, dass es an mir liegt und ich einfach ein Alter erreicht habe, wo einen nichts mehr beeindruckt, wo einen alles kalt lässt.“ Immerhin haben ihm die letzten Radiohead-Alben gefallen, obwohl er mit ihren frühen Sachen nichts anfangen kann.

Caves Musikgeschmack pendelt zwischen kathartischem Lärm Marke The Pop Group und der Ernsthaftigkeit eines Leonard Cohen, von dem er übrigens einen alten Koffer neben dem Schreibtisch stehen hat. „Er hat ihn Dominique Issermann geschenkt, die das Cover für ,1’m Your Man 1 fotografiert hat, auf dem Leonard eine Banane isst“, erzählt Cave, „und sie hat ihn wiederum meiner Frau geschenkt. So ist er letztendlich bei mir gelandet. Aber es waren leider keine Songtexte geschweige denn alte Rasierklingen drin. Aber er leistet mir trotzdem hier Gesellschaft. Das neue Cohen-Album finde ich übrigens sehr schön. Ich habe es zusammen mit dem neuen Dylan-Album geHausbesuch

kauft – zwei großartige Platten.“ Nick Cave entdeckte Dylan relativ spät für sich – erst als „Slow Train Coming“ herauskam – und schätzt generell Dylans spätere Werke mehr als die Alben aus den Sechzigern. „Ich finde es sehr spannend, wenn manche in einer späten Phase ihres Schaffens nochmal richtig starke Platten machen, ihr Ding durchziehen und nicht irgendwelche Erwartungen bedienen. Ich finde das auch viel faszinierender als die Sturm-und-Drang-Phasen dieser Leute – ich kann mit den späten Sachen von Elvis viel mehr anfangen als mit seinen Frühwerken. Und das geht mir mit vielen Leuten so.“

So auch mit dem Maler Giorgio De Chirico und seinem seltsamen Bruder Savinio, den Cave sogar noch mehr schätzt. Die meisten, die De Chirico kennen, haben seine frühen quasi-sunealistischen Bilder im Kopf, aber Cave zieht die kräftigen Portraits und Landschaftsbilder aus seiner späten Schaffensphase vor, die – wie er zugibt – ein bisschen an die Bilder erinnern, die beim Italiener um die Ecke hängen. „Ich habe mich immer schon für die Kunst interessiert, die von anderen als schwach abgetan wird, was bei den späten Sachen von De Chirico durchweg der Fall ist. Die meisten glauben, dass er zum Schluss ein bisschen neben der Kappe war. Aber meiner Meinung nach haben seine späten Bilder immer noch eine unglaubliche Kraft.“ Genau wie die seines erklärten Lieblingsmalers Louis Wain, dessen seltsame Katzen-Bilder seit seinem Tod 1939 im Wert steigen. Nick Cave besitzt 15 von ihnen. „Er war zu seiner Zeit ziemlich angesagt, sogar die Queen hat ihn besucht, doch dann kamen seine Bilder aus der Mode. Er war schizophren und endete in der Klapsmühle, wo er weiter seine Katzen gemalt hat, obwohl die immer symptomatischer für seine Psychose wurden.“ Nick Cave findet ein paar Beispiele dafür in einem Buch. Die Bilder harmloser Kätzchen werden im Verlauf der Zeit zu abstrakten, psychedelisch anmutenden Gebilden, die immer weniger mit den Ursprungsmotiven zu tun haben und Titel wie „The Fire OfThe Mind“ tragen. „Sie werden oft als Beispiele für den geistigen Verfall von Künstlern herangezogen“, sagt Cave. „Aber ich mag auch die frühen Sachen. Es sind unglaublich schöne Bilder, so lebendig, so kraftvoll und lustig.“ Er reagiert überrascht auf meine Meinung, dass die Leute so was heutzutage als Kitsch bezeichnen würden. „Wirklich?

Das ist mir nie in den Sinn gekommen. Ich finde sie sehr lebendig, sehr dynamisch. Ich mag sie sehr gerne; diese Bilder gehören definitiv zu den wertvollsten Dingen, die ich besitze.“

Filme spielen im Kosmos von Nick Cave keine so große Rolle, obwohl Jose Ferrer als „Cyrano De Bergerac“ und Charles Laughton als „Glöckner von Notre Dame“ bei ihm als Teenager einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben und seine Sympathie für Außenseiter geweckt haben. Er mag „Im Zeichen des Bösen“ und „Die Lady von Shanghai“ von Orson Welles, seltsamerweise nicht „Citizen Cane“ – und er ist ein großen Fan von Sam Peckinpah, dessen Einfluss auch in „The Proposition“ deutlich wird, einem Filmskript, das Cave vor kurzem für John Flillcoat („Ghosts OfThe Civil Dead“) und Werner Herzog geschrieben hat. Mit aktuellen Sachen kann er weniger anfangen, „Heat“ und „Insider“ von Michael Mann fallen ihm ein, auch „Magnolia“ von Paul Anderson hat ihm gefallen. „Ich mag, wie alles immer trauriger wird. Im Mittelteil verfallen alle zunehmend in Agonie, sitzen weinend herum. Das ist man von Hollywood nicht gewohnt. Längere traurige Abschnitte sind nicht gefragt. Du siehst jemanden für zwei Sekunden weinen, und dann sind wieder alle fröhlich. Ich mochte auch die Stelle, als es Frösche regnet, das hatte so etwas Apokalyptisches. Aber grundsätzlich ist Kino die Kunstform, mit der ich mehr und mehr abschließe, anstatt mich ihr zu öffnen.“

Deutlich mehr Einfluss auf Caves Werk haben die Schriftsteller, deren Bücher reihenweise in den Regalen an den Wänden seines Büros stehen. Obwohl er nie studiert hat, verfugt Cave doch über ein sehr fundiertes Wissen in Sachen Literatur. Sein Vater, ein Englischlehrer, machte ihn bereits sehr früh mit den wichtigsten Werken vertraut. „Das war eine außergewöhnliehe Erfahrung für mich‘, erzählt er, während er durch die Ausgabe von lames Joyces „Ulysses“ blättert, die seinem Vater gehörte. „Er hat mir Nabokov und Joyce vorgelesen und gesagt: ‚Das ist Literatur, darum geht es.‘ .Ulysses‘ kannst du aufschlagen, wo du willst, es ist immer sensationell. Genauso wie ,Finnegans Wake‘.“ Cave hat sich aus seiner Jugend einen glühenden Enthusiasmus für Bücher bewahrt – je obskurer, desto besser. „Kennst du das?“, fragt er ganz aufgekratzt und wedelt mit einer zerlesenen Ausgabe des „Okulten Tagebuchs“ des skandinavischen Dramatikers August Strindberg herum. „Es ist eines der faszinierendsten Bücher überhaupt. Ich habe im Vorfeld unseres heutigen Gespräches versucht, Sachen herauszusuchen, die einen maßgeblichen Einfluss auf mich hatten – auch wenn ich nie wirklich festlegen kann, wo und wie sie mich nun genau beeinflussten. Es ist , ein Tagebuch, in dem Strindf berg eine Beziehung zu einer [ Frau namens Harriet Bowes be-I schreibt, vom dem Tag an, als er [sie zum ersten Mal trifft, bis hin Fzu ihrem Tod. Es ist das ? Traurigste und zugleich Kränkeste, was ich je gelesen habe. Ich liebe es. Er leidet an Krebs, was er aber als Liebeskummer deutet. Er leidet unter Halluzinationen, und alles, was er sieht, interpretiert er als Zeichen. Diese Frau hat ihn verlassen, und in seinen Wahnvorstellungen trifft er sie jede Nacht in einer anderen Sphäre. Es ist überragend. Ich glaube nicht, dass Strindberg vorhatte, es jemals zu veröffentlichen, es ist so quälend, ein Abstieg in die Abgründe der menschlichen Seele.“

Fühlt Cave sich iu solchen Dingen hingezogen? „Yes, I’m happy to be sad. Vor allem was Literatur und Kunst angeht.“ Und Horror. In den Bücherregalen finden sich auch reichlich Kriminalromane. Kein Wunder, sind doch Verbrechen und Gewalt ein fester Bestandteil der Cave-Songs. Heute lese er nicht mehr viel in dieser Richtung, sagt Cave, aber schätze die bitteren, brutalen Romane von Jim Thompson, Derek Raymond und lames Ellroy. „Ich denke, dass diese Autoren sich sehr genau mit allen Aspekten von Gewalt auseinander gesetzt haben. Das hat mich immer sehr beeindruckt. Ich hatte auch Spaß daran, auf .Murder Ballads‘ ein paar blutige Details unterzubringen, die eigentlich gar nichts da verloren hauen, weil es mehr um Gewalt im Allgemeinen gehen sollte. Bei Jim Thompson gefällt mir, dass er aus der Sicht der Verbrecher schreibt und den Leser auf deren Seite ziehen will. Er verhält sich immer loyal gegenüber den Charakteren, er steht hinter ihnen, egal was passiert, und man hofft sogar, dass sie davonkommen, weil er den gesetzestreuen Rest der Welt so grotesk beschreibt, dass du automatisch zu den vermeintlichen Psychopathen und Außenseitern hältst.“

Gemessen an den zahlreichen Werken von WH. Auden, Philip Larkin und A.E. Housman, die überall herumliegen, zeigt Nick Cave herzlich wenig Interesse an Poesie. „Die meisten Gedichte sind in meinen Augen nichts als eine sinnlose Aneinanderreihung von Wörtern. Mir fehlt die Geduld für so was, ich finde einfach keinen Zugang. Es gibt nur ganz wenige, mit denen ich etwas anfangen kann. Die Gedichte von Thomas Hardy und Philip Larkin zum Beispiel. Er ist großartig. A.E. Housman ist auch ein überragender Dichter; seine Sachen finde ich wunderschön, sie ächzen, jedes seiner Gedichte ist ein Seufzer. Den großen Einfluss auf meine Arbeit aber hat eindeutig W.H. Auden. Ich lese seine Sachen sehr oft, manchmal vielleicht zu oft. Dann höre ich mir meine Songs an und denke, dass zuviel von Auden drin ist.

Ich stelle es mir aber generell sehr schwierig vor, Gedichte zu schreiben. Ich finde auch das Schreiben von Songs unglaublich schwer. Bei Romanen hast du eine zentrale Idee, die du über 300 Seiten ziehen kannst. Wenn du aber einen Song fertig gestellt hast, musst du jedesmal wieder ganz von vorne anfangen, musst dich wieder mit einem leeren Blatt Papier hinsetzen. Deswegen brauche ich auch diese ganzen Einflüsse. Sie treiben mich in neue Songs.“ Auf der musikalischen Seite hat ihn der heisere, ungestüme Rock der Saints am meisten geprägt. „Die letzten zwei Jahre, bevor ich Australien verlassen habe, habe ich nur für Saints-Konzene gelebt. Das waren die unfassbarsten Shows, die ich bis dahin gesehen hatte. Als ich sie zum ersten Mal sah, war das einer der Momente, wo man weiß, dass nichts mehr so sein wird wie früher. Sie kamen erstaunlicherweise aus Brisbane, das damals von einem ziemlich konservativen Klima geprägt war. Ihre Konzerte waren absolut nihilistisch. Purer Punk, keine Show, kein Gedöns, nur Hass und Brutalität. Eine unglaublich kraftvolle Musik.“

Als Cave mit The Birthday Party nach England kam, merkte er, dass die angeblich so vitale Punkszene in keiner guten Verfassung war. „Die meisten Bands waren eine einzige Enttäuschung. Mal abgesehen von The Fall und The Pop Group. Ihr ‚We Are All Prostitutes‘ ist für mich eine der größten Singles überhaupt.“ Eine weitere Band, die Nick sehr schätzt, ist Suicide. Vor allem die Shows des New Yorker lndustrial-Duos haben bei ihm einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Er erinnert sich auch noch gut an einen Soloauftritt von Suicide-Mitglied Martin Rev vor ein paar Jahren: „Wir haben zwei Stunden auf ihn gewartet, und dann hat er genau sieben Minuten gespielt. Er hat den Stumpfesten Drumbeat gespielt, den ich je gehört habe, aber so derartig laut. Das war das Lauteste, was ich je gehört habe. Dann hat er sieben Minuten auf seinen Maschinen rumgedroschen, anschließend stellte er sich für mindestens zehn Minuten an den Bühnenrand, die Arme zum Himmel gestreckt, den Kopf gebeugt, mit den Fingern das Peace-Zeichen machend, und hat den Applaus entgegengenommen.“

Eine ähnliche Erfahrung machte Cave bei einem Auftritt von Nina Simone: „Sie kam auf die Bühne, hat sich vorne hingestellt, die Hände zu Fäusten geballt und finster ins Publikum geschaut. Dann hat sie sich ans Klavier gesetzt, ihren Kaugummi rausgenommen, ihn unter den Flügel gepappt und losgelegt. Es war ganz anders, als ich es erwartet hatte, denn ihr Klavierspiel ist lange nicht so flüssig und schön, wie es früher mal gewesen sein muss. Aber am Ende des Konzertes war sie total verändert, ist herumgesprungen und hat die Leute geküsst. Es kommt sehr selten vor, dass Leute völlig in dem aufgehen, was sie tun. Und ich denke, das ist es auch, was diese Bands verbindet, die ich genannt habe: The Saints, The Pop Group, Nina Simone – das waren alles Konzerte, wo etwas ganz Besonderes abging. Du kannst so was nur ehrfürchtig betrachten.“ Wie bei den frühen Konzerten der Birthday Party? „Mag sein. Ich weiß es nicht. Ich war nicht dabei.“ Übersetzung: Wolfgang Hertel EU