Mit Hühnerherzen gegen Windmühlen: Der neue Indie-Rock und seine Protagonistinnen
Nach Jahren der Grabreden fand der Indie-Rock 2018 zu neuer Relevanz: Dank Mut zur Seltsamkeit, Punkrockern in Rosa – und vieler toller Frauen, die am sozialen Experiment „Band“ festhalten.
Das Jahr war noch keinen Monat alt, da kam Mark E. Smith, Chef der lange schon Institution gewordenen Band The Fall, unter die Erde. Keinen, dem Punk auch nur ein Fitzelchen bedeutet, konnte das kalt lassen. Der Obergrantler, knautschgesichtige Inkarnation des Unbequemen und Randständigen im Rock, kurz: der Pate aller, die irgendwie dagegen sein wollen – war nicht mehr.
Und als hätte der alte Grinch zum Abschied die Lichter im alten Indie-Land ausgeknipst, wurde im März auch noch das endgültige Ende des „NME“ bekannt gegeben – zu Glanzzeiten das Zentralorgan der britischen Pop- und dann vor allem eben der Indie(-Rock)-Kultur.
Der Tod alter Helden schien die traurige Begleiterscheinung zum Siechtum der Gitarrenmusik jenseits der Stadionrockzombies zu sein. So mausetot, wie Journalisten ihn gern schrieben, war Indie-Rock zwar nie; mächtig Relevanz eingebüßt hatte er dennoch. Seit Franz Ferdinand, die Arctic Monkeys und andere Bands der „Class of 2005“ den Indie in seine letzte goldene Ära geführt hatten, steckte Gitarrenmusik in der Identitätskrise. Sie wurde abgewatscht als reaktionäres Relikt, das kaum so gut zur Gegenwartsbespiegelung taugt wie Rap oder Deconstructed Club Music.
Aber man kann es eben auch so sehen: Indie-Rock bekam einen Denkzettel verpasst. Und das war, ehrlich, verdammt noch mal gut so. Denn gerade jetzt, vor der Drohkulisse der eigenen Bedeutungslosigkeit und weitgehend ignoriert von der aktuellen Trendforschung, schienen Gitarrenbands kollektiv zu ungekannter Lässigkeit und Eigensinn zu finden. Zu jener ehrlich gemeinten und nicht nur gut geposten Wir-gegen-den-Rest-Attitüde, die der Indie so lange vermissen ließ.
Seltsam und Sensibel
Anders als zu Zeiten des „The“-Band-Hypes um die Jahrtausendwende, als so ziemlich jeder Anfang-20-Jährige Julian Casablancas sein wollte, lässt sich im aktuellen Indie keine einheitliche Schule ausmachen. Am ehesten könnte man das Gewusel um den Südlondoner Pub The Windmill noch als eigenständige Szene ausmachen. Aber diese gibt beim besten Willen keinen gemeinsamen Sound her. Man muss nur die beiden bekanntesten Acts, die Slackerinnen von Goat Girl und das UK-Punk-Update Shame, nebeneinander legen. Indie ist endlich nicht mehr nur die Hit-and-run-Gitarrenmusik dünner Kerle mit Schüttelfrisuren, sondern auch der beunruhigende Pop der Insecure Men, angeführt vom Fat-White-Family-Sänger Saul Adamczewski.
Indie muss sich nicht in drei Minuten abspielen, sondern kann auch mal 40 Sekunden dauern, wie die Soundtrack-gleichen Interludes, die Goat Girl auf ihr Debütalbum zwischen Schrammelstücke und staubige Gun-Club-Americana packten. In diesem wunderbaren Seltsamkeits-Turn des „Indie“ verschwimmt der ohnehin wenig trennscharfe Begriff immer weiter.
Zugleich besinnen sich in Zeiten der Krisen viele junge Acts auf die Kraft des Punk und des Postpunk zurück. Aus dem deutschen Underground tönt es seit Jahren schon angefressen. 2018 veröffentlichten nun sowohl Die Nerven als auch die ihnen lose verbundenen Karies ihre bisher größten Platten – während in den USA War On Women und Thick, im Brexitgeplagten England Idles und eben Shame den Punk für die Zukunft rüsten.
Dabei stehen gerade Idles für eine spannende Entwicklung: Obwohl die Musik der Bristoler knüppelhart ist, gestehen sie sich selbst zu, es nicht zu sein. Sänger Joe Talbot widmete den tieftraurigen Song „June“ aus diesem Jahr seiner tot geborenen Tochter. Live bedankt er sich beim Publikum, wenn sich vor der Bühne kein männerdominierter Moshpit bildet.
Und schon im Video zur 2017er-Single „Mother“ kotzten sich Idles in rosafarbenen Anzügen und Kleidern über sexualisierte Gewalt aus. Und lieferten damit den Beweis, dass es zwar nicht unkompliziert ist, Punk-Ästhetik und destruktiven Machismo zu trennen – aber möglich.
Frauen retten den Laden
Überhaupt hat 2018 die Geschlechterverhältnisse im Indie endgültig auf links gedreht. Zu Zeiten des Punk-Urknalls waren weiblich besetzte Bands wie The Slits und X-Ray Spex noch eine Randerscheinung, die Riot Grrrls formierten Anfang der 90er zumindest schon eine Bewegung – nun aber, das wurde in diesem Jahr deutlich wie nie, scheinen Frauen den Laden zu retten.
Digitalisierung und gesellschaftlichem Wandel sei Dank entwickelt sich Indie-Rock sehr langsam, aber bestimmt vom sich selbst umkreisenden Männerbusiness zu jenem egalitären Ort, der er immer sein wollte. Und die Faszination für Schrammelei und Krachschlagen als Akt der Befreiung ist ungebrochen: Seit den frühen Strokes klang niemand so sehr nach „CBGB’s“ wie die Schwedinnen Dream Wife; Musikerinnen und (teils) frauenbesetzte Bands wie Soccer Mommy, Snail Mail oder Acht Eimer Hühnerherzen und Erregung öffentlicher Erregung aus Deutschland veröffentlichten gefeierte Platten. Oder haben sich etabliert, wie Hinds aus Spanien oder die Berlinerinnen Gurr, die furiosen Sheer Mag, Angel Olsen oder die US-Japanerin Mitski – noch immer eine der wenigen nicht-weißen Lichtgestalten des Genres.
Selbst in den virilen Spielarten des Rock laufen Frauen ihren Kollegen zusehends den Rang ab: Dem Quartett Thunderpussy aus Seattle gelang mit seinem Debüt eine herrlich überdrehte, aber stilsichere Hardrock-Hommage.
Nein, die wilde und schräge Gitarrenmusik ist nicht tot; die Prämisse, nur weiße Typen an die Instrumente zu lassen, ist es zum Glück schon. Apropos weiße Typen: Eine der wenigen zeitgenössischen Bands, für die Lästerbruder Mark E. Smith mehr als kalte Verachtung empfand, ist übrigens das britische Duo Sleaford Mods. Ob deren gut gebellte Tiraden über Britanniens Beschissenheit uns über kurz oder lang eine Wiederkehr des englischen Working-Class-Stolzes im Rock bescheren wird? Ob dieser roughe Sound zwischen (The-Fall-inspiriertem) Postpunk und Laptop-Rap noch unter „Indie“ firmiert, oder ob Sänger Jason Williamson wohl Joe Talbots rosafarbenen Anzug tragen würde? Über solchen Fragen könnte man zwei bis zehn Pints leeren. Und das ist nun nicht das schlechteste Resümee für ein Rockjahr.
Was 2018 sonst so passiert ist? Könnt Ihr in unserem Jahresrückblick 2018 nachlesen.