Inselsand im Schuh


Da, wo jetzt alle hinziehen: Fran Healy, Sänger der Band Travis, zeigt uns sein Berlin - und gibt uns eine Idee von der Freiheit, die ihn sagen lässt: „Ich bin glücklich hier." Wenn das mal nicht auf seine Musik abfärbt.

Francis Healy, 35, ist ein viel beschäftigter Mann. Das war der Sänger, Texter, Pianist und Gitarrist von Travis schon früher. Aber seit neulich, als Fran, Dougie Payne, Andy Dunlop und Neil Primrose beschlossen, ihre schnittige Yacht names Travis künftig unter unabhängiger Flagge zu segeln (und das Label Independiente also zu verlassen), ist Healy noch viel mehr beschäftigt als sonst. Anders gesagt: „Wir machen jetzt alles selbst“, erläutert Fran und seufzt und klappt endlich den Laptop zu. Draußen, vor den Panoramafenstern der Universal-Zentrale am Spreeufer, ziehen zäh die Wolken über Berlin hinweg, und Fran Healy hat eben noch per E-Mail den Videodreh für die kommende Single klargemacht: „In New York, da ist so was billiger.“ Auszumachen scheint ihm der ganze Stress überraschend wenig, wie überhaupt die letzten Jahre spurlos an seiner Physis vorübergegangen sind.

Klar, die früher schon grauen Schläfen haben inzwischen das ganze Haupthaar in silberne Flammen gesetzt. Aber die Geheimratsecken sind seltsamerweise nicht größer geworden, und auch sonst macht der Mann einen entspannten, lässigen, in seinem ganzen Wesen federnden Eindruck. „Ich bin eben glücklich hier“, sagt Healy mit Blick über das Panorama der Stadt: „Die Leute sagen immer, Berlin hätte keine Skyline. Das stimmt nicht, es hat eine wunderbare Skyline. Und Kinderspielplätze, viele Kinderspielplätze, ich glaube, allein im Umkreis meiner Wohnung in Prenzlauer Berg gibt’s 60 Stück davon oder so. Hier“, sagt er und schüttelt seinen beturnschuhten Fuß, „ich habe noch Sand im Schuh vom Spielplatz heute morgen!“ Der Mann lebt zusammen mit seiner deutschen Frau, der Fotografin Nora Kryst, seit zwei Jahren in Berlin.

Damit ihr gemeinsamer Sohn Clay, zwei Jahre alt, eines

Tages hier zur Schule gehen kann: „Hat meine Frau beschlossen. Und auf seinen Meister muss man hören“, meint Healy und lacht. „You have to obey your master.“ Früher lebte Healys kleine Familie noch abwechselnd in New York, wo sie heute noch eine Wohnung hat, und London, wo nicht einmal ein Jahr nach Veröffentlichung von the boy with no name große Teile von ode to j. smith aufgenommen wurden – das sechste Travis-Album in mehr als zehn Jahren.

Seltsam ist es schon, dass sich „das dicke B oben an der Spree“, wie Seeed so schön singen, mit den Jahren zu einer echten Indie-Metropole gemausert hat. Matt Tong lebt in Friedrichshain, der herrlich jazzige Schlagzeuger von Bloc Party. Die Liars aus New York haben in Berlin sogar ihr Hauptquartier aufgeschlagen, Jared Hasselhoff von der Bloodhound Gang fühlt sich angeblich in Neukölln pudelwohl, Rufus Wainwright singt längst nicht nur über den, sondern manchmal auch im Tiergarten. Die kanadische Elektro-Nudel Peaches ist eigentlich schon eingebürgert, ebenso wie Joel Gibb von den Hidden Cameras oder der Elektronik-Pionier Jason Forrest. Erlend 0ye, „the whitest boy alive“ von den Kings Of Convenience, soll inzwischen schon weitergezogen sein, nach Brasilien. Dafür erwägen dem Vernehmen nach die Yeah Yeah Yeahs einen ähnlichen Move wie die Liars, den Komplettumzug.

Nur mit den tollen Spielplätzen ist das nicht zu erklären.

„Diese Stadt hat einen herrlichen Charakter , sagt Healy: „Mich hat mal ein Journalist mit dem Satz zitiert, Berlin wäre eine traurige Stadt. Das ist Unsinn! Das habe ich nie gesagt, im Gegenteil! Es ist die heiterste, optimistischste Stadt, die ich kenne. Schau dich doch nur mal um …“ und wir schauen uns um, unter der Oberbaumbrücke an der Warschauer Straße zwischen Kreuzberg und Friedrichshain, auf unserem Spaziergang hinauf nach Prenzlauer Berg, und er hat recht. Jugend, Jugend und jugendliche Alte, wohin das Auge blickt. „In London sind alle Leute total uniformiert, alle tragen die gleichen Marken, es ist fürchterlich. Hier kannst du dagegen rumlaufen, wie du willst. Das interessiert keinen.“ Nur ein einziges Mal sei er bisher in Berlin von Fans erkannt worden: „Das war eine Gruppe argentinischer Touristen, die überfallartig und jubelnd auf mich zustürmten, sodass mein Sohn, den ich gerade auf dem Arm trug, Angst bekam und anfing, zu weinen. Ich sagte den Leuten: ,Hey, das ist ja nett, aber macht doch bitte mal halb so wild.“

Entsprechend wohl fühlt er sich daher beim Einkaufen im lokalen Supermarkt – ohne Promis, ohne Promi-Spotter, unter ganz normalen Leuten. In London, meint er, gehe das gar nicht mehr. Die Gentrifizierung – also das Aufbrechen hergebrachter Wohnstrukturen durch eine neue, in der Regel finanzstarke Klientel – habe dort jede natürliche kreative Entwicklung sofort im Keim erstickt. An dieser Stelle müssen wir Herrn Healy doch daran erinnern, dass der Prenzlauer Berg ein Paradebeispiel für die Gentrifizierung eines Stadtviertels darstellt. Er nickt schuldbewusst: „Ja, und dann ziehen irgendwann die Rockstars ein, und die Nachbarschaft geht den Bach runter…“

Inzwischen sind wir an einer herrlich verrotteten Fotobox angekommen, in der Healy unbedingt Bilder machen will: „Hier sieht man wieder“, sagt Healy, sich umschauend, „dass Berlin oft wirkt wie eine Mischung aus den cooleren Ecken von New York und Paris im 19. Jahrhundert, als es noch die Hauptstadt der Welt.war.“ Mit dem Unterschied, dass Berlin vom Versuch, seinerseits zu „Germania“ zu werden, Hauptstadt der Welt, einige Narben und bis heute schwärende Wunden davongetragen hat. „Mag sein“, meint Healy und weicht einem Inline-Skater aus, „aber mich hat das Inselhafte immer mehr interessiert. New York ist eine Insel vor der Küste der USA, Berlin ist eine Insel in Deutschland.“

ode to j. smith haben Travis trotzdem nicht irgendwo in Berlin, sondern in London aufgenommen. „Innerhalb von ein paar Wochen, das meiste davon live, also weitgehend ohne Overdubs. Wir waren in einem Studio, wo man noch mit diesen uralten analogen Maschinen arbeiten konnte, die zum Beispiel von den Beatles benutzt wurden weil sie ursprünglich aus den Abbey Road Studios stammen. Wir standen also da und spielten vor uns hin, als plötzlich Paul McCartney den Kopf zur Tür reinsteckte und ,Hallo, Jungs!‘ rief. Zuerst wären wir fast aus den Schuhen gekippt, aber dann haben wir ’s als gutes Zeichen hingenommen.“

Über die Frage, wer dieser J. Smith eigentlich ist, kommen wir auf den gleichnamigen Titelsong zu sprechen: „Niemand! Jeder! Mir ging’s eigentlich nur darum, einen möglichst unauffälligen Jedermann-Namen zu finden, so wie David Bowieja auch seinen Ziggy Stardust erfunden hat. Vielleicht hatte ich dabei The Smiths im Hinterkopf, aber eigentlich ist das egal“, jetzt geht’s in die Fotobox. Wir bleiben aber bei den schlechterdings unfassbar wuchtigen Chorgesängen, mit denen „J. Smith“ gerade den geübten Travis-Hörer überrascht. „Tjahaaa“, freut sich Fran und wedelt den Fotostreifen trocken, „dieser Chor ist unser Joker! Der Song sollte so was wie unsere ,Bohemian Rhapsody‘ werden, verstehst du? Mit vielen Dynamik- und Tempowechseln und einem leichten Klassik-Touch. Utid dann gab es da diesen Chor, den ,Crouch End Festival Chorus‘, den ich dazu eingeladen hatte. Ein Freund von mir hat mir bei den Arrangements geholfen, aber keiner wusste vorher so genau, was ich wollte und wie das dann am Ende klingen würde.“ Von den 150 Mitgliedern dieses Chors passten nur 70 ins Studio, erzählt Healy mit leuchtenden Augen: ,^Also haben wir die Aufnahme anschließend gedoppelt, damit sie noch wuchtiger klingt. Und dann haben wir sie, wo wir schon mal dabei waren, sogar verdreifacht.“

Längst Sitzen Wir im Taxi, die Danziger Straße hoch nach Prenzlauer Berg, da schwärmt Healy – zwischen organisatorischen Telefonaten inklusive charmant schottisch gerolltem „Rrrr“ – noch immer von “ J. Smith“. Zuerst sei er unsicher gewesen, aber dann habe er den Song einigen Leuten vorgespielt, auf deren Urteil er Wert lege: „Ryan Adams hat es gehört, die Kooks und Keane – und alle, alle fanden es ziemlich verrückt, aber… klasse. Hier“, ruft er dem Taxifahrer zu, „da vorne beim Wasserturm können Sie uns rauslassen!“

Es ist der letzte Stopp unserer Berliner Foto- und Besichtigungstour, eine von Fran Healys besonders geschätzten Kneipen. Hat leider geschlossen, aber der runtergelassene Rolladen ist auch nicht unwitzig, findet Healy: „Die Bar heißt wie eine Prog-Band aus den Siebzigern, und das passt zu unserer neuen Platte“, findet er. Und dann findet er, sich verabschiedend, dass es nun aber wieder Zeit ist für die Familie, den Sohn vor allem. Und neuen Sand in den Schuhen.

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