Irgendetwas Für Uns


DEUTSCHsein und POPmachen sind in den 90ern schwer zusammenzubringen.

Die Einen, Advanced Chemistry, fühlen sich „fremd im eigenen Land“, die Anderen, Tocotronic, wollen mit ihrer Nationalität nichts zu tun haben und lehnen den Viva-„Comet“ in der Kategorie „Jung, deutsch und auf dem Weg nach oben“ ab. Die ganz Anderen schlagen mit überhöhter stilistischer Betonung ihrer Herkunft Kapital: Rammstein. Ein in den 80ern akzeptierter Genrebegriff wie „Neue Deutsche Welle“ ist in den 90ern undenkbar. Das aber auch weil auf diesen überbrodelnden Topf kein einzelner Deckel mehr passt: Indierock aus Hamburg, Hiphop aus Benztown, Frickelpop aus Weilheim … Der ME widmet sich zwar das ganze Jahrzehnt hindurch noch der Erblast aus den 70ern und 80ern, – Westernhagen, Maffay, Niedecken, Kunze -, begleitet aber auch all diese neuen Entwicklungen, fördert sie (Titelgeschichten mit den Fanta 4, Selig, den Hartreimern aus Rödelheim), verachtet sie (Ein-Stern-Rezension zu Rammsteins HERZELEID: „eindimensionale Blut- und Boden-Analphabeten“) und liebt sie:Bands der Hamburger Szene (nicht Schule) haben zwar teils einen ähnlich schweren Start wie Rammstein, mausern sich im Lauf der Zeit aber zu selbstverständlichen Heftgrößen. Jahre bevor das Heft VON ALLEN GEDANKEN SCHATZE ICH DOCH AM MEISTEN DIE INTERESSANTEN der Sterne als Platte des Monats auszeichnet, werden deren WICHTIG und IN ECHT mit je einem Stern abgestraft – über Blumfeld heißt es anfangs: „Kopfgeburten ohne Eier: Der Rock’n’Roll endet hier!“ Einzig Tocotronic haben von Anfang an einen festen Platz im Herzen der Redaktion – die nur „irgendwas“ für uns sein wollenden Tocotronic, die Mitte der 90er aber in Wahrheit der „adäquate Ersatz für die Handgranate [sind], die so viele junge Menschen bei der allmorgendlichen U-Bahn-Fahrt vergeblich in der Tasche suchen“ (96er-Rezension). Ihre Single „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ habe „das Zeug, zum Anker aller Ziellosen in unserem Lande zu werden“. Das mit sensationellen sechs Sternen besprochene NACH DER VERLORENEN ZEIT schaffe es gar, „eine gänzlich neue Ära deutschsprachiger Musik einzuläuten“.

Und so hochtrabend das vielleicht formuliert gewesen sein mag: Tatsache ist, dass die Niedeckens und Kunzes Ende des Jahrzehnts langsam aber sicher aus dem Heft verschwanden.