Jan Müllers „Reflektor“-Kolumne: Puddingmasse Rammstein
Normalerweise berichtet Jan Müller von Tocotronic hier von seinen Podcast-Begegnungen. Doch diesmal macht er sich Gedanken zu aktuellen Geschehnissen.
Ich verfasse diese Zeilen am 12. Juni, selbstverständlich in Solidarität mit den mutmaßlichen Opfern. Ich kann nicht absehen, was wirklich im Detail passiert ist und inwiefern das Verhalten des Sängers nur abstoßend oder sogar kriminell ist.
Darum soll es an dieser Stelle auch gar nicht gehen. Ich frage mich vielmehr, wie es geschehen konnte, dass dieses Produkt über all die Jahre so viel Anerkennung erfahren konnte. Selbst in Teilen meines Freundeskreises erfreute es sich immer größerer Beliebtheit.
Mit leuchtenden Augen erzählten mir einige von den „großartigen Liveshows“, fanden die Special-Edition-Box mit den vermeintlichen Penisabgüssen der Bandmitglieder „witzig“, erfreuten sich an den drastischen, ironischen Texten, berichteten, der Keyboarder sei „wahnsinnig nett“ und waren von dem internationalen Erfolg des Sextetts tief beeindruckt.
Ich begegnete dieser Band Mitte der 90er bei unserem damaligen gemeinsamen Label Motor Music. Die dortigen Chefs priesen uns ihr „kontroverses neues Signing“ an. Sie logen uns vor, dass der geschmacklose Name nur ein Zufall sei. Er habe angeblich nichts mit dem Ort zu tun, wo bei einem Flugunglück im Jahr 1988 siebzig Menschen ums Leben kamen. Genau darum ging es der Band und ihrer Plattenfirma von Anfang an: Tabus brechen, täuschen, provozieren und die Kritiker als humorlos und piefig diskreditieren. Ein Video mit Filmmaterial der NS-Propagandistin Leni Riefenstahl? Kunst? Provokation? Ein halbminütiger Trailer zu ihrem neuen Video, in dem vier Bandmitglieder in Kleidung von KZ-Gefangenen am Galgen stehen? Widerlich? Nein, denn zwei Tage darauf erscheint das ganze Video mit einem Text, der sich „kritisch“ mit Patriotismus etc. auseinandersetzte. Als ob dies nun den Trailer weniger ungehörig machen würde.
Natürlich ist diese Band nicht rechts. Aber sie ist ohne jegliches Gefühl für das, was ihre Geschmacklosigkeiten mit kommerziellem Hintersinn bei Menschen anrichten können, für die im Leben eben nicht nur alles ein Witz ist bzw. war. Die Band ist nichts weiter als eine Werbeagentur für sich selbst; bewaffnet mit riesigen Verstärkern und Pyrotechnik.
Songtexte und Shows, die immer eine ironische Hintertür offenlassen, machen diese Band trotz aller zur Schau gestellter Muskelprotzigkeit zu einer haltungslosen Puddingmasse. Natürlich sind sie fleißig und talentiert. Allerdings stellt sich die Frage, wo die Band stünde, wenn nicht David Lynch 1997 zwei ihrer Songs in sei- nem Film „Lost Highway“ verwendet hätte. Wahrscheinlich wären sie uns als Weltstars erspart geblieben. Ich selbst sah sie einmal live bei Rock am Ring. War die riesige Deutschlandflagge ein Witz? Erfinden ein paar Flammen das Rad neu? Hat nicht Ernst Busch das „R“ viel schöner gerollt? Ist es angenehm, Zeuge davon zu werden, wie das Publikum zur Show der Band ironisch auf hart macht und so zum Teil dieser gespenstischen Inszenierung wird?
Ich weiß nicht, wo diese Zugewandtheit einiger meiner Freunde zu dieser Band herrührte. Aber sie frustrierte mich zutiefst. Ist Erfolg so anziehend, dass er grundlegend alles interessant und attraktiv macht? Warum hat der renommierte Verlag Kiepenheuer und Witsch das Vergewaltigungsgedicht des Sängers veröffentlicht? Warum hat die Drogeriekette Rossmann nicht der Band empfohlen, ihr Parfum lieber in einem Sex-Shop zu vermarkten? Warum hat die Plattenfirma Universal keinen Anstoß an den sadistischen Texten genommen? Warum ist erlaubt, was gefällt? Waren die Ergüsse der zugleich veröffentlichten Deutschrapper noch widerlicher, sodass dies gar nicht mehr bemerkt wurde?
Leider wurde auch der Musikexpress Teil der Inszenierung dieser Gruppe. Zwar erschien die Band nie auf einem ME-Titelblatt, doch ihre Alben wurden zuletzt wohlwollend besprochen, noch in der Juli-Ausgabe. Im vergangenen Jahr verstieg sich das Heft sogar in die These, die Band würde das Werk von Franz Josef Degenhardt fortführen. Vermutlich hat sich Väterchen Franz im Grab erbrochen.
Wird sich etwas ändern? Wird sich die Band auflösen? Oder wird sie weiter mit ihren Anwälten drohen? Werden die Fans ihre Nibelungentreue aufgeben? Werden sich Menschen schämen? Ich empfehle euch, hört einfach etwas anderes. Es gibt so viel wundervolle Musik, von anständigen Menschen.
Zu Jan Müllers „Reflektor“-Podcast: www.steadyhq.com/de/reflektor/about
Jan Müller von Tocotronic trifft für seinen „Reflektor“-Podcast interessante Musiker*innen. Im Musikexpress und auf Musikexpress.de berichtet er von diesen Begegnungen. Diese Kolumne erscheint in der Musikexpress-Ausgabe 08/2023.