Japanese Breakfast im Interview: Begrab mich am Zauberberg
Michelle Zauner, die Universalkünstlerin, im Gespräch über törichte Fantasiemänner der europäischen Kunstgeschichte & mehr.

Michelle Zauner kramt ein wenig in ihrem Bücherstapel im Wohnzimmer herum, dann hat sie das gesuchte Werk gefunden. „Orlando innamorato“ von Matteo Maria Boiardo. Ein zerfleddertes Taschenbuch, fast 600 Seiten dick. Kein Roman. Kein Sachbuch. Sondern ein Gedicht. Ein unfassbar langes Gedicht. Geschrieben Ende des 15. Jahrhunderts in Italien, von einem Poeten, der im Sinn hatte, die ganz große Liebesgeschichte zu dichten. Mit Rittern, die tugendhaft kämpfen. Fürs Land. Um das Herz einer Frau. Mit Orlando als edlem Helden, der das Gute verkörpert. Und den unbändigen Willen zur Liebe. „Was für eine Romantik!“, sagt Michelle Zauner. Wenn da nur die letzten Seiten nicht wären. „Da bricht dieses epische Gedicht nämlich ganz plötzlich ab.“ Nicht, weil Boiardo verstarb oder ihm nichts mehr eingefallen wäre. Der Grund dafür war profan: „Die Franzosen hatten Italien besetzt, es herrschte Krieg. Und da ließ es sich nicht mehr ungestört schreiben.“ Die letzten Worte des Dichters: „Während ich singe, Erlösergott, sehe ich Italien in Flammen und Feuer gehüllt.“ Und das war’s dann.
Die Melancholischen und die Traurigen
Zauner liebt diese Geschichte. Den Anspruch des Gedichts, aber noch mehr die Umstände, unter denen es entstanden ist. Also machte sie den edlen Orlando zum Helden eines ihres Songs. Er heißt „Orlando In Love“, ist die erste Single des neuen Albums ihrer Band Japanese Breakfast und verfrachtet ihn an die Westküste der USA, wo Orlando in einem Winnebago-Wohnmobil eine Pause einlegt. Um bald von einer Sirene ins Meer gelockt zu werden und dort zu ertrinken. Was im Winnebago zurückbliebt, sind die Verse, die er geschrieben hatte. Gewidmet melancholischen Brünetten und traurigen Frauen. Und so heißt dann auch, das Album: FOR MELANCHOLY BRUNETTES (AND SAD WOMEN).
Den Titel hat sie aus einer Kurzgeschichte des US-Autors John Cheever übernommen, veröffentlicht 1973 im Buch „The World of Apples“, mit Bezügen auf das gigantische Gedicht aus dem Italien der Renaissance: „Cheever erzählt die Short Story eines Mannes, der in einer unglücklichen Ehe lebt. Und der in seinem Frust alle Typen von Frauen aufzählt, von denen er träumt, sie mit großer Geste zu verlassen. Und da sind irgendwann auch die melancholischen Brünetten und traurigen an der Reihe. Ich fand diese Wortkombination großartig, weil sie ja auch ein Symbol für mich ist. Ich dachte an die Brontë-Schwestern und all die grüblerischen Schriftstellerinnen – und fühlte mich als Teil dieser Familie.“
JUBILEE: Der Durchbruch
Zauner hat sich in den vergangenen Jahren zielsicher zu einer Universalkünstlerin entwickelt. Nach zwei sehr guten und in Indie-Kreisen erfolgreichen Platten mit Japanese Breakfast brachte das JUBILEE im Jahr 2021 den Durchbruch. Sehr weit oben platziert in vielen Bestenlisten, ein Platz in den Billboard-Charts, eine Grammy-Nominierung. Schon in den Jahren zuvor hatte sich Zauner zudem als glänzende Essayistin gezeigt. Sie veröffentlichte ihre biografisch geprägten Texte in Zeitschriften wie dem „New Yorker“ oder „Harper’s Bazaar“. Die meisten handelten vom Verhältnis zu ihrer Mutter, eine aus Südkorea in die USA gezogene Frau, die sich in ihrer neuen Heimat auf sehr eigenwillige Art integrierte. Die Ehe mit Zauners Vater verlief unglücklich; dass der Mann heute eine Freundin im Alter seiner Tochter hat, war ebenfalls Thema eines Textes. Die meisten Essays handeln jedoch von der Zeit ab 2014, als Zauners Mutter an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankte. Die Tochter verbrachte viel Zeit mit ihrer Mutter, kochte für sie koreanische Gerichte – was dazu führte, dass sie regelmäßig den Asia-Supermarkt um die Ecke aufsuchte. Um dort einmal unvermittelt in Tränen auszubrechen. Was dem Buch, das diese Essays versammelt, den Titel gab: „Crying in H Mart“. Die Rechte am Druck wurden versteigert, so groß war das Interesse. 2021 stand das Buch auf Barack Obamas Liste seiner Lieblingsbücher. Aktuell laufen Planungen für eine Verfilmung. Zauner schreibt das Drehbuch, ist für den Soundtrack verantwortlich. Und sicher wird sie auch bei der filmischen Umsetzung ein Wort mitreden, denn auch da kennt sie sich aus: In der Regel führt sie selbst Regie bei den Videos zu den Singles von Japanese Breakfast.
Der Zauberberg
Es lief zuletzt also absolut großartig. Warum dann diese Traurigkeit? „Weil sie mein Grundzustand ist“, sagt sie. Klar, es seien fantastische Dinge passiert in den vergangenen Jahren. „Aber das alles hilft dir wenig, wenn du zwischen diesen Höhepunkten über die Vergänglichkeit deines Lebens sinnierst. Und du dann die Nachricht bekommst, dass wichtige Menschen schwer krank oder sogar gestorben sind.“ Was ihr in dieser Zeit des Grübelns aufgefallen ist: Wie verschieden die Umstände sind, in denen sie diese Schwermut in einerseits Prosatexte, andererseits Songs transferiert. „Will ich in einem Text über einen tristen Tag schreiben, lese ich bei meinen Lieblingsautoren wie Richard Ford nach, wie die das gemacht haben. Ich muss voll von Möglichkeiten sein, um selbst schreiben zu können. Arbeite ich an einem Album, verlange ich um mich herum nach absoluter Stille. Weil meine Musik nur in einem puren, leeren Raum entstehen kann. Einem Ort, der möglichst losgelöst von allem ist, was sich aufdrängt.“
Womit wir in Davos sind, im Internationalen Sanatorium Berghof, wo der Hamburger Hans Castorp eigentlich nur für drei Wochen seinen Vetter besuchen will, dann aber sieben Jahre lang dort oben bleibt. Am „Zauberberg“. Am „Magic Mountain“, wie das Buch auf Englisch heißt. Und wie Zauner den letzten Song des Albums benannt hat. Ein Lied über die Träume davon, was kommen wird, wenn das Fieber erst einmal weg ist. Wobei dieses Fieber die Träume ja erst ermöglicht. „Ich habe den ‚Zauberberg‘ zum ersten Mal 2023 in der Schweiz gelesen, als wir dort auf Tour waren, und ich bin tatsächlich an diesem Tag krank geworden, habe Fieber bekommen. Es fühlte sich absurd an, ich wusste nicht: Bin ich wirklich krank – oder suggeriert mir das Buch eine Krankheit?“ Kein Wunder, dass sich Zauner in das Buch hineinziehen ließ. „Ich entwickelte einen crush für Hans Castorp. Er ist ein schicker, kleiner Junge. Überzeugter Raucher. Mag nur bestimmte Arten von Alkohol. Ist intellektuell neugierig, aber leicht zu beeinflussen. Und sehr romantisch.“ Was Romantik ist? „Wenn das Alltägliche zu etwas Spektakulärem erhoben wird.“
Nebel & Meer
Zauner findet, die Europäer und besonders die Deutschen sind gut darin. So hat sie auch ein Faible für Caspar David Friedrich entwickelt, den malenden Star der Romantik, dessen Figuren dem Betrachter häufig den Rücken zuwenden, so wie auch der berühmteste von ihnen, „Der Wanderer über dem Nebelmeer“. Zauner nimmt noch einmal Bezug zu ihrem Song „Orlando In Love“: „So stelle ich mir meinen Orlando vor, bevor er von der Sirene in dieses Meer aus Nebel gezogen wird. Als eine törichte Gestalt, die einfach annimmt, ihr könnte nichts passieren, wenn sie dem Ruf der Sirene folgt.“ Der Nebel, das Meer – die sind ja immer da. Es ist der Mann, der die Natur spektakulär erhebt, wenn er an ihr zugrunde geht. Ganz schön viele Männergeschichten auf dieser Platte, oder? „Ja, aber geschrieben von einer Frau.“ Und sowieso zeige sich ja auch bei Thomas Mann, dass die Romantik des Mannes dieses eine profane Limit kennt. Im Buch ruft nach der scheinbar ewigen Zeit im Sanatorium der Erste Weltkrieg. Plötzlich Hast und Überstürzung. Kurz danach steht Castorp als Heeressoltat im Kugelhagel. Sein Schicksal ungewiss. Das Überleben unwahrscheinlich. „Bury me beside you in the shadow of my mountain“, lässt Zauner ihn in ihrem Lied sagen. „Begrab mich neben dir im Schatten meines Berges.“