Jethro Tull
In einer Ehekommt es bekanntlich besondersauf das siebte Jahr an: Da zeigt sich, laut Volksmund, ob’s klappt oder nicht, trennt sich der Weizen von der Spreu. Sollte der Volksmund recht haben, dann sieht es für Jethro Tull in der Zukunft schwarz aus, denn die Band hat sich einst in ihrem siebten Jahr getrennt und nur mit Ach und Krach wieder hochgerappelt. Und momentan befindet sich die Jethro Tull-Ehe in ihrem dreizehnten Jahr. Wir werden sehen, wie sie funktioniert, wenn die Band am 18. März ihre Tour durch die Bundesrepublik antritt.
Auch musikalisch lassen sich Jethro Tüll leichthin in eine Zeit vor und eine Zeit nach der Ehekrise im siebten Jahr teilen: Vorher servierte die Band ungemein reizvolle Songs, sogar ganze Alben in Reihe, denen man durch die Bank großen Beifall zollte bis sich das Quintett auf ein Passionsspiel einließ und eklatant Schiffbruch erlitt. Nach der Reunion, eingeläutet mit einer gelungenen Songfolge über ein Kriegskind, wuselte sich die Band so halb und halb durch: Ehe als Gemeinschaft aus Gewohnheit, mit gelegentlichen Lichtblicken, zuweilen argen Talsohlen und dazwischen viel Alltag. Doch in einem bin ich sicher: Was einige Tull-Fans partout nicht wahrhaben wollen, ist Tull-Chef Ian Anderson schon seit Jahren klar, Jethro Tüll schlingern jenseits von Gut und Böse durch die Rockszene, nicht unbedingt Opfer des früheren Ruhms, aber doch öfters sehnsüchtig zurückblickend…
Zurückblickend auf beispielsweise den Dezember 1967, also auf das Ende jenes Jahres, das der Rockmusik die ersten schwergewichtigen Platten mit Kunst, Kompliziertheiten und manchmal Kirmes brachte. Pink Floyd’s „Piper At The Gates Of Dawn“, der Beatles „Sergeant Pepper“, die Beach Boys mit ,“Pet Sounds“, zusätzlich noch einige Feinheiten und Gemeinheiten aus amerikanischen Szenen, die sich Jefferson Airplane, Doors, Velvet Underground & Nico oder Vanilla Fudge nannten. Trotz der eher beschwichtigenden Atmosphäre, die Flower Power-Musik in die Welt trug, merkten besonders informierte Insider, daß sich etwas tat, daß einige Rocker nach neuen Formen und Inhalten suchten, was dann zwei Jahre später unter dem Etikett progressiv gelegentlich zu einer elenden Seuche geriet.
Jethro Tull waren bereits eine progressive Band, als viele dieses Wort noch im Duden nachschlagen mußten. Vor Chicago oder Blood Sweat & Tears führte die Band gewisse Jazz-Rockigkeiten vor, überraschte mit einem Sammelsurium aus britischer Folklore, bluesigem Hintergrund und klassischen Anwandlungen und umgab sich mit einem Image, das geradezu Antithesis zu späteren Glitter-Bands war und trotz oder gerade wegen des unüblichen Äußeren höchst erfolgreich wirkte. Im Ernst: Welche Band hat schon gewagt, sich zwecks Abbildung auf der Hülle des Debütalbums mutwillig alt und häßlich zu schminken? So jedoch Jethro Tull auf „This Was“.
Als die Band im Dezember 1967 gegründet wurde, war’s nicht üblich (und selten möglich), auf bekannte musikalische Herkunft zu verweisen. So galten denn Ian Anderson (geboren am 10.8.47 in Edinburgh) und Bassist Glen Cornick als zwei der vielen ziellos in London herumschweifenden Musiker, die seinerzeit vom Swinging London Wind bekommen und darauf ihre Hoffnung gesetzt hatten. Der Schotte Anderson war früh nach Blackpool gezogen, hatte dort eine Kunstschule besucht und sich zunächst als Journalist versucht. Gleichzeitig sang und spielte er bei einer Band namens The Blades, später in der Blackpooler Lokal-Attraktion John Evan Blues Group, auch als John Evans Smash Group ein Begriff. Bei laufenden Stil- und Personalweehseln wirkten hier neben dem Anderson-Schulfreund John Evan (keyb) auch Glen Cornick, Jeffrey Hammond-Hammond (bg) und Barriemore Barlow (dr) mit, demzufolge spätere Jethro Tulls. Die siebenköpfige John Evan Band zog nach London, kehrte jedoch kurz darauf desillusioniert nach Blackpool zurück; lediglich Anderson und Cornick versuchten weiterhin ihr Glück. Selbiges fanden sie Ende 1967 in zwei aus der Gegend von Luton stammenden Musikern: Gitarrist Mick Abrahams (geboren am 7.4.43) und Schlagwerker Clive Bunker. Und nicht zu vergessen in Terry Ellis, der Jethro Tull’s Manager, Produzent und neben Anderson – ldeenlieferant wurde. Diese künstlerische wie geschäftige Liaison zahlte sich bereits in den folgenden beiden Jahren aus, als Ellis mit Chris Wright das Plattenlabel „Chrysalis“ gegründet hatte, seinen ersten Großerfolg mit Jethro Tull’s „Living In The Past“ feierte und dann aufgrund von Ten Years After, Procol Harum, Ufo, Steeleye Span und Genesis sogar zu einem wesentlichen Faktor in der britischen Plattenindustrie aufstieg. Selbst der Erfolg des Stiff-Labels in unseren Tagen ist mit dem künstlerisch-kommerziellen Wirbel des Chrysalis-Labels Ende der Sechziger nicht veigleichbar. Und lediglich Island Records konnten damals mithalten.
Jedenfalls, bevor Chrysalis einschlug, waren Jethro Tull bei eben diesen Island Records gelandet und verzeichneten mit der Single ,“Song For Jeffrey“ achtbare Meriten. Mehr noch als der Song verwunderten Image und Name der Band. Wie ein hochgekitzelter Derwisch tanzte lan Anderson über die Bühne, teils singend, teils flötespielend, dazwischen Grunz- und Hechellaute herauspressend. Mit alten Turnschuhen, einem drei Nummern zu grossen, abgewetzten Mantel, in geflickten Hosen vollführte ei bewundernswerte Gymnastik, deren Höhepunkt stets kam wenn Anderson seine Soli auf einem Bein stehend blies, das andere Bein rechtwinklig angehoben und damit ballettmäßig Spiralen in die Luft zeichnend. Abgesehen von der Gymnastik standen ihm Mick Abrahams, Glen Cornick und Clive Bunker in nichts nach: Auch sie wie unsere Altvordern gekleidet, Stil Charles Dickens-Ara. Kurz, es wirkte, als hätten sich Huckleberry Finn, Tom Sawyer, Oliver Twist und Turnvater Jahn zu einer Jam-Session vereint.
Wie absonderlich das Image, so auch der klangvolle Name des Quartetts. Im Jahre 1731 veröffentlichte ein englischer Landwirt, nebenher auch Schriftsteller und Musiker, ein Buch titeis „The New Horses Hoeing Husbandry“ („Wie man Pferde richtig beschlägt“), worin er außer praktischen Tips für Pferdeschmiede auch Theoretisches zwischen Musik und Leben erörterte. Der Name des Landwirts: Natürlich Jethro Tull. Dies alles paßte denn glänzend mit dem Image der Band, ja sogar mit ihren Hitsingles zusammen, denn Tull’s größter Erfolg hieß bekanntlich „Living In The Past“ („Leben in der Vergangenheit“). Und das Publikum war dieser neuen Band durchaus grün.
Denn neben den genannten Accessoires warteten Jethro Tull mit für damalige Zeiten Ungeheuerlichem auf, das in einer schlichten Querflöte bestand. Bis dahin spielte eine Band gefälligst mit Gitarren und Schlagzeug, ausnahmsweise noch mit einer Orgel, sonst nichts. Hörte man irgendwo doch einmal ein weiteres Instrument, dann allenfalls kurz auf Platte und von gesichtslosen Studiomusikern bedient. Nun aber führte da dieser lan Anderson eine Flöte als (neben der Gitarre) Hauptinslrument ein, ja, erweiterte dies mit der Zeit sogar noch um Saxophon, Trompete, Mundharmonika und Violine. Wie das?
Sehr einfach: lan Anderson hatte sich schon weit vor der Tull-Zeit mit vielerlei Musik, speziell jedoch mit Jazz und hier besonders mit Charlie Parker und Roland Kirk beschäftigt. Und da die Flöte nicht nur seit Ende der fünfziger Jahre im Jazz salonfähig, sondern durch Musiker wie Herbie Mann, Jeremy Steig oder Charles Lloyd zudem in Hörerkreise neben dem Jazz eingeführt wurde, lag eigentlich nichts näher, als daß irgendwann auch ein Rocker zu diesem Instrument griff. Nur, was heute gang und gäbe ist, nämlich das Rockinstrumentarium durch mancherlei Blasinstrumente zu erweitern, war in den Sechzigern eben völlig unüblich. Heutzutage werden beispielsweise durch Saxophon Hits gemacht (oder wäre Gary Rafferty’s „Baker Street“ ohne
Saxophon-Riff denkbar?), früher jaulte allenfalls einmal eine Mundharmonika zaghaft dazwischen.
Daß sich jedenfalls Ian Anderson ausdrücklich auf Roland Kirk berief und dessen „Serenade To A Cuckoo“ spielte, hing nicht unwesentlich mit Kirk’s Hang zur Show – zwei gleichzeitig geblasene Instrumente – sowie dessen Spieltechnik zusammen: Hecheln und Grunzen, dazu allerlei Überblaseffekte zählten auch schon zu Kirk’s Repertoire.
Als schließlich 1968 Jethro Tull’s Debütalbum „This Was“ erschien, geriet diese Platte zur allgemeinen Überraschung zum Verkaufserfolg, obwohl sich die Band noch durch einen Hitparadenerfolg empfohlen hatte. Dies hing garantiert mit der durchweg abwechslungsreichen Mischung aus Anderson’scher Flöte, seinem knurrigem Gesang sowie seinen Jazz-Bonbons und andererseits Mick Abrahams‘ deutlichem Hang zum Blues zusammen. Demzufolge enthielt „This Was“ als einzige Tull-Platte nicht nur Anderson-Kompositionen, sondern einige Abrahams-Titel sowie zwei Fremdsongs.
Doch bald merkte der Kenner, daß die Band sich bis dahin nur teilweise konsoldiert hatte: Einerseits wirkten mit Terry Ellis und Arrangeuer David Palmer schon damals zwei Erfolgsgaranten der weiteren Jahre bei Tull mit; andererseits bestanden zwischen Anderson und Abrahams erhebliche Kampfe um die musikalische Richtung und damit auch um die Gesamtführung der Gruppe.
Die Differenzen bereinigten sich Anfang 1969, als Abrahams Jethro Tull verließ und damit zur „Ian Anderson Band‘ verwandelte. Mit Ron Berg(dr), Andy Pyle (bg) und Jack Lancaster (sax, fl) formierte Abrahams seine Band Blodwyn Pig, die bei gleicher Besetzung wie Jethro Tüll ein breiteres Spannungsfeld eröffnete: Zwischen durchgängig bluesigem Material (und einer glänzenden Reggae-Verhohnepipelung schon 1970) streute Lancaster feine Soli, wie überhaupt die instrumentalen Fertigkeiten dafür sorgten, daß Blodwyn Pig mit „Ahead Rings Out“ und „Getting To This“ zwei fabelhafte Alben vorlegten. Warum die LPs nicht längst wiederveröffentlicht wurden, ist schlicht merkwürdig. Andererseits: Wer kennt heute noch Mick Abrahams, der Blodwyn Pig unverständlicherweise auflöste, dann Unerhebliches mit der nur ihm gehorchenden Mick Abrahams Band einspielte und schließlich ansehen mußte, wie frühere Mitspieler wenigstens gelegentlich Erfolg einheimsten – Jack Lancaster in der Rock-Version von Prokovieffs „Peter und der Wolf“, Andy Pyle sogar bei den Kinks. Anfang 79 machte dann eine Meldung die Runde, daß Mick Abrahams beabsichtige, zusammen mit dem ex-Groundhogs-Bassisten Tony McPhee und noch ein paar anderen Leuten als „Boring Old Farts Group“ auf Tour zu gehen. Mehr drang leider nicht mehr über den Kanal. Nägel mit Köpfen dagegen machte Clive Bunker zusammen mit Jack Lancaster und dem ex-Manfred Mann und Greensland-Gitarristen/ Sänger Mick Rogers: sie brachten ebenfalls anfang 79 als „Aviator“ ein recht annehmbares Album heraus.
Unterdessen hatten Jethro Tull den späteren Gitarristen von Black Sabbath, Tony Iommi, wegen mangelnder Fertigkeiten nach drei Wochen wieder entlassen und in Martin Lancelot Barre den geeigneten, mehr zum Rock tendierenden Abrahams-Nachfolger gefunden. Die Band baute seit ihrem Überraschungserfolg l968 beim Kempton Jazz & Blues Festival ihre Live-Reputation weiter aus, was zwangsläufig zur Folge trug: Ian Anderson Superstar. Und der rechtfertigte die Erwartungen.
Mit „Stand Up“ nahmen Tull nach Meinung vieler ihr insgesamt bestes Album auf. Das Album enthieli zwar immer noch keinen „offiziellen“ Hit, dafür aber heimliche Favoriten wie „Nothing IsEasy“, „A New Day Yesterday“ und allem voran „Bouree“, von J.S. Bach inspiriert. Gerade hier zeigte sich die Bandbreite, innerhalb der Jethro Tull jetzt arbeiteten: Gelegentlich bluesig, teilweise hard-rockig, dann wieder balladesk mit Streichern, unverstärkt mit Gitarre und diverser Perkussion, einmal gar klassizistisch – dazwischen dann Anderson und Flöte überall. „Stand Up“ entwickelte sich zu einem Riesenverkaufserfolg, was durch Singles im Nachhinein noch unterstützt wurde, als im gleichen Jahr 1969 „Living In The Past“ Nummer drei (als re-issue 1972 erneut ein Hit) und „Sweet Dream“ Nummer sieben der englischen Hitparaden wurden. Kurz darauf folgte mit „Witches Promise/Teacher“ eine Doublette,
dann allerdings suchte man Jethro Tull vergeblich in der Top Twenty, sieht man von „Life Is A Long Song“ 1971 und „Bungle In The Jungle“ 1974 ab. Denn während weitere Tull-Singles wie etwa „Moths“ nie mehr sonderlich hochkamen, schuf sich das Publikum Lieblinge, die auf Dauer beinah Evergreens wurden und allesamt LP-Nummern waren: „Locomotive Breath“ sei stellvertretend genannt.
Indes schienen sich Jethro Tull auch wenig um Singles zu scheren, denn einerseits gingen die Alben sowieso sehr gut über den Ladentisch, zum anderen verdienten Anderson & Co. das Kompliment, recht anspruchsvolle, doch stets eingängige Musik (oder umgekehrt) zu produzieren, die selten auf Drei-Minuten-Länge komprimierbar war. Grundsätzlich zeichnete sich damit auch die Entwicklung zu Jethro Tull’s Konzeptalben ab, die schließlich in seitenlangen Songs und endlich im künstlerischen Desaster endeten.
Zunächst jedoch gab’s „Benefit“, ein zumindest bei uns reichlich unterschätztes Album, das mit den schönsten Anderson-Kompositionen enthielt, allerdings sehr zurückhaltend arrangiert war und auf Anhieb weit weniger Freunde fand als der Nachfolger „Aqualung“, der nicht zuletzt durch einige Kritik in England bekannt wurde. Ian Anderson hatte in einem Songzyklus seine Meinung zu Gott und zur Religion an sich dargestellt und für Anglikaner wie Katholiken niederschmetternde Fakten eruiert: „Wenn Jesus der Retter ist na, dann hätte er sich besser selbst gerettet“ und ,ßr ist der Gott über gar nichts — Du bist der Gott über alles“. Demnach starker Tobak für die, die sich getroffen fühlten; und das waren nicht wenige, zumal Anderson pauschal die „Bloody Church Of England“ angriff und teilweise derart undifferenziert argumentierte, daß selbst Atheisten befremdet aufhorchten.
Neben den zweifelswürdigen Texten fand auch die Musik geteiltes Lob. Kritiker Siegfried Schmidt-Joos befand „Aqualung“ als leichtgewichtige Programm-Musik, andere wünschten sich die Tull-Frühzeit mit Mick Abrahams zurück. Das Gros der Hörer jedoch goutierte „Aqualung“ in höchstem Maße, was nicht zuletzt Tull-Konzerte bis in die später siebziger Jahre bewiesen: Stets besaßen „Aqualung“-Songs dabei den relativ größten Anteil.
Inzwischen war das Tull-Unternehmen zu einem „Freundeskreis Ian Anderson“ geworden. John Evan war schon anläßlich „Benefit“ zugestiegen; dann folgte für Glen Cornick der Jeffrey aus mehrern Tull-Songs („A Song For Jeffrey“, „Jeffrey Goes To Leicester Square“, „For Michael Collins, Jeffrey And Me“), also Jeffrey Hammond-Hammond; schließlich wurde Clive Bunker durch Barrimore Barlow ersetzt. Den alten Jethro Tulls ging’s in der Folge dann weniger gut: Clive Bunker drummte in der kurzlebigen Formation „Jude“, die mit Frankie Miller, Jimmy Dewar und Robin Trower ansehnliche Mitglieder besaß, und wurde später bei Steve Hillage gesichtet; Glen Cornick ging fehl mit seiner Band Wild Turkey, fand sich plötzlich in einer deutschen Band namens „Karthago“ wieder und wurde schließlich bei „Paris“ vor die Tür gesetzt, als sich Paris-Chef und ex-Fleetwood Mac Bob Welch zu einer Solokarriere entschloß.
Allerdings hatten auch bei Jethro Tull härtere Zeiten begonnen. Das Doppelalbum „Living In The Past“ brachte Hits, Gängiges und vieles bis dato Unveröffentlichtes, eine durchaus empfehlenswerte Kompilation. Schon kritischer sah es mit „This As A Brick“ aus, das nur aus zwei Songs bestand und zumindest den Komponisten Anderson an der Grenze seines Könnens sah. Abenteuerlich die Story dieser Quasi-Rockoper: Der achtjährige Gerald Bostok, ein Wunderkind der Dichtung, hatte vorgeblich ein Opus namens ,“Thick As A Brick“ („Dumm wie Bohnenstroh“) getextet, damit einen Fernsehpreis gewonnen, jedoch wütende Zuschauerproteste ausgelöst, so daß er auf Verbot seiner Lehrer selbigen Preis nicht annehmen durfte. Begründung: Des lieben Gerald’s Gedicht sei eine Absage an Vaterland, Gott und das Leben. lan Anderson, Retter der Bedrängten, dokumentierte den Vorfall durch Zeitungsausschnitte auf dem Plattencover und hatte das Gedicht natürlich vertont. Zwar eine schöne LP, die jedoch ohne den aufgrund der Bostok-Story entfachten Wirbel weit weniger bekannt geworden wäre. Das Merkwürdige an der Sache jedoch ist, daß fast jedermann die Story glaubte, sie sogar noch heute in Jethro Tull-Biografien als wahr auftaucht, obwohl lan Anderson die gesamte Chose erfunden hatte.
Möglicherweise rächten sich einige von Anderson hinters Licht geführte Musikschreiber dann an „A Passion Play“, wiederum eine Art Rockoper. Wahrscheinlicher aber ist, das fast jedermann die schlichte Einfalt und gähnende Langeweile dieser Tull-Produktion bemerkte und die Kritiker daher so harsch reagierten. Jedenfalls ist mir aus der Rockszene kaum eine Platte bekannt, die derart verrissen wurde wie „A Passion Play“. Zu recht, wie ich meine.
Unserem lan Anderson war solches unmittelbar ans Herz gegangen: Gekränkt verkündete er Jethro Tull’s Rückzug aus dem Geschäft, ließ aber selbstkritisch auch durchblicken, die Band müsse einige Fehler und Frustrationen durchdenken. Man schrieb das siebte Jahr des Jethro Tull-Kalenders. Wenige Monate später erschienen die Jethro Tulls in alter Frische, offenbar geläutert, und absolvierten Mammuttourneen durch Europa und die USA, um ihr gelungenes Album „War Child“ vorzustellen. Zwar (auf Seite eins) mit der komplexesten Tull-Musik seit je, gewiß auch mit ein paar fragwürdigen Geräuscheffekten, war „War Child“ jedoch endlich wieder eine Ansammlung eigenständiger Songs, die – Akkordeon etc. – abwechslungsreich instrumentiert waren. Die Band zeigte live alten Elan, was bis heute letztlich so geblieben ist, und wirkte in der überraschungsarmen Zeit Mitte der Siebziger extrem erfrischend, weil sie weniger auf Lichteffekte, sondern auf personality baute: lan Anderson, wer sonst? Doch bald machte sich tatsächlich Alltag breit. „Minstrel In The Gallery“ ein müdes Album; dann erneut ein Konzeptalbum, „Too Old To Rock’n’Roll…“, mit Comic Strip und der Story von Ray Lomas, der, weil ewiger Rock’n’Roller, keinen Modetrend mitmacht und dem diese Standhaftigkeit belohnt wird, indem er plötzlich Idol einer neuen Teen-Generation wird. So blutarm die Geschichte, so durchwachsen die Musik; und dies galt dann über den Daumen gepeilt für alle weiteren Tull-Alben, die zwar unterschiedliche Akzente setzten, aber immer nur einige starke Songs enthielten. Deutlich merkte man lan Anderson’s Bestreben, mittels veränderter Ansätze Besserung zu schaffen: „Songs From The Wood“ klang durchweg rustikal, mit altenglischer Folklore versetzt, aber man kannte schließlich auch Lindisfarne, Richard Thompson oder ähnliche. „Heavy Horses“ machte dann, wie kürzlich „Stormwatch“, deutlich, daß Jethro Tüll routiniert, nicht schlecht, aber auch nicht besonders recht zu Rande kamen. Weder lan Anderson’s Umzug in schottische Berge noch der übliche Wechsel des Bassisten (von Hammond-Hammond zu John Glascock und zu Dave Pegg) noch irgendwelche Einflüße der neueren Rockmusik konnten die Inspiration wecken, die aus Jethro Tull als Sachverwalter wieder Jethro Tull als Attraktion gemacht hätten.
Einzelne Sonderprojekte, etwa ein von lan Anderson & John Anderson (Yes) geplantes Ballett, fanden nie statt. Ein (längst angekündigtes) lan Anderson-Soloalbum wäre überfällig, obwohl böse Zungen behaupten, Jethro Tull würden doch seit Jahren Anderson-Solo-LPs abliefern. Nein, wesentlich wäre meines Erachtens eine andeve musikalische Umgebung, sei’s auch auf Kosten einer Jethro Tull-Trennung oder mindestens durch erhebliche Personalwechsel – nicht bloß immer den Bassisten ändern. Denn soweit man Anderson einschätzen kann, ist auch er mit andauernd durchschnittlichen Alben wenig zufrieden. Warten wir das dreizehnte Jahr ab…
Discografie Jethro Tull This Was (1968) Chrysalis 6307 517 Stand Up (1969) Chrysalis 6307 519 Benefit (1970) Chrysalis 6307 516 Aqualung (1971) Chrysalis 6307 51 5 Thick As A Brick (1972) Chrysalis 6307 502 A Passion Play (1973) Chrysalis 6307 518 War Child (1974) “ Chrysalis 6307 537 Minstrel In The Gallery (1975) Chrysalis 6307 559 Too Old To Rock’n’Roll: Too Young To Die (1976) Chrysalis 6307 572 Songs From The Wood (1976) Chrysalis 6307 591 Heavy Horses (1978) Chrysalis 6307 622 BurstingOut (1978) Chrysalis 6307 873 DoLP Stormwatch (1979) Chrysalis 6307 670
Sampler:
Living In The Past (1972) Chrysalis 6641 145 DoLP M.U. – The Best Of Jethro Tüll (1975) Chrysalis 6307 566 Repeat – The Best Of Jethro Tull Vol. II (1977) Chrysalis 6307 611 Mick Abrahams mit Bloodwyn Pig:
Ahead R ings Out (1969) Island gestr.
Getting To This (1970) Island gestr.
Solo:
A Musical EveningWith Mick Abrahams (1971) Island gestr.
At Last (1972) Chrysalis gestr.
Have Fun Learning Guitar (19751 SRT Records gestr.
Aviator (Clive Bunker, Jack Lancaster, Mick Rogers) Aviator (1979) EMI 1C 064-62 502