Pandemie der Hosenscheißer: Warum wir alle früher oder später an die Wand gestellt gehören
What you need, my friends, is a holiday in Belarus (bitte den ganzen Hass mitnehmen, danke). Die aktuelle Popismus-Kolumne von Josef Winkler.
Wohin mit dem Hass, wenn er wächst wie Krebs? Puh. Wenn mir noch EINE(R) eine „Querdenker“-Diskussion aufdrückt, wenn ich noch von EINER eskalierten Demo von Coronaleugnern lese, dann krieg’ ich hier den multiplen Impf-, Magen- und Hirndurchbruch! Das kann doch alles nicht mehr wahr sein. Was ist mit den Leuten los? Leben im wohlhabendsten Land Europas, gepampert von Kindesbeinen an, und haben so viel Schiss vor einer Spritze und der bösen Welt, die sie repräsentiert, dass ihnen zur „Selbstverteidigung“ auch ein Bürgerkrieg recht wäre (fast lustig, wenn Leute mit diesem Wort hantieren, deren krasseste Firsthand-Erfahrung mit Not und Elend ist, dass mal bei Aldi das feuchte Klopapier aus war).
Erwachsene Menschen, wohlstandsverzogen und verblendet, unfähig zu Empathie und untauglich für das Zusammenleben in einer solidarischen Gesellschaft – und alles aus Angst, Angst, Angst. „Hab doch nicht so viel Angst um dein bisschen Leben!“, haben wir früher einem schisserigen Spezl zugerufen. Ja: Da waren wir jung, dumm und ohne Gefühl, was es heißt, in seinem Leben bedroht zu sein. Aber sieh an: Wir sind dann älter geworden und haben dazugelernt! Und außerdem aufgepasst, wenn die Weisen gesprochen haben: „Angst ist der Pfad zur dunklen Seite. Angst führt zu Wut, Wut führt zu Hass, Hass führt zu Leid.“ Sagt Meister Yoda. Nie war er so wertvoll wie heute.
Wir alle gehören offenbar früher oder später an die Wand gestellt
„Wohin mit dem Hass?“, fragte Jochen Distelmeyer auf seiner ersten Soloplatte HEAVY (dass die schon 12 Jahre alt ist, stelle ich jetzt mal in Abrede, denn das hieße ja, dass ich – huch! – fast 50 wär! Ich bin Alterungsskeptiker, vertraue auf alternative Zeitmessung und stehe zu meiner Meinung, dass HEAVY vor drei Jahren erschienen ist!). Die Leute „hassen still vor sich hin, so lang, bis ihnen jemand sagt: Wohin mit dem Hass“. Und das sagt man ihnen jetzt seit anderthalb Jahren, in YouTube-Videos, auf Telegram, auf Demos etc.: Ihr Hass gebührt – logisch! – denen, die sich mühen, das Land durch die Coronakrise zu manövrieren und allen, die dieses „System“ (das auch dafür steht, dass Leute wie sie hier rumnerven dürfen und nicht etwa im Arbeitslager landen wie anderswo) stützen: Ordnungskräfte, Journalist*innen, Verwaltungsbeamte, auch mal Tankstellenkassierer. Bald auch Lehrerinnen? Ärzte? Gastronomen und Künstler*innen, die den Infektionsschutz mittragen?
Wir alle gehören offenbar früher oder später an die Wand gestellt. „A holiday in Cambodia“ hat Jello Biafra 1979 denen empfohlen, die sich so sehr in der Wohlstandsgesellschaft eingemümmelt haben, dass ihnen der „moralische Kompass“ verloren ging. Heute wäre für manche ein zweiwöchiger Winterkuraufenthalt an der polnisch-belarussischen Grenze eine Option, um wieder zur Besinnung zu kommen. Und wenn Ihr unterwegs seid: Nehmt bitte auch meinen Hass mit. Ihr habt ihn verursacht, Euch ist er zugedacht. Und ich mag ihn nicht mehr haben.
Diese Kolumne erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 02/2022.