Kiss – Die Comeback-Tour
Vier geschminkte Endvierzigerin Lack und Leder versetzen Amerika in helle Aufregung. ME/Sounds prüfte, was an der KISS-Reunion wirklich dran ist
Kiss kommen in voller Montur auf die Bühne. Wirklich. Sie stehen leibhaftig vor mir – wie Wesen von einem anderen Stern, larger than life. Für Augenblicke durchzieht mich ein Schauer, kribbelt in mir die Aufregung, etwas historisch Einmaligem beizuwohnen. Stop. Rücklauf. Wiedergabe. Die Datenbank rattert: Gene Simmons und Paul Stanley stoßen im Frühjahr 1972 per Kleinanzeige („Drummer tut alles, um den großen Durchbruch zu schaffen“) auf Peter Criss. Anfang 1973 auf Ace Frehley – KISS ist geboren. Schnell erregen sie in New York mit ihrem schrillen Glamourlook Aufsehen. Plattenvertrag. Chartserfolge. Gold und Platin. Ausverkaufte Tourneen. Höhepunkt: Die ‚Alive‘-Tour 1976/77. 29. November 1979: Letzter Auftritt in der Urbesetzung. Drogen und Alkoholprobleme setzen der Band zu. 18. September 1983: Die Masken fallen. Sommer 1995: Auf der KISS-Konvention in Los Angeles entsteht die Idee, in der Originalbesetzung auf Tour zu gehen. 16. April 1996: KISS kündigen ihre Rückkehr an – versprochen wird „ClassicKISS“ mit der Musik und der Show aus den Jahren 1973 bis 1979. Und tatsächlich ist alles wie früher soweit man das im Licht des Pyro-Gewitters erkennen kann: Die schwarzweiß geschminkten Gesichter; die 20 Zentimeter hohen Plateauschuhe; die Zunge, die Simmons um seine Kinnspitze züngeln läßt; die Hebebühnen links, rechts und in der Mitte, die Stanley, Frehley und Criss bis unter die Hallendecke steigen lassen. Wie früher ist auch die Musik – sie klingt heute, 20 Jahre später, alt backen, hölzern, statisch. Und je später der Abend, desto starker ihre Ab nutzung. Der Bass ist zu mittig, die Bassdrum zu laut. Was macht denn der Mixer? Ich verlagere mein Körpergewicht unruhig von einem Bein aufs andere. Beim Umschauen sehe ich auf ein Meer von Luftgitarristen und -Schlagzeugern – die Leute, überwiegend männlich und um die Dreißig, scheinen’s zu mögen. Wahrscheinlich jede Menge nostalgisch verklärte Erinnerungen an damals: Parties, Suff und erster Sex auf dem Rücksitz. Ein halbes Jahr haben Simmons und Stanley darauf verwendet, um mit Criss und Frehley Drei-Akkorde-Songs wie ‚Deuce‘, ‚Calling Dr. Love‘ und ‚Love j Gun‘ einzustudieren – und ihre J beiden alten Kumpels wiederzubeleben. Aus dem Umfeld der Band war zu hören, daß Criss vom jahrelangen Drogenkonsum so angeschlagen war, daß er alte Aufnahmen anhören mußte, um sich zu erinnern, was er früher gespielt hatte. So muß es wohl sein, denn der Drummer wirkt fahrig und unsicher. Besonders ärgerlich sein Solo – es überschreitet kaum Anfängerniveau. Für die Fitness wurde außerdem eigens ein persönlicher Trainer engagiert, der die beiden Saufnasen/Junkies Criss und Frehley täglich durch den Kraftraum jagte. Von Ferne sind KISS ganz leidlich anzusehen, doch bei genauerer Betrachtung sind die Spuren der Vergangenheit unverkennbar – unter halb der Schminke wirft die Haut am Hals Falten; an den Oberarmen schlabbert das Gewebe schlaff. Leadgilarrist Ace Frehley wirkt schwer gezeichnet: Er müht sich wacker, breitbeinig den Axeman zu geben, mit flinken Fingern übers Griffbrett zu sausen; doch das, was er seiner Les Paul entlockt, entlockt mir kaum ein müdes Lächeln. Unfreiwillig komisch ist auch bei ihm das Solo: Feuerwerksraketen aus seinem Instrument abzufeuern – und gleichzeitig zu spielen, ist offenbar zuviel – Frehley parodiert sich selbst. Vergiß die Musik! Auf die kam’s bei KISS nie an – Show und Effekte waren wichtiger, zwinge ich mich zur Ruhe. Ja, genau: „Ich bin die ganzen Grunger leid, die sich mit ihren depressiven Songs auf die Bühne stellen und öffentlich eine Psychotherapie abziehen“, erinnere ich mich an einen schimpfenden Simnmons. Und ich bin die ganzen Uraltbands leid, die 20 Jahre nach ihrer besten Zeit aus ihren Löchern kriechen, nur um abzukassieren, schimpfe ich zurück.