Konzert oder Konserve?
Ist Live-Musik im Fernsehen tot? Schon seit geraumer Zeit verdrängen Video-Clips die Gruppen aus den Fernsehstudios, in denen ja ohnehin selten live und umso öfter Playback gespielt wird. Doch 1983 rollt die Video-Welle im Fernsehen erst richtig an. Fast alle deutschen Sender setzen auf den Trend und starten neue Video-Programme. Beispielsweise „Formel 1“ in der ARD, „Thommys Pop-Show“ im ZDF oder „Pop Stop“, das vom III. Programm Bayern in die ARD-Schiene vorrückt. Grund genug für ME/Sounds, zwei erfahrenen Fernsehmachern in Sachen Musikprogramm das Wort zu geben.
PRO: Stefanie Schoener („Pop Stop“)
Es gibt sie immer noch, die Gralshüter der „ehrlichen“ Rockmusik. Sie haben seit Beginn der 70er Jahre, das Wahre, Saubere und Anständige in der Musik ein für allemal festgelegt und für sich gepachtet, Rory Gallagher live auf der Bühne – da wippen die jeansbeinigen Parka-Herren und gießen sich ihr Bierchen hinter die Binde.
Es gibt aber auch sie; die „Reinhalter“ der todernsten Avantgarde, die darauf achten, daß ihre Band linientreu bleibt, keine Verträge mit Plattenkonzernen unterschreibt, das Fernsehen meidet und den leisesten Hauch von Kommerz demonstrativ verabscheut Jeder Verrat wird wild geahndet Vorbei an Papas Rock und Bubis Welle geht ein Trend, den ich seit drei Jahren vermarkte: die Band und ihr Video. Das heißt. Die Musiker gestalten (auf Kosten der Plattenfirmen) ihre Musik in Form kleiner Filme, die sie dann dem Fernsehen zur Verfügung stellen. Papa und Bubi jaulen auf: Wo bleibt die Kritik? Findet hier die totale Abhängigkeit statt?
Diese Argumente langweilen mich tödlich, sie sind so verstaubt wie ihre Verkünder, die deutschen Saubermänner des vielbeschworenen „Feelings“. Durch Videos, gute oder schlechte, hat sich die Vielfalt der Musikszene erhalten, nicht durch Selbstkasteiung, die eine musikalische und formale Begrenzung zementiert Seit drei Jahren mache ich die Sendung Pop Stop, die zu 90% aus dem Industrieprodukt „Musikvideo“ besteht. Etwa 30 Filme habe ich pro Sendung zur Auswahl, acht werden eingesetzt, 15 Sendungen laufen pro Jahr. Ich habe also in dieser Zeit etwa 360 Videos dem Zuschauer vorgesetzt.
Darunter waren aufreißerische, rein kommerzielle Produkte – oder aber Filme des IC-Labels von Klaus Schulze, in denen wild experimentiert wurde Blondies kalter Sex, Bowies überhöhte Kunst, Gabriels übertüftelte Anklage, Steve Stranges perfekte Dekadenz, die gigantischen Auftritte der Rolling Stones in Amerika, die verspielte Parodie von Hayzee Fantaysee, die sparsame Interpretation der Neonbabies über moderne Liebe.
Durch die Präsentation der Videos kann ich einem, wie ich finde, mündigen Zuschauer zeigen: Das gibt es zur Zeit, so stellen sich die Musiker dieser Band dar, diese Form, diese Technik wird benützt; such Dir aus, was Dir gefällt.
Es ist mir völlig egal, wenn eine Band ein Kunstprodukt ist und nur einen Singletitel beherrscht, solange die Musiker ihren persönlichen Ausdruck gefunden haben. Es ist allein das Problem des Künstlers, wenn er sich dabei entblödet. Ich brauche dieses Video ja nicht zu senden.
Die Öko-Bewegung mit ihrer Wiederentdeckung von Natur und Gefühl, die neue Sachlichkeit, Aufrüstung, Friedensbewegung, widersprüchliche Trends, Extreme, die nicht zu verbinden sind – dies alles macht unsere Gesellschaft aus. Durch die Auseinandersetzung kommt Bewegung ins Hirn, nicht durch die dogmatische Festlegung auf eine einzige Spielform.
Immer wenn eine Form aufgelöst wird und sich die Musik neue Wege sucht, jammern die Konservativen. Bob Dylan löste 1965 mit seiner elektrischen Gitarre im Folkland Amerika wildes Entsetzen aus.
Auch beim Musik-Video klagen sie. Wo bleibt das Echte? Dabei sind diese Filme, wenn sie gut gemacht werden, die aufregendsten kleinen Gesamtkunstwerke, die es im Augenblick gibt. Niemand braucht deswegen auf Livemusik verzichten. Im Gegenteil.
CONTRA: Christian Wagner („Rockpalast“)
TV-Aufzeichnungen bei Live-Konzerten sind von vorproduzierten Musik-Videos so verschieden wie Live- von Studio-Platten. Es gibt beides, sie bedeuten etwas völlig Verschiedenes.
Rock’n’Roll hat vor über 25 Jahren als Live-Ereignis angefangen, grundsätzlich hat sich da bis heute nichts geändert: Auf der Bühne wird Musik gespielt, ein Publikum nimmt sie auf und reagiert, egal wie. Es findet alles im Moment statt, geschieht wirklich, ist in den besten Fällen ein Erlebnis, ist live.
Das ist auch der Grundgedanke des „Rockpalasts“. Für uns ist die beste Art, Rock’n’Roll im TV zu präsentieren, eben das Live-Konzert.
Videos entstehen nicht im Moment. Sie benutzen zwar das gleiche Medium, aber auf andere Weise. Die elektronische Trick-Technik hat unbegrenzte Möglichkeiten. Man kann mit ihr zaubern, Illusionen erzeugen, Träume verwirklichen. Das ist faszinierend.
Die Kurzfilme, die heute z.T. als Musik-Videos entstehen, sind beeindruckend. So viele Iieen in 31/2 Minuten – nur: Es sind Kurzfilme mit Musik. Videos benutzen Musik in untergeordneter Beziehung. Im Vordergrund stehen Geschichten, die entweder durch die Songs vorgegeben sind oder über die Gesichter beziehungsweise Ausdruck den jeweiligen Musikern zugeordnet werden können. Das ist wichtig. Beispielsweise wäre in England der Erfolg von Human League, Visage, Adam Ant und anderen ohne Videos nicht zustande gekommen. Es werden Formeln ausgedacht, Hülsen geschneidert, welche Inhalte da drinstecken, ist nicht so wichtig.
Die Gestaltung von Videos läuft parallel zur Entwicklung im Fernsehen überhaupt. Sie zielt darauf ab, Wirklichkeit nur noch durch den Bildschirm zu erfahren. Per Knopfdruck kommt die Welt ms Haus, ungefährlich, bequem. So auch Musik. Diese wird allerdings nur noch vermittelt präsentiert. Sie bildet die Untermalung für eine Spirale von Eindrücken und Reizen. An deren Ende bleibt Langeweile, sterile Perfektion, Auflösung von Identität und Spannung.
Das wird bei Live-Konzerten nie geschehen können. Da gibt’s nur die Musik. Die Spannung, Unberechenbarkeit, Intensität dieser Ereignisse kann eben nur stattfinden, wenn alle Beteiligten genau wissen, daß es hier und jetzt passiert.
Und das haben TV und Rock’n-‚Roll gemeinsam: Live sind sie nach wie vor am besten.