Kraftwerk
Man nennt sie „die Beatles der elektronischen Tanzmusik“. Mit drei Konzerten in der Alten Kongresshalle und einer mehrwöchige Ausstellung in München feiert sich die Legende selbst.
Es wird immer weitergehen: Musik als Träger von Ideen“, verspricht die Menschmaschine Kraftwerk seit nunmehr 25 Jahren, seit ihrem wegweisenden Stück „Techno Pop“. Heute wiederholt sie ihr Mantra in der ausverkauften Alten Kongresshalle in München, deren Flair so wunderbar zum Retro-Futurismus jener Düsseldorfer Musikarbeiter passt, dass man sie an diesem Abend schon fast zum fünften Bandmitglied zählen mag. Selbst die oft als schwierig bemängelte Akustik der holzverkleideten Halle meistern die Elektropioniere formvollendet.
Trotzdem achten ihre Fans weniger auf den Sound als auf die 3-D-Bilder, die den Sound begleiten: Bei „Vitamin“ fliegen dem mit 3-D- Brillen versorgten Publikum entsprechende Vitaminkapseln entgegen, bei „Numbers“ schieben sich die Zahlen regelrecht in den Zuschauerraum. Die so effektreich aufbereiteten Videos stammen allesamt aus früheren Shows und bieten inhaltlich darum ebenso wenig Neues wie die Songauswahl selbst, die bis auf das nicht gespielte „Taschenrechner“ so ziemlich alle bekannten Stücke – wenn nicht gar: Hits – der Band enthält. Immerhin erfahren Werke wie das 1981 veröffentlichte „Computerwelt“ mit dem derzeit diskutierten Bundestrojaner eine verblüffende Aktualität: „Interpol und Deutsche Bank, FBI und Scotland Yard, Flensburg und das BKA haben unsere Daten da.“ Dass die Zuschauer beim Kauf ihrer personalisierten Eintrittskarten ebenfalls ihre Daten preisgeben mussten, bleibt von der Gesellschaftskritik Kraftwerks unberücksichtigt. Überhaupt scheint solche Kritik eher universal zu sein, als dass sie auf aktuelle Missstände reagiert. Darum verzichtet man wohl auch darauf, „Radio-Aktivität“ zu aktualisieren: Von Fukushima war in der Katastrophen-Auflistung „Tschernobyl, Harrisburg, Sellafield und Hiroshima“ jedenfalls nichts zu hören. Ein Update der Kraftwerk-Klassiker geschieht lediglich musikalisch, indem zum Beispiel Bässe und Rhythmen heutigen Hörgewohnheiten angepasst werden, so, wie man es aber auch schon von früheren Konzerten oder von der Neubearbeitung der Stücke auf dem Album The Mix kennt.
Die Stimmung stört das bei der ersten von drei ausverkauften Shows in der Alten Kongresshalle nicht. Mit ihrem Hit „Die Roboter“ eröffnen Kraftwerk die Show und steigen damit gleich ganz oben ein. Unablässig feuert die Band nun einen Hit nach dem anderen ab, wobei vor allem die Visuals die Zuschauer das Konzert bewundern lassen wie ein gigantisches Feuerwerk.
Umso auffälliger erscheinen die Momente, wo die Begeisterung des Publikums nachlässt, und sich Unruhe im Saal breitmacht. Ausgerechnet das legendäre „Autobahn“ scheint mit seinem lehrfilmartigen Trickfilm das Publikum ein wenig zu langweilen: Unbemannte Autos fahren hier als einzige Vertreter einer Zivilisation über eine Autobahn, die durch eine grüne, unbebaute Landschaft führt. Überraschend werden in der Musik nach einem Break die Beats per Minute beschleunigt; fast meint man, die erste Improvisation der Band inmitten eines Konzerts mitzuerleben. Doch das Publikum richtet seine Aufmerksamkeit weiterhin auf jene Zeichentrick-Autobahn, die nun an Fabriken mit rauchenden Schornsteinen, an Städten und an braunen Ackern zwischen den grünen Flächen vorbeirast.
Verhaltensauffällige Zuschauer versuchen derweil ihre Unruhe mit demonstrierter Textsicherheit zu kaschieren, indem sie laut das Wort „Autobahn“ mitgrölen. Oder sie erzählen lautstark ihrer Begleitung und den anderen Umherstehenden, was sie gerade sehen. Weil aber genau das zur Zeit ein wenig ermüdet, ist wohl der Augenblick gekommen, sich einmal im Saal umzudrehen, um all die anderen Zuschauer mit den rot-grünen Brillen auf den Nasen zu beäugen. Dass die vier auf der Bühne aufgereihten Männer in den schwarzen Funktionsanzügen hinter ihren Podesten die Visuals und vor allem auch die Musik tatsächlich live gestalten, scheinen nur die wenigsten zu registrieren.
Offensichtlich ist hier längst nicht mehr die Musik der Träger von Ideen, sondern trägt die Idee „3-D-Projektion“ die Musik von Kraftwerk. Wer das allerdings kritisieren mag, verkennt den Umstand, dass diese Konzerte nur Nebenprodukte einer Kraftwerk-Ausstellung im Kunstbau des Münchner Lenbachhauses sind. Neben den berühmten, wenngleich mit den Gesichtszügen der neuen Bandmitglieder versehenen Robotern, die im Konzert fehlen, sieht man hier auch zahlreiche der im Konzert verwendeten 3-D-Projektionen. Dazu läuft Musik von Kraftwerk, sodass der Museumsbesuch hier fast wie ein Konzerterlebnis funktioniert. Wo andere Ausstellungen solche Videokunst noch über kleine Bildschirme transportieren, geraten die gezeigten Videos im Kunstbau zu einer raumfüllenden Installation. Weil die notwendige Technik allerdings das Budget des Hauses sehr belastet, ist die Ausstellung leider nur bis zum 13. November in München zu sehen. Danach soll sie im New Yorker Museum of Modern Art gezeigt werden.
Solche Ehrung von Popmusikern als Künstler und Kunstwerk gleichermaßen dankt die Formation um das einzige übrig gebliebene Gründungsmitglied Ralf Hütter mit jenen werbewirksamen Konzerten, die vor der Eröffnung auf die Ausstellung aufmerksam machen. Über zwei Stunden dauert das Spektakel, das auch Raritäten, wie das live selten gespielte „Spacelab“, zu Gehör bringt und so mit Ausnahme von „Metropolis“ fast das gesamte Album Die Mensch-Maschine aufführt. Am Ende verlassen Stephan Pfaffe, Fritz Hilpert und Henning Schmitz nacheinander die Bühne. Übrig bleibt Hütter, der noch ein paar Harmonien und Vocals über „Musique Non Stop“ legt. „Das war’s“, spricht er schließlich in das Mikrofon seines Headsets. Abgang. Was macht ein Roboter eigentlich backstage?
Dirk Wagner
SetList
Die Roboter
Electric Café
Numbers / Computerwelt
Planet der Visionen
Heimcomputer
Die Mensch-Maschine
Tour de France / Tour de France 2003
Vitamin
Autobahn / Autobahn (148 BPM Version)
Das Modell
Neonlicht
Schaufensterpuppen
Radio-Aktivität
Trans Europa Express / Metall auf Metall / Abzug
Spacelab
Elektro Kardiogramm
Aerodynamik
Boing Boom Tschak / Techno Pop
Musique Non Stop