Kuschelrock für Skater?
Von der Nu Metal-Kopie zum Verkaufsschlager: Staind treiben ihre Entwicklung mit dem vierten Album 14 Shades Of Grey auf die (kommerzielle) Spitze: Eingängiger geht es kaum noch ...
Er gilt als extremer Grübler, gefangen im Reich seiner Dämonen, in den Folgen einer komplizierten Jugend und der Ernüchterung seines Promi-Daseins: Aaron Lewis, Sänger, Songschreiber und Schwermutsinstanz von Staind. Liest man seine mitunter gewaltig auf die Emo-Tube drückenden Lyrics, erfährt man: die Last des Erfolges drückt, das Dasein als Individuum ist ein gar schwieriges, das Leiden der Welt lastet schwer auf seinen tätowierten Schultern. Und jetzt ist er auch noch Vater geworden, „die größte und spannendste Aufgabe, die ich je zu bewältigen hatte“. Doch erstmal sagt er gar nichts. Außer: „Sorry, ich muss jetzt telefonieren. Meine Frau vermisst mich, meine Tochter hat Grippe. Ich muss Prioritäten setzen.“
So sitzt nun Bassist Johnny April ganz alleine da, mit dicken Kopfhörern auf der grau melierten Asketen-Rübe, und fragt verunsichert: „Willst du echt ohne Aaron anfangen? Die meiste Zeit dreht sich doch altes um Aoron, seine Lyrics, seine Sorgen; ich weiß nie, was ich dazu sagen soll. Ich bin es wirklich nicht gewohnt, alleine über Staind zu sprechen.“ Der sich da so schüchtern gibt, ist immerhin Mitglied einer der erfolgreichsten US-Corporate-Rock-Bands der letzten Jahre (allein ihr letztes Album Break The Cycle verkaufte sich an die sieben Millionen Mal). April denkt lange nach, bevor er sich über das neue Album 14 Shades Of Grey Folgendes entlocken lässt: „Wir werden von Album zu Album besser darin, den wirklichen Charakter von Staind auf Tape zu bannen. Wir wissen immer exakter, was wir zu tun haben, um zu erreichen, was wir wollen.
Was sie wollen, ist offensichtlich: Rockmusik schreiben, die authentisch ist, aber gleichzeitig mit ihrer Zugänglichkeit und plakativen Melancholie niemanden vor den Kopf stoßen möchte. Oder wie kommt es sonst, dass die einstigen Metal-Stakkati und kompromisslos rausgekotzten Aggressionen einer allgemeinen Mainstream-Orientierung zum Opfer fielen? Man nehme nur „Zoe Jane“, eine Stadionrock-Ballade reinsten Wassers, die plakative Liebeserklärung an Lewis‘ gleichnamige Tochter. „Mit der aggressiven Musik sind wir mehr und mehr durch“, erklärt April. „Da gibt es für uns nichts mehr zu entdecken. Es ist einfach der natürliche Weg, den diese Band nimmt, immer melodiöser und zugänglicher zu werden.“ Man könnte jetzt auch Berechnung unterstellen. Verkauft sich halt gut, so ein bisschen ernst gemeinter Kuschelrock für adoleszente Skater-Kids. Johnny April gibt zu: „Sicherlich könnte man das, und es wird wohl auch eine Menge Kritiker geben, die exakt das tun werden. Aber das trifft nicht den Kern von Staind. Ich zum Beispiel habe noch nie Heavy Metal gehört – diese frühen, sehr harten Songs von uns entsprachen also keineswegs meiner eigentlichen Natur. Und den anderen geht es im Prinzip genauso, so unterschiedlich unsere musikalischen Einflüsse auch sind.“
Die Tür geht auf, Aaron Lewis entert den Raum, während Johnny April tief durchatmet und umgehend verstummt. Lewis übernimmt. Der Mann redet wie in Zeitlupe über die Gratwanderung zwischen Ehrlichkeit und Seelenstriptease in seinen Songtexten. „Das ist das Einzige, was ich kann: Dinge aufzuschreiben, die mich beschäftigen, so wie sie mir durch den Kopf schießen. Es hilft nichts, ewig daran herumzuschrauben, die Sachen werden dann nicht besser. Alles, was wir tun, ist purer Instinkt. Es gibt keine großen Konzepte, nur intuitives Handeln.“
Jenes war allerdings nicht immer derart massentauglich: Ihr in kleiner Stückzahl vertriebenes Debüt Tormented (mittlerweile wieder über ihre Homepage www.staind.com erhältlich) zeigte Staind noch als wütende, mit kontroversen Texten und fragwürdigen Visuals spielende Mittelklasse-Metaller, die ihrer Provinz-Idylle in Springfield, Massachusetts, zu entrinnen suchten. Seit Limp Bizkit-Chef Fred Durst aus den Jungrebellen eine Erfolgsband formte, machten sie alles richtig: mit Dysfunction ein beherzt zupackendes Nu Metal-Majordebüt, mit Break The Cycle einen entschieden reiferen Nachfolger, und nun, mit 14 Shades Of Grey, die logische Poprock-Konsequenz aus 16 Wochen an der Spitze der US-Albumcharts (mit Break The Cycle) und weltweit ausverkauften Tourneen. Jetzt sind sie dort angekommen, „wo ich eigentlich niemals ernsthaft hin wollte“, beteuert Lewis: im Olymp der hitparadentauglichen Megaseller. „Am Ende ist unsere neue Platte aber nichts als das vorbereitende Vehikel auf unsere eigentliche Stärke: das Livespielen.“ Ein Anliegen, mit dem es ihnen offenbar Ernst ist – kürzlich wurde die erste Kurztournee durch die Staaten für Mitte Mai bestätigt, bei der Staind in großen Hallen und vor allem ohne Eintritt ihr neues Album vorstellen,
www.staind.com (14 Shades Of Grey wird im ME 7/2003 besprochen).