Lorde: Die feine Kunst des Draufscheißens
Lange vor Billie Eilish war Lorde der erste große Teenage-Seelenkunde-Popstar der Zehnerjahre. Nach langer Pause hat sie nun mit Mitte zwanzig ein Album über die heilenden Kräfte von Sonne und Natur geschrieben. SOLAR POWER klingt so, wie sich ein guter Sommer anfühlt: frei, leicht, optimistisch und offline. Begegnung mit einer Frau, die gelernt hat, sich von dem Millionenpublikum zurückzuziehen, für das sie singt.
+++ Dieser Text erschien zuerst in der Musikexpress-Ausgabe 09/2021 und im selben Monat auch auf musikexpress.de. Wir haben ihn am 23. September 2022 aktualisiert, weil Autorin Annett Scheffel einen Music Journalism Award beim Reeperbahn Festival in der Kategorie „The Year’s Best Work Of Music Journalism (Text – German)“ gewonnen hat. Herzlichen Glückwunsch! +++
Im Frühsommer, als die Temperaturen und Impfzahlen langsam stiegen, war in amerikanischen Magazinen vom „Hot Vax Summer“ zu lesen gewesen. Der heißersehnte Sommer, in dem man nach einem langen Jahr der Pandemie endlich wieder ein bisschen mehr Nähe zu anderen Menschen genießen kann. Un-social distance like it’s 2019! Oder so ähnlich. Auf jeden Fall: Sonne, liebe Menschen, vielleicht ein Strand, ein bisschen Leichtigkeit. Mehr will man ja gar nicht.
1. SOLARENERGIE
Auftritt Lorde. Mitten hinein in diese zarte Aufbruchsstimmung platzt im Juni die erste Single ihres dritten Albums. „Solar Power“ ist eine kleine Überraschung. Zumindest für diejenigen, die noch den nachtblauen, elektronischen Post-Break-up-Pop ihrer vorherigen Platte im Ohr hatten, die stürmischen House-Pianos und wild gehauchte Falsett-Refrains. „Solar Power“ dagegen ist ein federleichter Sommersong, luftig und sonnenbesprenkelt. Er schüttelt den ganzen alten Gefühlsballast ab. Ein Neustart, der nach einer Mischung aus warmem Laurel-Canyon-Folk, der Akustikgitarre aus George Michaels „Faith“ und dem federnden Beat aus Primal Screams „Loaded“ klingt (obwohl die Ähnlichkeit unbewusst sei, habe ihr Bobby Gillespie seinen Segen gegeben, erzählte sie in einem Interview mit Zane Lowe). Am Ende hört man das Zirpen von Zikaden, das sie in Neuseeland aufgenommen hat. Es ist Lordes Sommerhit-Moment, mit dem sie sich in eine lange Reihe von Popstars einreiht, die der sonnigen Jahreszeit ihre Aufwartung machen: wie Mariah Carey am Meer im Video von „Honey“, Aaliyahs „Rock The Boat“ oder – etwas melancholischer – „Summertime Sadness“ von Lana Del Rey.
Ella Yelich-O’Connor – 24 Jahre alt, geboren 1996 in Takapuna, einem Strand-Vorort von Auckland – singt also nicht mehr über rauschende Nächte, sondern über den Sommer als Befreiung von Körper und Seele: „My cheeks in high colour, overripe peaches. No shirt, no shoes, only my features.“ Hier werden alte Zeilen von A Tribe Called Quest genauso lässig zitiert wie Handys ins Wasser geworfen werden – „can you reach me“, jubiliert sie frech, „no, you can’t!“. Und die beste, bissigste Zeile, in der Lorde singt, sie sei „kinda like a prettier Jesus“, hat längst ihren Weg in zahllose Internet-Memes und Dating-Profile gefunden. Eigentlich ist „Solar Power“ aber genau das Gegenteil von Online-Sein. Die Message ist: Unplug yourself. Ein Tag am Meer hat eine heilende Wirkung.
Szenenwechsel. An einem heißen Julitag sitzt Lorde weit weg von Neuseeland, in einem Hotelzimmer in New York City, und gibt Interviews per Videoschalte. Schlichtes weißes Top, die Haare nach hinten gebunden, breites Lächeln. Ella wolle ihre Handykamera lieber nicht anstellen, hat es vor dem Gespräch vom Label geheißen. Sie ist bekannt für ihre Zurückgezogenheit. Sie mag es nicht, ständig sichtbar zu sein. Zwei Minuten vor dem Interview hat sie dann doch Lust auf Bildschirmblickkontakt. Und so kommt es, dass sich Popsängerin und die darauf unvorbereitete Musikjournalistin schließlich beide ohne Make-up und BH gegenübersitzen, verbunden durch eine mittelstabile Internetverbindung und ihre Liebe zum Sommer.
„Für mich ist das jedes Jahr wie eine spirituelle Verschiebung“, sagt sie. „Wenn die Sonne scheint, verändert sich meine ganze Stimmung. Darum geht es im Video zu ‚Solar Power‘. Die Frau, die im Video zu sehen ist, das ist die Frau, die dann aus mir herausbricht.“ Im Video tanzt sie mit welligem Haar wie eine vierte Haim-Schwester an einem Strand, umgeben von einer Art Mittsommer-Hippie-Gefolgschaft.
Ich frage, ob Ella Yelich-O’Connor sich als Mensch genauso selbstsicher fühlt, wie diese Frau im Video in ihrem zitronengelben, bauchfreien Kleid erscheint und wie der Song klingt? „Hmm, ich glaube schon. Ich bin immer selbstsicher gewesen, was meine Musik angeht, und meine Präsenz darin. Aber in den letzten Jahren habe ich mehr Selbstvertrauen gewonnen: in meinen Körper, in meine Weiblichkeit, in meine Verbindung zu allem, was mich umgibt. Ich bin viel spielerischer und offener geworden, was das angeht. Nicht mehr bloß tough.“ Erwachsenwerden, das ist, frei nach dem amerikanischen Selbsthilfeautor Mark Manson, ja immer auch die Erlernung der feinen Kunst des Draufscheißens.
2. A NEW STATE OF MIND
Lorde hat sich mit ihrer neuen Platte Zeit gelassen. Keiner der jungen Popstars der vergangenen Jahre kann so gut und so komplett von der Bildfläche verschwinden wie sie. Nach der Veröffentlichung von MELODRAMA 2017 und der anschließenden Tour löschte sie ihre Social-Media-Kanäle und zog sich nach Neuseeland zurück. Höchstens zweimal im Jahr tröpfelten kleinere Meldungen in die Öffentlichkeit: dass sie begonnen habe, neue Songs zu schreiben, ihr Hund Pearl gestorben sei oder sie einen Trip in die Antarktis gemacht habe. Nur, um sich das noch einmal bewusst zu machen: Zur Zeit der vorherigen Platte wusste die Popwelt noch nichts von einer Billie Eilish, dem anderen sehr jungen Songwriting-Talent und Teen-Superstar des vergangenen Jahrzehnts.
Eine ähnlich lange Pause gönnte sie sich schon nach dem scharfsinnigen Debüt PURE HEROINE, das 2013 aus einer unbekannten 16-Jährigen vom anderen Ende der Welt einen Popstar machte. „Ich bin jemand, der abhauen muss, um herauszufinden, was ich als Nächstes machen will. Ein Album, das ist für mich immer ein komplettes, eigenes kleines Universum. Das braucht eben Zeit“, sagt sie und setzt sich mit ihrem Handy ans Hotelfenster, ins diffuse Vormittagslicht von Manhattan, hin- ter ihr eine typische New Yorker Brick Wall. „Ich weiß, dass sich die Leute schneller neue Musik von mir wünschen. Aber das ist nicht so einfach. Ich mache nur Alben über wirklich bedeutsame Phasen in meinem Leben, über die ich schreiben muss, die ich sortieren, dokumentieren und mit anderen teilen will. Um ehrlich zu sein, glaube ich, ich würde kein weiteres Album aufnehmen, wenn keine interessanten, besonderen Sachen mehr in meinem Leben passieren würden.“
Lorde beginnt zu grinsen, auf ihrem New Yorker Fensterbrett. Ein breites Grinsen, das von einem leisen Glucksen begleitet wird. Kein Zahnpasta-Lächeln, sondern warm und natürlich leuchtend. Sie zeigt mit der Handykamera auf die Ampelkreuzung unten auf Straße, die gerade von einer wilden Kinderschar (wahrscheinlich eine Schulklasse) mit überschwänglichen Armbewegungen überquert wird. „Hoffentlich geht keiner verloren.“
Zeit und Privatsphäre, das sind die erneuerbaren Energiequellen im Leben von Lorde. Und wie gut sie ihre Akkus aufgeladen hat, das merkt man der neuen Platte an. Oder anders: Lorde ist immer ihre Lieder und ihre Lieder sind sie. Und die Lorde auf SOLAR POWER ist eine neue, eine andere Lorde. Während es auf PURE HEROINE um Erzählungen aus dem Leben einer gelang- weilten, post-digitalen Vorstadtjugend ging, dreht sich MELODRAMA um die turbulenten Jahre des Erwachsenwerdens: Liebeskummer, Hedonismus, Rausch, Einsamkeit. SOLAR POWER ist wiederum eine Platte über die Kräfte der Natur geworden: über eine Welt in „acid green, aquamarine“ und weite Horizonte. Über das Durchatmen und die Gelassenheit, die mit dem Alter kommt (Lorde ist zwar erst 24, aber eine old soul). „It’s a new state of mind. Are you coming my baby?“, heißt es in der Lead-Single. Wenn man so will, steht jede Lorde-Platte symbolisch für eine Reise: von der Vorstadt ihrer Jugend in Auckland (PURE HEROINE) in die funkelnde Großstadt New York (MELODRAMA) und von dort wieder zurück an die neuseeländische Küste (SOLAR POWER).
Lorde sagt, entstanden sei das neue Album aus dem Gefühl heraus, alles abschütteln zu wollen, besonders die Klamotten, um Sonne an die nackte Haut zu lassen. Dazu passt das Coverfoto, auf dem sie in einem Bikini über eine Kamera mit Fischaugenobjektiv springt. Und sagen wir so: Für Lorde, die nicht dafür bekannt ist, besonders gern viel Haut zu zeigen, sieht man ziemlich viel Po. „Das wirkt auf den ersten Blick vielleicht erst mal ein bisschen krass, eigentlich bin das aber nur ich an einem Strand, wie ich über eine Freundin springe. Es fühlte sich genau richtig an: unschuldig und frei und ein bisschen wild.“
3. IN A LAND FAR, FAR AWAY
SOLAR POWER ist, wenn man so will, Lordes zwischenmenschlichste, verbindendste Platte bisher. Kurz gesagt: Es geht nicht mehr nur um sie. Und sie singt auch nicht mehr nur allein – zum allerersten Mal. Für „Solar Power“ haben die Songwriterinnen Phoebe Bridgers und Clairo die Backing-Vocals eingesungen. „Ich wusste, dass es um Gefühle und Stimmungen geht, die ich nicht allein abliefern kann. Es musste eine Gang sein.“
Vor allem anderen ist SOLAR POWER aber vielleicht eine Platte darüber geworden, wie sich für sie zu Hause der Sommer anfühlt. Neuseeland ist ihr Rückzugsort. Kein Land ist so weit weg von der westlichen Aufmerksamkeitsökonomie und Celebrity-Kultur. Hier gibt es kaum Paparazzi, hier kann sie sich ungestört den Freuden eines langen Sommertages hingeben: Tomaten und Bohnen in Kästen anbauen und mindestens zweimal am Tag schwimmen gehen.
Was ist das Besondere am neuseeländischen Sommer?
Lorde: Ich glaube, das hat viel mehr mit unserem Verhältnis zu ihm zu tun, als mit dem Sommer selbst. Für uns fühlt sich ein sonniger Tag wie ein großes Geschenk an. Und das wollen alle nutzen. Alle wollen raus. Ich kann an einem sonnigen Tag nicht drinnen sitzen. Es gibt diese starke übergreifende Draußenkultur.
Hat sich dein Verhältnis zu deiner Heimat verändert?
Lorde: Ja, als ich jünger war, wollte ich nur weg aus Neuseeland und in eine große Stadt ziehen. Irgendwie fand ich es nervig, aus diesem kleinen Land am Ende der Welt zu kommen. Jetzt kann ich mir eigentlich nichts Cooleres vorstellen als das. Es kommt mir vor wie ein doppelter Glücksfall: Meine Familie und Freunde sind dort, geliebte Menschen, zu denen ich eine tiefe Verbindung spüre. Außerdem ist Neuseeland ein Ort für mich, der sich im Gegensatz zu meinem öffentlichen Leben so privat und geheim anfühlt. Das ist sehr kostbar für mich.
Glaubst du, dass der Ort, an dem man aufwächst, einen für immer prägt?
Lorde: Auf jeden Fall. All die Dinge aus der Kindheit, das ist etwas sehr Besonderes. Die Lieblingsgerichte, die Gerüche, die Strände, die Natur um dich herum. Ich habe in den letzten Jahren erst angefangen zu begreifen, wie viel Bedeutung das für mich hat.
Ich habe gelesen, dass du gerne angelst?
Lorde: Ja! Das ist auch so eine Sache von früher. Mein Vater hat als Kind immer mit mir geangelt. Er hat es mir beigebracht. Und ich bringe es jetzt Freunden oder meinem kleinen Bruder bei. Eigentlich gibt es nichts Cooleres und Sinnstiftenderes als das, oder? Das Gefühl, etwas weiterzugeben. Ich habe noch keine Kinder, aber ich glaube, es gibt eine tiefere Ebene von Erfüllung. Und die spüre ich auch, wenn ich mit meinen Freunden Sachen esse, die wir selbst angebaut oder gefangen haben.
Gehört das für dich zum Erwachsen werden: Dinge weiterzugeben und Teil eines Kreislaufs zu werden?
Lorde: Ja, total. Jetzt, wo du das so sagst … genauso fühlt sich das neue Album für mich an. Also ob ich das, was ich bekommen und erreicht und erfahren habe, weitergebe. Und wenn es nur dieses unfassbare Gefühl ist, bei Sonnenuntergang schwimmen zu gehen.
Flashback ins Jahr 2013. Da knallte ein Song als rätselhaft schimmerndes Wunderding mitten ins Zentrum der Popwelt: „Royals“ war cool, abgespeckt, zwingend in seinem musikalischen Understatement, mit anthropologischem Gespür für lyrische Moment- aufnahmen. Geschrieben hatte ihn ein frühreifes Mädchen, das noch bei seinen Eltern in Auckland wohnte, seit der Grundschule ein Bücherwurm gewesen war und plötzlich als Viral-Hit auf Abermillionen Computerbildschirme gebeamt wurde. Die Single machte sie zur jüngsten Solokünstlerin auf Platz 1 der amerikanischen Billboard-Charts (und zur ersten Neuseeländerin!). 2017 folge die schwere, zweite Platte. Und die klang ganz anders: große, intensive, clever produzierte Dance-Pop-Nummern über Liebeskummer und den Möglichkeitsraum der Nacht. Es war ihre erste Neuerfindung.
Wie ist das, wenn du die alten Platten jetzt hörst?
Lorde: Ich sehe sie wie Zeitkapseln. Besonders die erste. 16 zu sein, das ist so eine spezifische und empfindliche Zeit im Leben eines jeden Menschen. Es ist toll, sich in diese Zeit zurückversetzen zu können. In die Gedanken, die mich nachts wachhielten. Wenn ich mir das heute anhöre, bin ich fast ein bisschen stolz auf mein 16-jähriges Ich. Darauf, wie ich mich durch all die Unsicherheiten und Ängste navigiert habe. Und wie ich sie für die Songs kondensiert habe.
Was, würdest du sagen, ist die Schnittstelle zwischen der Lorde von damals und der von SOLAR POWER?
Lorde: Das Nachdenken über die Zukunft. Mit 16 habe ich mir darüber viele Sorgen gemacht: darüber, wie sich mein Leben bald ändern würde, wie es wohl aussehen und sich anfühlen würde, erwachsen zu sein. Auf der neuen Platte drehen sich meine Gedanken eher darum, wie meine Kinder wohl sein könnten, wie viel von meinen Eltern in mir steckt und durch mich weiterwirkt, oder wie der Mensch die Erde verändert. Es geht um den Lauf der Zeit und das Grübeln über das Älterwerden. Dazu gehört, sich zu fragen, ob man die richtigen Entscheidungen getroffen hat. Mich beruhigt es, das alles aufzuschreiben.
4. DIE SCHMELZENDEN POLE
Apropos Zukunft. Wie viele junge Menschen ihrer Generation denkt auch Lorde viel über den Klimawandel nach. Bewegt von Donald Trumps Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen, den von Greta Thunberg losgetretenen „Fridays For Future“-Protesten und David Wallace-Wells’ Buch „Die unbewohnbare Erde“, reiste sie 2019 in die Antarktis. Für das neuseeländische Reportage-Magazin „Metro“ schrieb sie über diesen „aufregenden, spirituell intensiven“ Trip einen nachdenklichen Essay, der zusammen mit dem Fotobuch „Going South“ erschien, das ihre Reise durch die bedrohte, eisige Welt dokumentiert. „Ich stellte mir vor, wie die Antarktis langsam zu Schneematsch wird, der das Südpolarmeer überflutet“, heißt es in Ersterem.
Was war für dich die wichtigste Lektion deiner Reise in die Antarktis?
Lorde: Es war eine Reise in eine verschwindende Welt. Das Eis kommt einem im ersten Moment unendlich vor, als ob es für immer da sein wird. Und dann versteht man plötzlich, wie verletzlich und wie bedroht diese Umwelt ist. Es ist seltsam: Man weiß das eigentlich, aber wenn man wie ich in einer Stadt wohnt, wenn die Naturkräfte und diese riesigen unverfälschten Landmassen so weit weg sind, dann ist es schwieriger, das wirklich zu begreifen.
Inwiefern war der Trip wichtig für SOLAR POWER?
Lorde: In dieser rauen Natur zu sein, war wie eine Art Reinigung. Als ich zurückkam, fühlte sich alles klarer an. Und ich mich konzentrierter. Als ob da wieder ein Feuer in mir angegangen war. Mein einziger Gedanke war: „Mach bloß kein beschissenes Album. Es muss richtig gut werden.“
Wie politisch ist das Album gemeint?
Lorde: Na ja, ich bin keine Klimaaktivistin, sondern Popmusikerin. Das Thema beschäftigt mich persönlich sehr. Ich versuche, Emissionen, Energie und Müll zu sparen, wo es geht. Aber auf der Platte verfolge ich eher einen positiven Ansatz. Es ging mir nicht darum zu kritisieren, wie die Leute mit der Natur umgehen, sondern die Dinge, die ich an ihr liebe und bewahren will, zu zelebrieren. Es geht darum, wie kostbar das Leben ist.
5. DIE SONNE ÜBER LAUREL CANYON
Musikalisch vereint SOLAR POWER dabei einen Widerspruch: Es sei ihre bisher komplexeste Arbeit, sagt Lorde. Zugleich klingt alles auf dieser Platte sommerlich leicht und spielerisch. Der Sound ist so organisch und analog wie nie zuvor bei ihr. „Ich habe meine gesamte Jugend und frühen Zwanziger damit verbracht, die Hi-Hats und Snares so steril wie möglich klingen zu lassen. Als ich meine erste Platte gemacht habe, wäre ich lieber gestorben, als eine Akustikgitarre zu haben. Das war so Lagerfeuer und Typen mit dämlichen Hüten. Und dann war alles, was ich gerne hörte, Gitarrenmusik, und zwar die von 1972 und die von 2004.“
Wenn sie draußen in der Natur unterwegs war, erzählt sie strahlend in ihrer Fensterbank, habe es zwei Sachen gegeben, die sie gern gehört habe: „Westcoast-Pop und Laurel-Canyon-Folk, Joni Mitchell, The Eagles, Crosby, Stills and Nash. Musik, die wie Sonne klingt und die, glaube ich, eine tiefgreifende Reaktion auf das Wetter an der Westküste war. Und ich habe auch viel Nuller- jahre-Pop gehört: All Saints, TLC, Natalie Imbruglia, Sugababes. Songs, die auf eine andere Weise sonnig und hell schimmernd klangen: nach diesem speziellen Jahrtausendwende-Optimismus.“
Und so klingen Lordes neue Songs nach Westküste und Haim, nach klassischen Folk-Pop-Harmonien und Lana Del Reys CHEMTRAILS OVER THE COUNTRY CLUB. Sie klingen optimistisch, auch wenn sie von innerer Unruhe erzählen wie „Stoned At The Nail Salon“, in dem Folk-Melodien und existenzielle Gedanken zerstreut werden wie Licht in einem Prisma: Es geht um verblassende Schönheit, frühere Ichs und die Zirkularität des Lebens. Lorde singt: „Cause all the music you loved at sixteen you’ll grow out of. And all the times they will change, it’ll all come around.“ Produziert hat Lorde die neue Platte wie den Vorgänger zusammen mit Jack Antonoff, dem Songschreiber der großen Popfrauen (u.a. Taylor Swift, St. Vincent, Lana Del Rey).
6. EINFACH MAL OFFLINE SEIN
Am Ende spricht Lorde noch über das, was ihr an SOLAR POWER besonders wichtig ist: das Ausklinken aus dem Strom der Zeit. Sie hat das Handy vor sich abgestellt, um sich bequemer hinzusetzen, umarmt mit beiden Armen ihr herangezogenes Knie. Sie selbst besitze – inspiriert von dem Buch „How To Do Nothing“ der amerikanischen Künstlerin Jenny Odell – schon seit einer ganzen Weile nur noch ein sogenanntes Dumbphone, ein Handy alter Schule also, ohne Internet und Touchscreen. „Ich hoffe, dass mein Album mit einigen Hörern das macht, was das Buch mit mir gemacht hat: meine Aufmerksamkeit umzutrainieren und auf Dinge zu lenken, die wichtiger sind als Instagram. Mit meinem Hund jeden Tag in den Park zu gehen oder mit Freunden im Meer zu schwimmen, das können große, transzendente Momente sein.“
Vielleicht gibt es in diesem „Hot Vax Summer“ keinen Menschen, mit dem man einen besseren Tag am Strand verbringen könnte als mit dieser Ella Yelich-O’Connor. Aber die ist sicher schon wieder offline.
Lordes neues Album SOLAR POWER ist am 20. August 2021 erschienen.
Lordes SOLAR POWER hier im Stream hören: