MAJOR TOM


Sechs Jahre lang hat er wieder getüftelt. Ton für Ton, Sekunde für Sekunde bastelt Tom Scholz an einem gigsntischen Puzzle, das dann Jahre späte?! als BOSTON-Album das Licht der Welt* erblickt. Anläßlich seiner dritten LP THIRD STAGE ließ sich der lichtscheue Daniel Düsentrieb erstmals in die Chips schauen. ME/SOUNDS besuchte Scholz in seiner Heimat: in Boston natürlich.

Ende Oktober. Die letzten Tage des „lndian Summer“, des Altweiber-Sommers. Der Herbst malt mit verschwenderischen Farben ein Patchwork aus Umbra. Braun und Khaki.

Waltham liegt, etwa 20 Autominuten von Boston entfernt, in einer leicht hügeligen Landschaft. Bäume, Rasenflächen. Holzhäuser, gediegene Bürgerlichkeit, dezenter Reichtum. In unmittelbarer Nähe zum Highway hat Tom Scholz, Gründer und Mastermind der Band Boston, sein Hauptquartier in einem kastenartigen Bürogebäude: Scholz Research & Development, Ine… Ein großes längliches Labor mit Geräten. Meßinstrumenten und dienstbaren Geistern, zwei kleinere Büroräume, in denen mich Manager Jeff Dorenfeld empfängt. Hier wurde in den letzten Jahren der Rockman entwickelt, ein „Kopfhörer-Verstärker“ im Taschenbuchformat mit festgelegten Effektsounds.

Das kleine Gerät entpuppte sich als großer Renner. Dorenfeld hat eine (nicht zur Veröffentlichung bestimmte) Liste mit den Namen der Besitzer dieser Verstärker-Miniatur. „Irgendwann“, sagt er mit lässigem Stolz,“.haben wir aufgehört, die Liste zu verlängern. „Im Klartext: Nahezu jeder Musiker im internationalen Popgeschäft besitzt die Scholz-Erfindung — das fängt bei Jeff Beck an, geht über Eric Clapton, Steve Howe bis hin zu Ron Wood. Wenn nicht als Musiker, so wird Scholz zumindest als Erfinder dieses inzwischen weiterentwickelten Wunderdings („Sustainor“) im Pantheon der Populärkunst Erwähnung finden“.

Damit man als unbedarfter Journalist weiß, mit wem und mit was man es zu tun hat, führt der ständig grinsende Gitarrist Gary Pihl die Möglichkeit dieser technischen Errungenschaft dem staunenden Laien vor. Pihl. ein blonder Nice Guy mit jungenhaftem Gesicht, gehörte jahrelang zur Band von Sammy Hagar. Nun steht er da und gibt dem ME/ Sounds-Reporter eine One-Man-Show. Was er, vollkommen ungerührt und mit flinken Fingern, aus der billigen Gitarre hervorzaubert — alle Achtung! Obwohl auch die schnell umfunktionierte Stereoanlage allerhöchstens drittklassig ist, klingen die Sounds nach mehr: schrille Fuzzgitarre, glockenhelles Picking oder langstehende Tonwellen. Alles in diesem Gerätchen…

Nachdem Manager Dorenfeld den neuesten „Billboard“ gezeigt hat — mit Bostons drittem Album THIRD STAGE und der Single „Amanda“ auf Platz eins—, nachdem man über die astronomischen Tagesverkaufszahlen aufgeklärt wurde, kommt die Hauptperson. In einem Mittelklasse-Wagen. Lang. Hager. Brille. Tennisschuhe. Ein Allerweltsgesicht mit Augen, die einen nicht fixieren. Ein halbfester Händedruck, der sagt: He, so scheu bin ich gar nicht! Das ist also der Mann, der 1976 das am schnellsten verkaufendste Debütalbum aller Zeiten veröffentlichte. Das ist also der besessene Bastler, der nach seinem regulären Job als Product Designer bei Polaroid in den Abendstunden jahrelang an seinen Tapes herumdokterte. Das ist also der Magenschmerz von CBS-Oberboß Walter Yetnikoff, der zwei Jahre auf die zweite LP DONT LOOK BACK und vergeblich auf THIRD STAGE wartete. Das ist also der Mann, der mal eben acht Jahre verstreichen läßt und dann, ungeachtet aller musikalischen Entwicklung, mit seinem alten Rezept (power guitars, harmony vocals and double guitar-leads) all die Neutöner aussticht.

Tom Scholz — das wurde schon von Manager Dorenfeld angekündigt — muß beim Interview liegen: Probleme mit dem Rücken. Der Basketball-Fanatiker hat sich beim Sprung nach dem Korb eine Verletzung zugezogen, an der er immer noch herumlaboriert.

Tom liegt also lang hingestreckt auf dem Sofa. „Its im 1 … gut, ha, ha, ha“, lacht Scholz auf die Frage, ob ihm der eigene Erfolg nicht selbst ein bißchen spanisch vorkommt. „Ich kann es wirklich kaum glauben. Ich wußte natürlich nicht, was ich erwarten sollte — nach sechs Jahren. Mein einziger Wunsch war, ehrlich gesagt, ein Album zu veröffentlichen, das ich besser nicht machen konnte. Sollte es abgelehnt werden, dann hätte ich damit leben müssen. Würde es akzeptiert, um so besser …“

Es gibt mehr als Gerüchte darüber, warum Scholz nun wirklich sechs Jahre gebraucht hat. US-Plattenfirma und Scholz-Management ließen vor dem Interview verlauten:

Auf keinen Fall Fragen zu dem Firmenwechsel von Epic/CBS zu MCA/WEA. Die Betonung lag auf dem „keinen“. Sollte man als beamtete Schnüffelnase seinen Riecher in Dinge stecken, die einen nichts angingen, gefährdete man ganz offensichtlich die allgemeine Friede-, Freude-, Eierkuchen-Stimmung.

Nun, hier sind die Fakten, die inzwischen längst ein offenes Geheimnis sind: Perfektionist Scholz, der schon für DONT LOOK BACK die Nerven aller Beteiligten strapazierte und jede Deadline kippte, arbeitete an THIRD STAGE über 10000 Stunden in seinem — bezeichnender Name — Hideaway Studio. Obwohl mit 15 Millionen verkaufter Einheiten (Stand von anno dazumal) ein Lieblingskind seiner ehemaligen Firma — das war dann doch des Guten zuviel. Im fünften Jahr ohne Produkt – 1983 – verklagte Epic den Goldjungen wegen Nichteinhaltung der vertraglich festgelegten Fristen zur Ablieferung eines neuen Albums auf 20 Millionen Dollar Schadenersatz.

Scholz, ein großer Bub, der gerne mit teuren Sachen spielt, hatte schon in den 70ern mit seiner Naivität in Rechtsund Geschäftsdingen geglänzt. Juristen, Verträge, Klauseln, Kleingedrucktes — das alles haßt er. Das alles stört ihn bei seinem Spiel. Wer genau die Liner Notes und Dankeschöns liest, stößt auf folgenden Satz: „Don Engel dafür, daß er uns aus den Krallen derer, die Geld mehr als Musik lieben, gerettet hat.“

Ob das Bastei-Genie Scholz — zu seinen früheren Hobbies zählte auch der Modellflugzeugbau — wirklich gerettet ist, wird sich Anfang 1987 herausstellen. Dann nämlich geht’s vor den Kadi. Hätte Scholz bloß 1981 ja gesagt: Damals wollte ihn die CBS für „nur“ eine Million Dollar ziehenlassen.

Also zu diesem Thema keine Fragen. Das heißt, man darf auch nach den Gründen für die Verzögerung nicht fragen. Was Scholz unter

dem Titel „How 10 make a record in just six years“ verlauten läßt, ist bei aller Liebe zum Detail ein bißchen weit hergeholt: „Klebrige Runder, die an den Führungen klebten und vom Tonkopf losgepult werden mußten wie Klebeband.“ Wie, so frage ich mal ganz plump, sollte einem Tüftler wie Scholz der gravierende Fehler unterlaufen, keine Sicherheitskopie angefertigt zu haben? Aber wie sehr man auch hofft, daß Scholz von alleine zum Thema Plattenfirma kommt — kein Wort.

Scholz tummelt sich auf Gemeinplätzen. „Ich hoffe, daß ich nicht noch einmal solche sechs Jahre vor mir habe, hahaha, aber THIRD STAGE war das Album, das ich machen wollte und machen mußte.“

Der gute Tom weiß auch, daß seine Besessenheit „eine Bürde, eine Last, eine seltsame Leidenschaft ist. Es gibt eigentlich viele Dinge, mit denen ich sehr nachlässig bin. Aber alles, was ich erfinde, veröffentliche, was ich mit Überzeugung mache, muß meinen Qualitätsvorstellungen entsprechen. „

Das bedeutet in der Praxis: Scholz arbeitete zu Beginn der sechsjährigen Periode 50 bis 60 Stunden pro Woche: gegen Ende der Zeit war es dann nur noch eine 25-Stunden-Woche. „Länger konnte ich nicht mehr. „

Wenn die Stimmung im Keller war, sprach ihm seine Frau Cindy Mut zu. Zur Entspannung spielte er Basketball. Er mußte miterleben, wie seine Erfindung — der „Rockman“ — von all denen, die schneller waren als er, auf Platte vorgeführt wurde. Er beobachtete, wie der Punk-Urknall geschah und verrauschte. Er hörte irgendwann auf. Radio zu hören. Und die Band Boston existierte eigentlich gar nicht mehr. Da war nur noch Tom Scholz und Brad Delp, der Sänger. Alle anderen — Gitarrist Barry Goudreau, Bassist Fran Sheehan und Trommler Sib Hashian — waren des Wartens wohl überdrüssig geworden. Kein Wort über sie. „Ab und zu mußte ich mir einige der fertigen Songs anhören, um zu wissen, wofiir diese Schinderei eigentlich gut war. „

Hundertprozentig zufrieden ist Scholz nie. „Erst wenn ich richtig ausgebrannt bin, wenn ich diesen oder jenen Song nicht mehr hören kann, weiß ich: Der ist jetzt fertig. „

Wenn einer so einen langen Atem hat wie er, dann kann es passieren, daß ein Stück („Can’tcha Say“) nach zwei Jahren noch mal vollkommen neu aufgenommen wird — und daß ebenso viele Songs in den Mülleimer wandern wie auf dem Album sind. Bei Boston geht’s um Millisekunden. Scholz baut in einem gigantischen Puzzle seine Songs Sekunde für Sekunde. Tönchen für Tönchen auf.

Obwohl sie ihn zum Millionär gemacht haben, findet er von den ersten beiden Alben „eigentlich nur die Songs gut. Die Qualität und Aufnahme von BOSTON fand ich nie zufriedenstellend. Von „DON’T LOOK BACK“ mag ich die erste Seite, die zweite war von meinem Standpunkt aus gesehen, nie vollendet. Diesmal sollte nichts in die Läden kommen, diesmal sollte keiner sein Geld für etwas hinblättern, was meiner Ansicht nach nicht okay ist. „

Scholz war der einzige vom ursprünglichen Boston-Lineup, der nicht aus der Neu England-Metropole stammt. Er wurde am 10. März 1947 in Toledo, Ohio geboren und kam zwecks Studium an dem Prestige-Institut M.I.T. in den Nordosten der USA. Als Maschinenbau-Ingenieur wurde er bei der Polaroid Corporation angestellt: Sein Titel: Senior Product Designer. Sein Jahresgehalt: 25000 Dollar (bei dem Geldwert von 1975 eine Menge Geld). Während er tagsüber an der Sofortbildkamera arbeitete, verzog er sich abends in sein kleines 12-Spur-Kellerstudio, um an Songideen zu feilen.

„Das war eine harte Zeit. Ich gab so viel Geld für das notwendigste Equipment aus, daß meine Frau Cindy und ich acht Jahre lang keinen Urlaub machen konnten. Außerdem bin ich nicht der Typ, der mit vier oder fünf Stunden Schlaf auskommt. Irgendwann wollte ich aufgeben.

Vielleicht Songs schreiben und anbieten, aber eine eigene Karriere schien immer unwahrscheinlicher zu werden. Wenn man acht Jahre im Beruf steht, identifiziert man sich natürlich damit. Darum sehe ich mich selbst heute noch in erster Linie als Ingenieur und erst dann als Musiker. „

Scholz ging auf die 30 zu, als Boston langsam Formen annahm. Ein Kollege von ihm hatte einen Verwandten, der bei ABC arbeitete: Charlie McKenzie. Zusammen mit Paul Ahern hatte er einige Jahre lang für die Firmengruppe Warner/Elektra/Asylum in Boston gearbeitet. „McKenzie hatte die goldene Nase und Ahern die richtigen Sprüche“, heißt es in einem alten Boston-Artikel. 1972 hievten sie reihenweise Songs in die Top 30 des lokalen Boston-Senders WRKO. Diverse Bands schafften dank ihrer Promotionarbeit den Durchbruch. Der große eigene Erfolg blieb jedoch aus. Der dicke Fisch ging nicht an die Angel. Als aus dem Traum von Ruhm und Reichtum nichts wurde, ging Ahern nach Los Angeles, McKenzie arbeitete in Boston für andere Plattenfirmen.

In dem Moment, wo er die besagte Demo-Cassette in die Hände bekam, wußte er. daß seine Stunde geschlagen hatte. Ahern gab der bis dahin namenlosen Truppe den Namen Boston, und als im August 1976 deren Debüt erschien, waren die beiden Manager binnen kurzem gemachte Leute. Nach nur sieben Wochen erreichte BOSTON die Gold-, nach 11 die Platin-Marke. Und das fast ohne jede Promotion. Walter Yetnikoff, Präsident der CBS-Gruppe, gab später zu:

„Ich habe das Album erstmals bei der Plannverleihung gehört.“

Tom, das einsame Genie, machte sie alle reich. Autos. Häuser. Swimming-pool. Doch die Personalunion — Autor, Arrangeur, Produzent, Gitarrist. Keyboarder. Toningenieur — und Scholzes Hang zum Überperfektionismus stellte alle auch auf eine Geduldsprobe. Daß Boston erst auf große Tour ging, als ihr Album schon vergoldet war. daß sie anfangs kaum genug Material hatten, um anderthalb Stunden zu bestreiten, mag unter Kuriositäten abgehakt werden. Daß sie zeitweilig die beste Bank ihrer Firma waren und Umsätze in Michael-Jackson-Dimensionen verantworteten, gab Scholz den Freiraum für seine jahrelangen Studiosessions. Doch im schnelligkeitsbesessenen Amerika, wo alljährliche Veröffentlichungen das A und O eines jeden Vertrages sind, mußte er seinen Kredit irgendwann überziehen. „Es ist nicht mein Fehler“, sagt er lakonisch, „daß es in dieser Branche mehr Kaufleute als Musikliebhaber gibt. „

Seit Scholz zu Hause in Toledo den Kinks-Klassiker „You Really Got Me“ im Radio hörte, wollte er Rockmusik schreiben, die Härte und Sanftheit. Melodie und Riffs gleichermaßen beinhaltete. Harte Kritik an dem effektenreichen, zutiefst traditionellen Hardrock gab es stets — nicht zuletzt auch von Musikerseite. Der für seine rhetorischen Ausfälle bekannte Elvis Costello ließ seinerzeit in einem „Newsweek“-Gespräch verlauten: „Nimm doch nur eine Band wie Boston. Sie verkaufen zwar neun Millionen Platten, aber letztlich ist das so aufregend wie ein Haufen Mist. Rock ’n‘ Roll handelt von S’ex — und die könnten ebensogut Eunuchen sein. Die sind nichts weiter als der feuchte Traum eines Buchhalters.“

Daß Scholz nicht gerade der Prototyp eines Rockers ist, weiß er selbst. Doch gute Musik machen, heißt für ihn nicht, den üblichen Klischees vom Rockstar zu entsprechen. „Wenn man Platten veröffentlicht, muß man noch lange kein menschliches Wrack sein, obschon viele Musiker genau das annehmen.“

Boston-Songs haben etwas Gigantisches, man könnte auch sagen: Gigantonomisches. Assoziationen zu fliegenden Untertassen. Raketenzündungen und Starfightern im Formationsflug sind nicht nur angebracht, sondern beabsichtigt. „Ich liebe alles, was fliegt“, meint der bodenständige Scholz, „aber ich mußte meinen Pilotenschein abgeben, weil ich mein Stundensoll nicht erfüllte.“

Drum fliegt er jetzt musikalisch ab. imitiert kosmisches Raumgleiten, das Donnergetöse von Zündungen und befriedigt amerikanischen Pioniergeist mit seinem NASA-Soundtrack. Eine Definition für seine Musik kann er nicht geben. „Die Power kommt wohl von der Klassik, Beethoven und ähnliches, der Rhythmus von frühem Rock >;‘ Roll und early Kinks — und der typische Harmony Vocal-Sound von Byrds und Hollies. “ Wenn man das „Konzeptalbum“ in voller Lautstärke hört, gewinnt man den Eindruck: Hier ist einer in ferne Sphären gestartet („The Launch“), hat die Motoren abkühlen lassen (..Cool The Engines“) und eine neue bessere Welt (..A New World“) gefunden— ohne Erdenschwere, ohne Challenger-Fehlstarts. ohne Irritation, ohne Schmutz.