Manuel Möglich im Interview: „Journalismus muss unbequem sein“
Vor zehn Jahren zog der Journalist mit seinen Reportagen in „Wild Germany“ über weitestgehend unbekannte Subkulturen in seinen Bann – mit einem damals ungewöhnlich direkten Stil. Nun soll ein Podcast von ihm mit gleichem Titel selbiges vollbringen. Wir haben mit Manuel Möglich darüber gesprochen, ob und wie das gelingen kann – und über den krassesten Menschen, den er bisher getroffen hat.
Der Podcast-Markt boomt ungebremst, den Überblick kann niemand mehr halten: Allein Spotify will mit mehr als 60.000 deutschsprachigen Titeln seine Hörer*innen überzeugen – Tendenz steigend. Neben Comedy-, Wellness- und True-Crime-Formaten, gewinnt vor allem ein Genre seit dem vergangenen Jahr an Bedeutung: Wissen und Reportage. Solche Titel sind hierzulande noch Neuland.
Das will der Journalist, Autor und Produzent Manuel Möglich nun ändern. Seit dem 9. Juni ist sein Podcast „Wild Germany“ auf Spotify verfügbar. Moment mal, „Wild Germany“? Der Titel dürfte vielen bekannt vorkommen. Zwischen 2011 und 2013 entstanden insgesamt 24 Dokufilme, die ihre Zuschauer*innen mitnahmen in ziemlich ungewöhnliche Lebenswelten: Bugchasing, Islamischer Rap, Body Modifications, also Menschen, die den Wunsch haben, sich Körperteile amputieren zu lassen, Fetisch, Pädophilie, aber auch die Schlagerszene gehörten zu der komplexen Bandbreite an Themen.
Heute sind diese Themen im gesellschaftlichen Diskurs bei Weitem nicht mehr so ungewöhnlich – auch dank der Aufmerksamkeit, die Möglich und sein Team mit einem sehr subjektiven Reportagestil geschaffen haben, den man bis dahin eher aus dem US-Raum kannte. Der Start der Dokureihe liegt nun mehr als ein Jahrzehnt zurück – Zeit, sich noch einmal genauer mit den Themen von damals zu beschäftigen, findet Manuel Möglich, wie er uns im Interview verrät.
Ängste, dass der Podcast nur ein billiger Abklatsch der Themen von damals ist, lassen sich derweil nicht bestätigen: Vielmehr nimmt Möglich seine Zuhörer*innen mit auf eine spannende Recherchereise und verdeutlicht neue Aspekte sowie Entwicklungen. Und zeigt vor allem: Sie bewegen nicht weniger als damals.
Musikexpress.de: „Wild Germany“ kennen wir schon aus dem TV. Wieso jetzt ein Podcast unter gleichem Namen?
Manuel Möglich: Die Sendung ist schon eine Zeit lang nicht mehr bei ZDFneo und auch nicht mehr bei Netflix verfügbar. Dieses Jahr wird sie aber zehn Jahre alt. Ich fand es ganz charmant und einen guten Ansatz, das Format damit in ein anderes Medium zu übertragen. Einen Reportage-Podcast zu machen war eine reizvolle Herausforderung.
Wird man bei so einem Jubiläum nicht auch ein bisschen nostalgisch?
Auf jeden Fall! Ich habe einen Großteil meiner Arbeitszeit damals mit „Wild Germany“ verbracht und es war gut, dass das Format irgendwann sein Ende gefunden hat. Auch wenn es dann einige Filme gab, die an „Wild Germany“ angeknüpft haben, wie zum Beispiel manche meiner Dokus für „Rabiat“ oder „Y-Kollektiv“. Aber als ich mich in den vergangenen Monaten noch einmal mit den Themen und Protagonisten von damals auseinandergesetzt habe, um eine Geschichte von vor zehn oder neun Jahren noch einmal anders zu erzählen, bin ich noch einmal an die alten Festplatten und das Recherchematerial gegangen. Da wurde ich schon ein wenig emotional. Es gab damals natürlich auch Momente, in denen einiges anstrengend und irre war. Das war wie eine kleine Zeitreise zurück!
Genau wie damals will der Podcast Einblicke in das Leben von Menschen geben, die am Rand der Gesellschaft leben – was war diesmal für Dich ein besonders einprägsames Erlebnis?
Es gibt so ein paar Sachen: Zum Beispiel das Thema BIID, also Body Integrity Identity Disorder, beziehungsweise heißt es jetzt nur noch BID (Body integrity dysphoria, Anm. d. Red.), weil die WHO etwas an der Klassifizierung geändert hat. Das haben wir vor zehn Jahren schon einmal bei „Wild Germany“ im TV behandelt. Damals haben wir über Menschen gesprochen, die einen konkreten Amputations- oder Lähmungswunsch haben. Fand ich damals krass und es verlangt auch heute noch einiges von mir ab. Es ist einfach heftig, dass Leute diesen Drang haben, ihre Beine verlieren zu wollen. Genauso beim Thema Chemsex – da fehlt im Podcast natürlich die Bildebene. Die beiden Männer, die ich bei ihrer „Party“ begleite, konsumieren chemische Substanzen wie Crystal Meth und werden dann sehr, sehr sexuell. Das habe ich so in der Form auch noch nicht erlebt.
Auf ein Ereignis kannst Du Dich nicht festlegen?
So absurd das vielleicht klingen mag, aber bei jeder Geschichte, die ich fertig habe, bin ich am Ende schon ein wenig stolz und gehe mit dem guten Gefühl daraus, vielleicht einen Beitrag geleistet zu haben, dass Leute, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, sich darin bestärkt sehen, auch rauszugehen oder sich jemandem anzuvertrauen. Und die, die keine Betroffenen sind, denken vielleicht über die eigenen Vorbehalte zum Thema noch einmal anders nach.
Wie war es konkret, das gleiche Thema – zum Beispiel BID – zehn Jahre später noch einmal aufzubereiten? Was hast Du dazu gelernt?
Die meisten Menschen, die darunter leiden, wünschen sich, eine Gliedmaße zu verlieren, oft sind es die Beine. Für den Podcast habe ich aber eine Frau getroffen, die sich wünscht, ab dem C2-Halswirbel querschnittsgelähmt zu sein. Das heißt, sie könnte sich ab dem Hals nicht mehr bewegen, müsste wahrscheinlich sogar beatmet werden. Das kann ich nicht verstehen und sie irgendwie auch nicht so richtig, sie hat sich diesen Wunsch ja nicht ausgesucht. Als wir das Thema damals zum ersten Mal behandelt haben, gab es wenig wissenschaftliche Forschung dazu. Mittlerweile hat sich einiges getan: Es gibt eine neue Klassifikation des ICD. Das führt dazu, dass sich ab 2022 Betroffene anders an ihre Ärzte wenden können als bisher. Es geht da nicht um psychologische Betreuung, sondern es könnte durchaus realistisch sein, dass sich die Betroffenen amputieren lassen können, wenn die Gutachten vorliegen. Jedenfalls ist das theoretisch denkbar. Dadurch wird vermutlich eine gesellschaftliche Diskussion losgetreten, auch wenn es nur sehr wenige Betroffene gibt. Da wird etwas sehr Nischiges auf einmal nicht mehr so nischig, sondern fällt in unseren Alltag. Inwieweit darf denn jede und jeder von uns am Ende frei über den eigenen Körper bestimmen? Das ist mir da noch mal bewusst geworden und macht das Thema gleich noch mal spannender.
Welche Stärken hat für Dich ein Podcast für Dokuformate?
Du brauchst keine große Technik und bist wahnsinnig flexibel. Da ist extrem viel Potenzial drin. Natürlich kann man sagen: ‚Boah, jetzt noch ein Podcast, braucht es das wirklich nach 834 anderen?‘ Mein Eindruck ist aber: Der Bereich, in dem „Wild Germany“ jetzt als Podcast stattfindet, ist im deutschsprachigen Raum noch ein riesiges Spielfeld. Der „Wirecard“-Podcast von der Süddeutschen Zeitung und Spotify etwa ist von der Machart her zum Beispiel ziemlich grandios. Da kann noch viel kommen! Gerade bei schwierigen Themen, bei denen Protagonisten lange zögern und die anonym bleiben wollen. Für einen Podcast brauchen wir nur die Stimme, niemand sieht das Gesicht. Es gab nur eine einzige Geschichte für den „Wild Germany“-Podcast, für die wir eine Protagonistin nachsprechen mussten, weil sie riesige Angst hatte, durch ihre Stimme erkannt zu werden. Aber ansonsten war es sehr oft so, dass ich in der Vorbereitung gehört habe: ‚Vor der Kamera würde ich es nicht machen, aber Stimme ist okay.‘
Welche Podcasts hörst Du selbst gerne in Deiner Freizeit und wieso?
Den „190220 – Ein Jahr nach Hanau“-Podcast habe ich sehr interessiert verfolgt, genauso wie „Trauma Loveparade“, der die Umstände des Loveparade-Unglücks zehn Jahre später aufdeckt. Ich ziehe mir keine Podcasts rein, in denen Person X mit irgendeinem Promi redet oder zwei befreundete Menschen über ihre Probleme beim Stuhlgang reden. Das ist mal okay für zwischendurch, aber eigentlich höre ich lieber was anderes und das habe ich bisher eher im englischsprachigen Raum gefunden. Ich finde, die „New York Times“ macht da unglaublich viele gute Sachen. Ich mag Geschichten, bei denen mir jemand eine Story erzählt. Wenn man sich für Sport interessiert, kann ich auch den Podcast „Elf Leben“ über Uli Hoeneß empfehlen.
Du kommst ursprünglich vom Radio – war der Podcast so was wie eine Rückkehr zu den Wurzeln?
Als ich in den vergangenen Jahren meine beiden Sachbücher geschrieben habe und dafür auch nur mit einem Aufnahmegerät losgezogen bin, ist mir bewusst geworden, dass es einfach ein riesiger Unterschied ist – und das habe ich auch total vermisst. Wenn du nur ein Aufnahmegerät dabei hast, bist du ziemlich unsichtbar. Ich finde es total toll, so zu arbeiten. Durch diese andere Art von Nähe und Intimität entsteht eine ganz andere Dynamik vorab.
Welcher Film aus der „Wild Germany“-Reihe ist bis heute Dein liebster und warum?
Meine Top 3 wären: BID, Pädophilie und Bugchasing, wo sich homosexuelle Männer freiwillig mit dem HI-Virus infizieren lassen. Einfach, weil das damals so heftige Recherchen waren und diese Themen den meisten Menschen nichts gesagt haben. Journalismus muss meiner Meinung nach unbequem sein. Der krasseste Mensch, den ich getroffen habe, war, glaube ich, Deso Dogg. Der war ja früher Deutschrapper und hat sich direkt nach unserem Interview über Islamismus im Deutschrap abgesetzt und ist später dem sogenannten Islamischen Staat beigetreten. Wie oft ich gelesen habe, dieser Mann sei tot! Irgendwann stand er auf der Top-Terroristen-Liste. Und wir saßen mit ihm beim Dreh in Berlin am Kotti auf der Dachterrasse eines Hostels und er hat mich danach beim Türken auf einen Börek eingeladen. Der war da superfreundlich. Das ist retrospektiv so krass, wenn man weiß, was für eine fürchterliche Entwicklung dieser Typ gemacht hat.
Welche Themen stehen auf Deiner Reportage-To-Do-Liste, die Du unbedingt noch in Angriff nehmen möchtest?
Es gibt noch einige Themen. Bei einem, das mich besonders reizt, weiß ich aber überhaupt nicht, ob das funktionieren könnte. Ich war früher ein Fan des Autors Hunter S. Thompson und diese Rocker-Club-, Hell’s-Angels- und Banditos-Szene finde ich noch immer spannend. All das, was mit dem Milieu und den Motorradclubs verbunden wird und durch popkulturelle Erzählungen geprägt wurde, stimmt vermutlich heute gar nicht mehr so. Ich habe mich da noch nie ran getraut. Es gibt einfach gewisse Punkte, bei denen ich mir denke: Will ich für eine Geschichte so weit gehen, dass ich mich die nächsten fünf Jahre drei Mal umdrehen muss, bevor ich den Schlüssel in die Tür stecke? Ich habe vor Kriegsreporterinnen und -reportern extremen Respekt. Aber ich habe solche Angst, dass mich diese Arbeit selbst zerstören würde und fertig macht, weil mir in meiner normalen Welt alles nur noch profan vorkommen würde.
„Wild Germany“, ein Spotify-Original-Podcast von und mit Manuel Möglich ist seit dem 09. Juni 2021 auf Spotify zu hören.