ME-Gespräch mit Noel Gallagher: „Rock’n’Roll ist tot, die Industrie fördert nur noch Weicheier!“


Noel Gallagher im ME-Interview über Hulk Hogan, langweilige Bands, die Britpop-Charaktere von damals, mit denen er heute gut befreundet ist, über den blöden Titel seines zweites Soloalbums CHASING YESTERDAY - und über eine mögliche Oasis-Reunion.

Sein erfolgreichstes Album, der 20-Millionen-Bestseller von Oasis (WHAT’S THE STORY) MORNING GLORY?, hat in diesem Jahr 20. Geburtstag, die Band seines Bruders Liam, Beady Eye, ist Geschichte und das UK benötigt dringend Zugpferde für die Festivalsaison. Doch anstatt die von Fans so ersehnte Reunion der größten britischen Rockband der 90er-Jahre wahr werden zu lassen, etabliert sich Noel Gallagher mit seinem zweiten Album auf Alleingang, CHASING YESTERDAY, als Solokünstler. Wir trafen den 47-Jährigen zum Gespräch in Berlin.

ME: Schön, Sie wiederzusehen, Herr Gallagher!

Noel Gallagher: Danke! Wie geht es Ihnen?

Ungefähr so, wie es Ihnen vielleicht bei dieser Begegnung ging (zeigt Bild vom Mai 2014, auf dem Noel Gallagher die Hand von Hulk Hogan schüttelt). Wie kam es denn dazu?

Mein ältester Sohn, Donovan, sieben Jahre alt, ist ein großer Fan von Hulk Hogans Wrestling-Liga, der WWE. Als die auf Tour nach London kam, in die „O2-Arena“, organisierte meine Frau Sara ein Treffen mit denen. Dann wartet man da also backstage und auf einmal kommen diese Typen rein: John fuckin’ Cena, noch so ein Monster und zum Schluss eben Hulk Hogan. Er haute mir die Hand auf die Schulter und sagte (imitiert den Hulkster täuschend echt): „Was ist mit dir, kleiner Bruder? Bist du einer meiner Hulkamaniacs?“ Was ich natürlich bestätigte! Als ich in den 80ern noch von der Stütze lebte, kam um vier Uhr morgens immer Wrestling im Fernsehen. Das habe ich mir mit meinen Kumpels damals gerne angesehen – total bekifft, versteht sich. Jahre später sitze ich dann mit meinem Sohn vor der Glotze und zappe durch die Kanäle und auf irgendeinem sieht man einen Wrestler, der einem anderen einen Stuhl durchs Gesicht zieht und mein Sohn schreit auf: „Stopp, Stopp! Was ist denn DAS? Das will ich sehen!“ Sie sehen: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.

Beobachter bemängeln, es gäbe keinen Rock’n’Roll mehr im Wrestling.

Ja, heutzutage hat das eher den Charakter einer Seifenoper. Aber Rock’n’Roll ist ja generell vom Erdball verschwunden. In der Musikwelt geht überhaupt nichts mehr voran. Die Charts werden bestimmt von Tänzern, die zwar wunderbar singen können, aber nichts zu sagen haben. Der heutige Popstar ist wie seine Musik: geht ins eine Ohr rein und zum anderen wieder hinaus. Ohne Spuren zu hinterlassen.

Das konnte man an der aktuellen Besetzung der Band Aid sehen: Die war geprägt von Künstlern, die erst in den vergangenen beiden Jahren groß wurden und in zwei Jahren möglicherweise weg vom Fenster sind.

Genau! Vergleich das mal mit Band Aid 20…

Da waren Paul McCartney, Thom Yorke, Robbie Williams und Damon Albarn dabei.

Stimmt. Aber die Popsternchen, die damals auch dabei waren, sind heute allesamt verschwunden. Das liegt an der Schnelllebigkeit unserer Zeit. Apple hat die Welt zerstört. Da sitzt ein weißer Mittvierziger in einem Meeting und sagt: „Hey, wäre es nicht cool, wenn wir dieses oder jenes Gadget erfinden?“, und zerstört damit die Jugendkultur. Heute bestimmt Technologie eine Kultur, die bisher im Stande war, durch ständige Neuerfindung zu überleben. So hässlich und dreckig das teilweise auch gewesen sein mag. Aber die Jugend hatte ihre Kultur im Griff! Heute haben die Kids nur ihr Handy im Griff.

Wenn sich Musik tatsächlich zyklisch bewegt, wird der Rock’n’Roll zurückkommen.

Das kann aber noch ewig dauern. Ich glaube nicht, dass das noch in diesem Jahrzehnt passieren wird. Rockmusik ist erst mal tot, Indie wieder in der Nische. Das liegt an der Industrie, vor allem aber am Fehlen von Bands. Bands können eine unvergleichliche Power haben. Es gibt nur keine mehr. Und selbst die Bands, die vor zehn Jahren groß geworden sind, wie Arctic Monkeys oder Kasabian – die haben nichts zu sagen! Worum geht es in den Texten von Kasabian?

Um Vlad, den Pfähler, die Vorlage für Dracula, zum Beispiel.

Und was hat das mit meinem Leben zu tun? Eben! Sieht es nach Spaß aus, bei den Arctic Monkeys zu sein? Würden Sie gerne eine Nacht lang mit Alex Turner abhängen?

Er wirkt immer etwas verschlossen .

Genau! Weil er nichts zu sagen hat! Wie die mich auf Bildern schon anöden!

Das ging doch mit den Strokes los – die kultivierten dieses Gelangweiltsein regelrecht. Aber wann war es zuletzt, dass eine Rockband Schlagzeilen gemacht hat?

Genau! Wir sind alle mit diesen lauten Rockbands groß geworden: Nirvana, Guns N’ Roses – das war Klang gewordener Zorn. Heute sind Green Day und die Foo Fighters die großen Bands – die schreien zwar auch herum, aber weshalb denn? Deren Wildheit ist doch nur Pose. Dave Grohl, der netteste Mann der Welt – weshalb schreit der so herum? Und schaut man als 15-Jähriger wirklich zum nettesten Mann der Welt auf? Ist das dein Vorbild? Nein! Du willst ein Outlaw sein, du willst wie Axl Rose sein, wie Liam, wie Bobby Gillespie, wie Ian Brown. Ich meine, ich bin mit denen ja befreundet, mit Serge von Kasabian, mit Chris Martin – das sind die nettesten Typen, die es gibt. Aber sie sind eben so … nett! Das erste Oasis-Album hat so viele Kids dazu inspiriert, Bands zu gründen: The Libertines, Razorlight, The Coral, Arctic Monkeys – aber welche Band hat sich aufgrund der Monkeys gegründet? Keine! Weil Musiker nicht mehr in Bands spielen wollen; jeder möchte ein Solokünstler sein! Ich bin gut mit Jeff Wootton befreundet, dem Live-Gitarristen von Damon Albarn, der ist eine seltene Ausnahme! Sieht irre gut aus und hätte das Zeug zum Solokünstler, will aber lieber in einer Band spielen. All die großartige britische Musik hatte als Fundament immer die Beziehung ihrer beiden Protagonisten: Mick und Keith, John und Paul, Pete und Roger, ich und Liam, Shaun und Bez, Ian Brown und John Squire, Ray und Dave Davies …

Vielleicht ist es auch einfach ein überholtes, nicht mehr profitables Modell. Es gibt nicht mehr viel Geld in der Musikindustrie zu verteilen – warum sollte man also das wenige Verdiente mit seinen Bandkollegen splitten, wenn man als Solokünstler, der sein Album zu Hause mit einer Software aufnimmt, alles behalten kann?

Ja, das ist ein Fakt. Aber es kann doch nicht jeder dahergelaufene Bassist ein Solokünstler werden wollen? Und es geht vor allem um die Mentalität: Rock’n’Roll ist tot. Kasabian, Arctic Monkeys – noch nicht mal die sind Rock’n’Roll. Als wir groß geworden sind, waren wir in dieser Britpop-Welt umgeben von wichtigen Figuren: Jarvis Cocker, Damon, ich und Liam, Richard Ashcroft, die Manics – wir waren alle von Wut und Frustration angetrieben! Und wir haben das aneinander ausgelebt. Heute sind wir alle gut befreundet, aber damals hat’s richtig gekracht. Heute ist doch alles von Weicheiern bestimmt. Aber genau das wird von der Industrie gefördert: Die Plattenindustrie will keine drogensüchtigen Rockstars mehr, die wollen moppelige Musiker wie Ed Sheeran. Oder diesen Bastille – in den 90ern hätte ich seine Karriere mit einer einzigen Äußerung in einem Interview für immer zerstört. Lebendig gefressen hätte ich ihn. Heutzutage verfügt niemand über eine solche Autorität. Die Arbeiterklasse, auf deren Aufschreien man immer setzen konnte, schweigt, anstatt Alarm zu schlagen. Und hört lieber so ’nen Scheiß wie Keane-Typen, die keinen Stress machen. Die sich mit niemandem anlegen wollen. Die nette Frauen und Kinder haben. Schönen Dank auch! Und genau die Leute aus der Industrie, die das zu verantworten haben, beschweren sich jetzt darüber. Ich habe damals schon gesagt, dass Oasis die letzte Band ihrer Art sein werden. Und ich sollte recht behalten. Als wir unseren ersten Plattenvertrag bekamen, hatten wir noch nicht einmal einen A&R – man gab uns die Schlüssel zu einem Königreich und ließ uns einfach machen. Wir scherten uns einen Dreck um die Industrie und kümmerten uns nur um unsere Songs. Heute gehen sogenannte Künstler zu ihren Chefs beim Label, fragen die, was genau sie von ihnen wollen und sagen dann: „Oh ja, klar, das könnte ich schon auch machen.“ Erwartungshaltungen seitens der Industrie haben wir überhaupt nicht wahrgenommen.

Könnten Oasis sich als neue Band in der heutigen Szene durchsetzen?

Wir würden auf keinen Fall einen so großen Effekt wie damals erzielen. Dafür hat sich die ganze Umwelt zu stark verändert. Heute nimmt sich niemand mehr die Zeit, einen Künstler aufzubauen. Wenn du nicht sofort mit deinem ersten Gig überzeugst oder mit deiner ersten Single in die Playlist der großen Radiosender aufgenommen wirst, bist du weg vom Fenster. Die Industrie hört nicht mehr auf die Musik, sondern schaut, wie viele Follower du bei Facebook hast. In den 90ern war noch so viel Geld da, dass man sich einen vermeintlichen Unfall wie Britpop, oder wie immer du das nennen willst, leisten konnte. Auf einmal rannten die Kids eben auf all die Konzerte dieser drogensüchtigen Wahnsinnigen. Die Industrie sah das zwar mit Unbehagen, ließ es aber darauf ankommen und nahm diese Irren zähneknirschend unter Vertrag. Und kurz darauf standen alle diese Bands auf Platz eins und verkauften Wagenladungen an Platten. Indie wurde zum Mainstream.

Am allermeisten haben Sie verkauft.

Wie gesagt, nach uns kam nichts Vergleichbares mehr. Schauen Sie sich selbst an: Letzten Sommer waren Oasis auf dem Cover des Musikexpress – fünf Jahre nach dem Ende der Band scheinen wir immer noch interessanter als aktuelle Gruppen zu sein. Die Jugendkultur, die mit Elvis begonnen hat, hat mit Oasis aufgehört.

Was hören denn Ihre Kinder?

Meine Söhne Donovan und Sonny sind riesige U2-Fans. Donovan ist sogar mit Bono befreundet, aber das ist eine lange und vor allem andere Geschichte. Sonny, der ist erst vier Jahre alt, singt zu Hause ständig gedankenverloren „Sunday Bloody Sunday“ – ein Lied über Terrorismus! Ansonsten sind sie viel zu viel damit beschäftigt, den nächsten Internet-Hype zu liken.

Ihre Tochter Anaïs ist jetzt, mit 14 Jahren, in dem Alter, in dem man sich für gewöhnlich ernsthafter mit Musik auseinandersetzt.

Neulich kam ich nach einem Fotoshooting spät nach Hause und sie fragte mich am Küchentisch: „Für welches Magazin war das denn?“ Ich antwortete: „Kein Magazin, das war für das Artwork meines Albums“, und sie so: „Artwork? Was soll denn das sein? Dieses kleine Bild in iTunes?“ Sie kennt Plattencover nur als Symbolbild auf ihrem Handy.

Aber die ist doch bitte schön in einem Haushalt aufgewachsen, in dem die ein oder andere Schallplatte herumliegt?

Die sind alle in einem Zimmer, in das sie nie geht. Sie versteht CDs nicht. Vor allem versteht sie keine Vinylplatten: „Das nimmt doch nur Platz weg!“ Wir haben damals unserer Plattensammlung ganze Räume gewidmet und die Kids von heute haben all ihre Musik auf einem Telefon. Eine Milliarde Songs unter deiner Fingerspitze.

Als wir uns zum letzten Mal unterhalten haben, das war vor Veröffentlichung Ihres Solodebüts, wirkten Sie sehr unsicher: Sie wollten eigentlich gar kein Solokünstler sein, befürchteten, dass man Ihre Stimme nicht über die Länge eines ganzen Albums, geschweige denn eines Konzerts ertragen würde. Jetzt gaben Sie anlässlich Ihres zweiten Albums eine Pressekonferenz, in der Sie das Album-Artwork schlechtredeten, die Wahl der ersten Single, „In The Heat Of The Moment“ …

Der schlechteste Song auf dem Album.

… das Video dazu – sogar den Titel der Platte, CHASING YESTERDAY, finden Sie doof. Dabei hatten Sie bei Oasis den Ruf maßloser Überheblichkeit. Ist das ein Selbstschutzmechanismus? Haben Sie Angst, der Kritik nicht allein standhalten zu können und möchten ihr deswegen den Wind aus den Segeln nehmen?

Das ist keine Unsicherheit. Das hat auf der einen Seite mit dem Älterwerden zu tun: In den 90ern hätte ich eine stark befahrene Straße überqueren können und hätte überhaupt keinen Zweifel gehabt, das unbeschadet zu überstehen. Heute wäre ich mir da nicht mehr so sicher. Auf der anderen Seite bin ich immer noch Teil eines Teams und ich stehe nicht hinter allen Entscheidungen meines Teams. Obwohl ich auf meinem eigenen Label, Sour Mash, veröffentliche. Aber dort sind eben Profis angestellt, die sich um die Konzerte kümmern, um die digitale Seite des Ganzen – und ich kümmere mich um die Musik. Ich halte mich aus deren Scheiß heraus und sie sich aus meinem. Wenn die mir davon erzählen, dass sie das Album über Facebook launchen wollen, ist meine erste Reaktion natürlich: „Hä? Was habe ich denn mit Facebook zu tun?“ Aber die wissen schon, was sie tun. Wenn meine Marketing-Leute sagen, dass wir ein Video drehen sollten, dann mache ich das eben, auch wenn ich’s kacke finde. Oder wenn sie sagen, dass „In The Heat Of The Moment“ aufgrund seiner Radiofreundlichkeit die erste Single sein sollte. Dann vertraue ich ihnen. Muss ich ja. Was weiß ich denn, wie man ein Label betreibt? Ich weiß nur, wie man es finanziert. Wenn wir meine Lieblinge auf der Platte, „Ballad Of The Mighty I“ oder „Riverman“, zuerst ausgekoppelt hätten, dann würde ich Ihnen sagen, dass das die beste Musik ist, die Sie dieses und nächstes Jahr hören werden. Ich lüge niemanden an. Deswegen verkaufe ich Ihnen jetzt auch nicht „In The Heat Of The Moment“. Das ist wie damals mit „Lyla“ (2005er-Leadsingle von Oasis – Anm.), das war auch eine Label-Entscheidung und ich war strikt dagegen. Da flogen richtig die Fetzen. Und dann stieg der Song sofort auf Platz eins ein.

Aber gerade, was Albumtitel anbelangt – von denen waren Sie doch früher besessen. Wie kann es sein, dass eine Platte unter Ihrem Namen erscheint, deren Titel Sie blöd finden?

Das kam folgendermaßen zustande: Ich lag verkatert im Bett und ständig klingelte das Telefon. Irgendwann ging ich ran, in der Leitung war eine Mitarbeiterin meines Labels, die sagte, dass sie um drei Uhr einen Titel brauchen. Da war es ein Uhr. Also ging ich schnell über die Texte der Platte und blieb bei der Zeile „We let love get lost in anger chasing yesterday“ aus „While The Song Remains The Same“ hängen. Da ich das im Kontext dieser Zeile sah, fand ich’s gut. Doch dann wurde ich nüchtern, sah den isolierten Titel und dachte mir: „Scheiße, das ist dann wohl nicht der beste Titel.“

Was wäre denn der beste Titel gewesen?

Könnte ich die Zeit zurückdrehen, würde das Album „Ballad Of The Mighty I“ heißen. Kann ich aber nicht. Außerdem ist es nur ein Titel. Niemand wird sich die Platte auf iTunes anhoören und sagen: „ Hmm, okay, die Songs sind toll, aber der Titel ist echt Mist. Das kaufe ich nicht.“ Der letzte Titel, den ich grauenhaft fand, war (WHAT’S THE STORY) MORNING GLORY? Und die Platte lief dann bekanntermaßen ja ganz gut. Namen entwickeln ihr Eigenleben, ihre Bedeutung speist sich aus deinen Assoziationen.

Was sind Ihr bester und was Ihr schlechtester Albumtitel bisher?

DON’T BELIEVE THE TRUTH und HEATHEN CHEMISTRY sind ziemlich gut. DEFINITELY MAYBE ist fucking great. Der schlechteste ist (WHAT’S THE STORY) MORNING GLORY?. Und DIG OUT YOUR SOUL, das ist Hundescheiße. Der ist aber auch nicht mir eingefallen.

Mit Ihren Videos haben Sie’s eben auch nicht so: In den Audiokommentaren der DVD zur letzten Oasis-Best-of TIME FLIES… 1994- 2009 ziehen Sie auf höchst amüsante Weise über alle Videos Ihrer alten Band her …

Wie oft mussten wir der Welt zeigen, dass wir gehen können?! In den meisten Videos gehen wir irgendwo entlang. Und das sind noch die besten! Schlimm wird’s, wenn Helikopter ins Spiel kommen oder dieser Mann, der nur aus Würsten besteht, in „All Around The World“ . Fuckin’ nonsense! Mein neues Video zu „In The Heat Of The Moment“ steht dem in nichts nach. Ich hasse es, Videos zu drehen und das sieht man ihnen auch an.*

Bei unserem letzten Treffen sagten Sie: „Nach ungefähr zwölf Shows werde ich backstage sitzen und entweder davon überzeugt sein, dass ich besser als Elvis bin oder ich werde irgendjemanden darum bitten, mir die Finger zu brechen, damit ich nicht weiter auftreten muss.“ Wo stehen Sie jetzt?

Nach der Tour war ich echt ziemlich zufrieden, die lief richtig gut. Aber du weißt immer erst, wie gut eine Tour war, wenn die nächste in den Vorverkauf geht. Du kannst ja nicht nach einem Konzert von der Bühne zum Ausgang rasen und jeden fragen, wie es war. Und ich bin auch nicht der Typ, der in Fan-Foren geht. Weil es mir auch scheißegal ist, was die denken. Aber als jetzt diese Tour in den Vorverkauf ging und sie in sieben Minuten ausverkauft war, wusste ich, dass ich etwas richtig gemacht haben muss. Die Leute kannten damals keinen Ton aus dem neuen Album.

Bei Ihrem Backkatalog und Ihrem Status könnten Sie doch aber auch eine Greatest-Hits-Tour ohne neues Material ankündigen und die wäre ausverkauft.

Wahrscheinlich, ja. Und es ehrt mich, dass ich das nicht mache. (schmunzelt) Aber ich sage es immer wieder: Leute, wenn ihr zu meinen Konzerten kommt, erwartet nicht, irgendetwas zu sehen. Da gibt es keine Wahnsinnsbühnenshow, ich werde mich kaum bewegen …

Liam hat sich ja nun auch nicht gerade verausgabt.

Stimmt. Aber er hatte Charisma. Ich habe nur meine Songs. Warum sollte ich auch mehr auffahren? Gehen wir auf ein Konzert von Neil Young oder Paul McCartney, um eine Show zu erleben oder die Songs zu hören? Bei Bands ist das anders. Die strahlen eine Kraft aus.

Bei der Ankündigung Ihres ersten Albums war auch immer die Rede von einem Gegenstück, das sechs Monate später hätte erscheinen sollen. Ein psychedelisches Album, das Sie mit The Amorphous Androgynous (ein Alias von The Future Sound Of London – Anm.) aufgenommen haben. Auf Ihrem neuen Album befinden sich zwei Stücke daraus, in überarbeiteter Form: „The Mexican“ und „The Right Stuff“. Was ist mit dem Rest geschehen?

Ich habe eine fertige Version des Albums zu Hause. Ich habe es mir zweimal angehört: Es ist absolut beschissen. Es wurde richtig schlecht aufgenommen. Vielleicht hätte ich mich mehr in die Produktion einmischen sollen.

Haben Sie daher Ihre neue Platte selbst produziert?

Nein. Ich wollte, dass Dave Sardy, mit dem ich seit zehn Jahren zusammenarbeite, das macht. Leider konnte er nicht. Dann habe ich meine Demos einem anderen Produzenten gezeigt, der meinte: „Was soll ich denn hier noch dran machen? Das ist doch fast fertig. Du kannst mir jetzt viel Geld dafür geben, dass ich da noch allerletzte Hand anlege oder du sparst dir das und bringst es selbst zu Ende.“ Also hab’ ich’s eben selbst gemacht. Das war allerdings ein fuckin’ pain in the arse. Das hat echt keinen Spaß gemacht, aber immerhin klingt die Platte jetzt gut. Hätte ich das Album mit Amorphous Androgynous als Nächstes veröffentlicht, hätte es meinen guten Ruf ruiniert, den ich mir mit meiner ersten Platte erworben habe. Ich war echt enttäuscht von der Zusammenarbeit mit den beiden Jungs (Garry Cobain und Brian Dougans – Anm.).

Inwiefern?

Weil die Platte einfach scheiße klingt. Und weil sie mich ein verdammtes Vermögen gekostet hat. Wenn ich sie Ihnen jetzt vorspielen würde, wären Sie entsetzt. Aber keine Sorge, die wird nie erscheinen.

Na, so schlimm wird die doch auch wieder nicht sein?

Oh doch!

Irgendwann wird man Sie im Zuge einer Anthologie oder einer Deluxe-Wiederveröffentlichung Ihres ersten Albums doch nach Bonusmaterial fragen und dann …

Nein. Nein. Nein. Diese Platte wird nie erscheinen. Nur vier Menschen haben sie jemals gehört. Und alle teilten meine Ansicht: Dieses Album ist richtig schlecht.

Das Album, das jetzt erscheint, wurde am Tag nach dem Finale der Fußballweltmeisterschaft fertiggestellt, am 13. Oktober angekündigt und kommt aber erst am 27. Februar heraus. Warum der lange Vorlauf?

Jemand wie ich kann Platten nur im Oktober oder im März veröffentlichen. Das hängt mit der Buchung von Auftritten in TV-Shows, dem Weihnachtsgeschäft und mit der Festivalsaison zusammen. Mein Solodebüt erschien im Oktober. Diesmal war ich zu spät dran für Oktober. Mein Marketingteam meinte aber, es wäre gut, die Werbekampagne sehr früh zu starten.

In Ihrer Musik beziehen Sie sich gerne auf bereits existierende Stücke. Manche nennen das Diebstahl, andere das Rock-Pendant zum Sampling im HipHop. Auf Ihrem Solodebüt habe ich erstmals keine Ideen entdeckt, die nicht Ihre eigenen sind. Auf der neuen Platte wimmelt es wieder vor Verweisen …

Ach was! Zum Beispiel?

„Riverman“ ist von Brian Protheroes „Pinball“ beeinflusst, das haben Sie vorab schon zugegeben. Aber vergleichen Sie den Refrain von „The Mexican“ mit der Bridge von „Whatever Happened To My Rock’n’Roll“ von Black Rebel Motorcycle Club – sehr ähnliche Melodien. Und Sie singen „ Thought I was talking about a new religion“, wo es in der „ Vorlage“ heißt: „I gave my soul to a new religion“.

Ha! Das habe ich ja noch nie gehört. Ich verstehe, was Sie meinen … Nun, ich kann in jedem Fall sagen, dass die B.R.M.C.-Version meiner haushoch überlegen ist. Ich liebe diesen Song! Aber vor Gericht kommen Sie damit nicht durch! (lacht)

Und hatten Sie „Bus Stop“ von den Hollies im Ohr, als Sie die Strophenmelodie von „Ballad Of The Mighty I“ geschrieben haben?

Was? Welchen Song? Den kenne ich gar nicht.

Das ist einer der größten Hits einer der größten Bands der 60er – ein Jahrzehnt, in dem Sie sich sehr gut auskennen.

Das muss ich sofort nachschauen (kramt sein Handy hervor, wischt darauf herum). Fuck, ich hab’ keine Ahnung, wie das funktioniert. Ich überprüfe das später.

Auf dem Song werden Sie von Johnny Marr unterstützt, einem Ihrer Idole.

Ich wollte Johnny schon auf meiner letzten Platte dabeihaben, er hätte auf „AKA… What A Life!“ spielen sollen, konnte dann aber nicht. Das ist so ein Supertyp. Das Verrückte ist: Der ist nur 18 Monate älter als ich. Dabei ist der doch seit Ewigkeiten dabei.

Er war halt 19, als er mit Morrissey die Smiths gründete. Als DEFINITELY MAYBE erschien, waren Sie ja schon 27 Jahre alt.

Und dann sieht er auch noch so jung aus! Manchmal schaue ich ihn mir an und denke mir: „Alter, du machst mich ganz krank.“ Aber im Ernst: Johnny ist einer der Besten.

Vor Jahren klagten Sie darüber, dass Sie mit den Stücken „Rock’n’Roll Star“, „Live Forever“ und „Cigarettes & Alcohol“ aus dem ersten Oasis-Album bereits alles gesagt haben, was Sie zu sagen hatten. Dass Sie danach immer nur dieselben Inhalte in abgewandelter Form präsentierten. Auf Ihrem neuen Album findet sich mit „The Dying Of The Light“ nun ein Song über Ihre Ehe und mit „While The Song Remains The Same“ ein Stück über Ihre Kindheit in Burnage, einem Vorort von Manchester – Themen, denen Sie sich bisher noch nie so konkret gewidmet hatten. Hat Sie die Muse geküsst?

Bei Oasis habe ich immer für einen anderen Sänger geschrieben. Das macht es schwieriger, über etwas Persönliches zu schreiben. Zum Ende von Oasis hin habe ich beim Schreiben nur noch darauf geachtet, dass Liam die Texte möglichst gut singen kann. Sie waren sehr auf seine Stimme zugeschnitten. Wenn heute Leute zu mir sagen, wie gut sie sich einen meiner neuen Songs von Liam gesungen vorstellen, sage ich: „Blödsinn! Das wäre grauenhaft. Wie soll Liam denn einen Song wie ‚If I Had A Gun …‘ singen? Er hat doch keine Ahnung, worum es da geht.“ Nun könnte ich ihm natürlich erklären, worum es etwa in „The Dying Of The Light“ geht, aber nachdem er nach wie vor so ein aggressiver, kläffender Hund ist, habe ich da keine Lust drauf.

Wie oft haben Sie einander nach dem Ende von Oasis gesehen? Laut Berichten sind Sie einander zuletzt am 11. Mai 2014 bei einem Spiel Ihrer beider Lieblingsfußballmannschaft Manchester City begegnet.

Sechs Mal haben wir uns gesehen. Er war jedes Mal so aggressiv wie eh und je – ein Wunder, wie lange wir es miteinander ausgehalten haben.

Ende Oktober hat Liam getwittert: „Beady Eye are no longer. Thanks for all your support“. Wie haben Sie auf den Split Ihrer alten Bandkollegen reagiert?

Ich war überrascht, weil ich davon ausgegangen bin, dass sie diese Band wirklich etablieren wollen. Aber sie hatten auch einfach keinen einzigen wirklich guten Song. Das war das Problem an ihnen: tolle Band, aber ohne guten Songwriter. Aber Liam ist Liam und es wird nicht lange still um ihn sein. Er sollte sich zusammenraufen und den Mut finden, ein Soloalbum zu machen.

Als Liam vergangenes Jahr an der Ice Bucket Challenge teilnahm, nominierte er, wie er sagte, drei Comicfiguren: Spongebob Schwammkopf, die Zeichentrick-Lokomotive Ivor The Engine – und Sie.

Da sehen Sie’s. Der Typ hat einfach keinen Respekt. Noch nicht mal, wenn’s um Charity geht. Aber genau darin lag das Großartige an Oasis: Unsere größte Stärke bestand in unserer größten Schwäche, in der permanenten Reibung zwischen Liam und mir. Der polternde Sänger im Rampenlicht, dahinter der Typ, der die Songs schreibt – was für ein Spannungsfeld! Eine super Kombination.

Bei unserem letzten Gespräch waren Sie sich Ihrer Stimme sehr unsicher. Hat sich das geändert?

Liam hat die bessere Stimme. Aber ich bin ein besserer Sänger. Ich glaube, ich hätte aus den Oasis-Songs, die er gesungen hat, noch zehn Prozent mehr herausholen können – technisch gesehen. Ich gebe mir jetzt als Solo-Sänger auch mehr Mühe mit den Texten und dem Gesang. Bei Oasis kam ich immer öfter an den Punkt, an dem ich einen Song mit der Meinung abschloss: „Ach, das reicht schon. Das ist gut genug.“

Dabei sind Sie doch dafür berühmt, jeden Oasis-Song über den grünen Klee zu loben!

Am Anfang stand der Song. Oasis wurden aufgrund der Songs so groß. Aber irgendwann ging es nur noch um die Sache, das Phänomen. Die Leute hatten aufgehört, sich mit unseren neuen Songs zu beschäftigen. Es ging nur noch darum, Teil des Phänomens zu sein. Und davon habe ich mich mitreißen lassen. Heute geht es mir wieder vorrangig um den Song.

Mit Ihren beiden Soloalben haben Sie erstmals seit 2000, seit Sie von dem Songwriter-Monopol bei Oasis abgerückt sind, wieder Platten komplett allein verfasst. Hat es Sie überrascht, dass Sie das noch drauf haben?

Vor zehn Jahren hätte ich mir das wohl nicht vorstellen können. Um die Zeit von HEATHEN CHEMISTRY (aus dem Jahr 2002 – Anm.) ist mir nicht viel eingefallen, meine ach so unglaublichen B-Seiten waren damals mittelmäßig. Daher war es damals wichtig, die anderen Bandmitglieder Songs beisteuern zu lassen, auch wenn viele von denen kontrovers aufgenommen wurden. Aber ich bereue nichts. Und seit ich Solokünstler bin, schreibe ich ununterbrochen. Außerdem muss ich mir keine Sorgen mehr darüber machen, wie die anderen meine Songs finden. In „Riverman“ gibt es zwei Saxofonsoli! Damit wäre ich nie bei Oasis durchgekommen. Oder nimm „The Right Stuff“ – weiter kann man ja gar nicht von „ Supersonic“ entfernt sein. Und die Reise zwischen den beiden Stücken war ziemlich spektakulär, oder?

Definitely.

Not maybe.

Vielen Dank für das Gespräch! Bis zum nächsten Mal dann.

Lange wird es ja nicht dauern …

Was meinen Sie damit?

Ich muss jetzt leider los.

Sie feilen nicht etwa doch schon an der Ankündigung der Oasis-Reunion?

Nein. Im Moment ist alles gut so, wie es ist. Aber ich vermisse Oasis immer noch.

Nicht für immer, nehme ich an?

Ich muss jetzt wirklich los. Bis bald!

* Nachtrag: Kurz nach unserem Gespräch hat der Clip zu Noel Gallaghers nächster Single Premiere. Im In- und Outro zu „Ballad Of The Mighty I“ zeigt Gallagher auf humoristische Art, warum er keinen Spaß an Videodrehs hat: Der Regisseur spricht ihn mit „Liam“ an, gibt affige Anweisungen („Du musst zornig dreinschauen – gefährlich!“), schießt ein Selfie mit ihm. Am Ende verlässt Gallagher enerviert das Set, worauf ihm der Regisseur nachruft: „ Chris Martin hat zehn Takes gemacht!“ Dann verlangt der Regisseur von einem Assistenten einen Caffè Latte.

Dieses Interview ist zuerst in der März-Ausgabe des Musikexpress erschienen.