Mehr Echt als schlecht


Hundert Meter Mädchen und ganze vier Jungs darunter -vor dem Eingang des „Colosseum“ in München warten die Teenies schon um 17 Uhr. Eine Prozession geduldiger und vorfreudig strahlender Gesichter. Manche tragen aufgerollte Transparente, manche kritzeln in Poesie-Alben. Zwischendurch immer wieder der hoffende Blick auf die schwere Eingangstür. Vielleicht kommt ja einer raus zum Autogrammeschreiben. Ein strenger Roadie wacht an der Absperrung, und aus der düsteren alten Industriehalle poltert dumpf ein Schlagzeug. Die Vorgruppe Credit To The Nation macht Soundcheck. Aber wegen der ist keines der Mädchen gekommen – Grund für die Aufregung sind fünf Halbwüchsige aus Flensburg, deren Poster seit etwa 18 Monaten die Wände bundesdeutscher lugendzimmer zieren.

Keine Frage, Echt haben einen Schlag bei den Mädels. Und bei Plattenkäufern: Die Produkte der fünf lünglinge sind Renner, Echtes geht weg wie warme Semmeln und platziert sich umgehend in den vorderen Positionen der Verkaufslisten. Vorerst letzter Coup der rockenden Milchbärte: das Album „Freischwimmer“ (von 0 auf 1 in den Charts) plus zugehörige Tour durch 37 Hallen mittlerer Größenordnung. DieTopTen-Single „Du hast keine Liebe in dir“ ist gleichsam der Nagel, an dem das jüngste Erfolgspaket aufgehängt ist.

Was in Höchstauflagen in deutschen CD-Playern verschwindet, sorgt jedoch in hippen Redaktionsstuben und Kreisen elitärer Pop-Ideologen für skeptisches Stirnrunzeln. Denn eigentlich kann nicht sein, was nicht sein darf: eine Knaben-Kapelle, die munter den für unmöglich gehaltenen Spagat zwischen Bravo-Poster und Rockfestival-Publikum versucht; fünf Grünschnäbel, die ihre so naive wie instinktsichere Pennälerlyrik mit erstaunlich souveränen und schlagkräftigen Rockformeln paaren. Kurz: Rotznasen mit Format. Schnöselige Feuilletonisten wollen das nicht wahrhaben – da seien Kritikerlieblinge wieTocotronic, Salonpunks wie Band mit Zukunft oder Boygroup mit Verfallsdatum? An Echt scheiden sich die Geister-auch bei ME/Sounds. Dennoch: Wir haben’s getan und Deutschlands erfolgreichster Teenieband auf die Zahnspangen gefühlt.

Die Arzte und nicht zuletzt die heimischen HipHop-Hipster davor. Was nicht in die Schubladen der selbsternannten Geschmackswächter paßt, wird prophylaktisch erstmal geächtet. Also: Echt sind es nicht, können’s nicht sein. Dabei bestätigt selbst die nicht eben unkritische Süddeutsche Zeitung verwundert: „Echt können richtig rocken. Wirklich!“

Den fünf Frischlingen aus dem hohen Norden geht derlei Gezänk jedoch am knackigen Knabenarsch vorbei. Scheinbar unbekümmert geben Echt Gas, wollen Spaß. Sänger Kim formuliert ein wenig staatsmännisch die Marschrichtung: „Wir wollten versuchen, von der Musik zu leben. Und wir wollten ein Publikum, das unsere Musik mag. All das haben wir erreicht. Und wir sind glücklich, daß wir jeden Abend zwei Stunden live spielen dürfen.“ Sagen sie. Dabei mußten Echt im Sommer nach 52 (!) Open Airs völlig ausgelaugt die Notbremse ziehen und eine zweiwöchige Auszeit nehmen. Auch wenn das mitunter nach Kinderarbeit riecht – die Kuh so lange zu melken, wie sie Milch gibt, gehört nun mal zu den ehernen Branchengesetzen. Und Echt geben vor zu wissen, worauf sie sich eingelassen haben. Also wird auch nicht gemurrt, wenn’s unterwegs unkomfortabel wird. Der Backstage-Bereich des Colosseum ist rock’n’roll pur: fleckige Uraltsofas; eine verschmierte Lokusschüssel, altersschwache Holztische, Pappteller mit Kippen und Essensresten. Dazwischen Roadies – und fünf unauffällige Gestalten in schlackernden Baggy Pants.

Einer von ihnen: Kim Frank, gerade 17 lahre alt, mittelgroß, mit „Werner“-T-Shirt und blauen Hosen. Fertig sieht er aus, um die blauen Augen dunkle Ringe. Die Nase läuft, drumherum ist der lunge blaß wie nach einer Woche unter Tage. Was er im übertragenen Sinne tatsächlich auch ist: Seit 14 Tagen sind Echt auf Tour, pendeln zwischen Bühne, manchmal einem Hotelbett, meistens aber der Koje im Nightliner, Garderoben und Raststätten. Auch für einen -Jährigen nicht eben der pure Spaß. Ein feiner Schweißfilm läßt des Sängers Stirn bis rauf zu den dunkelblonden Haarsträhnen glänzen. Das gestrige Konzert in Nürnberg scheint ihn mitgenommen zu haben. War’s so schlimm? Er murmelt: „Weißnich. Gestern war’s komisch. Die kamen mir alle vor, als hätten sie geschlafen.“ „Lind? Hast du sie wachgekriegt?“ „Nicht wirklich. Weißauchnich. Die waren irgendwie seltsam drauf.“ Wie er das sagt, starrt er abwesend auf den Boden, als wüßte er für einen Moment nicht recht, was er eigentlich hier zu suchen hat.

Zum Gespräch mit der Band treffen wir uns im Nightliner. Schlafsaal-Muff wie in einer Jugendherberge, auf dem Boden ein Paar Caterpillar-Boots, auf den LtnMB* HOFfttktn ECHT

Sitzen CD-Stapel und Videokassetten. Nach und nach trudeln sie ein: Andreas „Puffi“ Puffpaff (18), Bassist und schlaksiger Technikfreak; Gunnar Astrup (17), schweigsamer Keyboarder mit wallendem Blondhaar; Flo Sump (18), hyperaktiver Trommler mit rotgefärbten Haaren; Kai Fischer (19), Gitarrist mit Wollmütze und so etwas wie der musikalische Direktor der Junior-Rocker. Schnell wird die Rollenverteilung deutlich, Sänger Kim gibt das Sprachrohr. Seine Statements kommen druckreif formuliert, wohldurchdacht, vielleicht manchmal ein wenig zu diplomatisch, zu kalkuliert; etwa wenn er mit salbungsvollen Worten verkündet, wie überaus dankbar er ist, daß die Band Stiller ihren Song „Weinst Du“ für eine Echt-Version freigegeben hat. Was er nicht erwähnt: Der zu erwartende Tantiemenscheck dürfte Stiller die Entscheidung erleichtert haben. Ganz anders der agile Flo. Salopp bringt er die Dinge auf den Punkt. So definiert er das Zigeunerleben unterwegs mit einem deftigen Bild: „Rock’n’Roll ist, wenn Du vor Schmutz stinkst und erst nachmittags um drei aus dem Nightliner kletterst, um unter irgend so eine versiflte Dusche zu steigen.“ Kim ergänzt: „Auf jeden Fall bedeutet es nicht, sich nur durch die Welt zu vögeln.“

Echt wirken wie eine neugierige Gymnasiasten-Gruppe auf Klassenfahrt. Lind wie das so ist mit einer Gruppe von Gymnasiasten – sie entwickelt ihre eigene Gang-Mentalität. Ein probates Mittel, um sich gegen den Rest der Welt und alle Spaßverderber abzuschotten. Kim: „Wenn wir etwas machen sollen, was nicht mit uns abgesprochen war, stellen wir uns alle fünf hin und sagen: Das wußten wir nicht.“ Bockigkeit als Mittel, die Kontrolle über den Gang der Dinge zu wahren. Wer die Kohle ranschafft, darf auch mal renitent sein; die kleine Rebellion ist erlaubt, solange die große Sache davon nicht berührt wird. Lind da läuft alles nach Plan. Kai: „Wir haben schon zwei Alben gemacht, ohne abzustürzen – das schafft nicht jeder.“

Aber auch nicht jeder Anfängertruppe steht ein so erfahrener Produzent wie Franz Plasa (Selig, Stoppok, Falco) zur Seite. Mancher Zeitgenosse argwöhnt zudem, daß Echt aus einem Boygroup-Castings hervorgegangen sind. Dem ist nicht so. Die Gruppe fand sich schon zu Beginn der 90er Jahre am Flensburger Kurt Tucholsky-Gymnasium zusammen und formierte sich zunächst als klassische Schülerband. Nach einigen Auftritten in England, die sie im Rahmen eines Schüleraustausches absolvierten, folgte 1996 eine selbstfinanzierte CD und der erste Kontakt zum Hamburger Minilabel Laughing Horse. Plasa nahm dort die Pickel-Popper unter seine Fittiche. Behutsam trimmte er das noch richtungslose, an Vorbildern wie Pearl Jam und Fanta 4 ausgerichtete Repertoire in Form, glättete hier und polierte dort. So entstand ein leicht verdaulicher Poprock auf der Höhe der Zeit, der dem typischen „anything goes“ der ausgehenden 90er lahre ebenso verpflichtet ist wie dem unbedingten Willen zur mehrheitsfähigen Melodie. Textlich konzentrierten sich Echt von vornherein auf die Dinge, die Teens seit je bewegen: Herzschmerz, Liebesleid und Identitätssuche. Dabei entwickelte die Truppe eine überraschend originale, halbwegs klischeefreie Sprache, irgendwo zwischen vordergründiger TicTacToe-Poesie und der sprachlichen Versiertheit besserer einheimischer Hip-Hopper. 1998 das Debütalbum mit dem Überraschungshit „Wir haben’s getan“, seitdem haben Echt mehr als eine Million Tonträger unters Volk gebracht. Die Band weiß, wem sie ihren Erfolg zu verdanken hat und ist clever genug, das auch zuzugeben. Kim: „Natürlich haben wir im Laufe der Zeit tierisch viel von Franz gelernt. Ohne ihn wären wir nicht da, wo wir sind.“ Im Zweifelsfall jedoch setzt die Gruppe auch bei der Arbeit im Studio auf das Prinzip Trotz, um ihre Interessen zu wahren: „Es wird nichts gemacht, wo auch nur einer von uns nicht mit einverstanden wäre.“ Die Folge: Mitunter wird bis zum Exzess diskutiert.

Acht von zwölf Songs des aktuellen Albums „Freischwimmer“ stammen aus bandinterner Feder. Den Hit „Du trägst keine Liebe in dir“ schrieb dennoch ein professioneller Autor, Michel van Dyke. Da liegt der Verdacht nahe, daß die Plattenfirma in Sachen Singles lieber auf die Hilfe erfahrenen Fachpersonals setzt. Quatsch, meinen Echt, und reklamieren, daß bei der Song- und Singleauswahl zunächst künstlerische Überlegungen eine Rolle spielen. Kim: „Als wir uns entschieden, diesen Song aufzunehmen, hat noch kein Mensch über eine Single nachgedacht.“ Lind Kai behauptet: „Uns interessiert nicht, wer welchen Song geschrieben hat, sondern dass die Leute ihn toll finden.“

Echt sind sich im klaren darüber, daß sie vorerst mit dem Image der harmlosen Teenietruppe leben müssen. Lind tragen es mit Fassung. Kai: „Wir sind halt fünf junge Musiker, die einiges ganz gut können, anderes wiederum nicht.‘ Zu letzterem gehören „Mathe und so’n Kack“, wie Flo erläutert. Musikmachen indes zählt zu den Dingen, die sie besser können. Den Beweis erbringen Echt überraschend selbstsicher eine Stunde später im „Colosseum“: Die funfYoungster rocken das Haus, rau und herzlich. Ohne studiotechnische Politur entwickeln die Songs gar ein beträchtliches Plus an Schub und Energie. 3.000 Menschen feiern – in den ersten Reihen mit authentischem Teenie-Gekreische und fliegenden Teddybären. Weiter hinten schunkeln Studenten-Pärchen. Lind im VIP-Bereich tanzt gar die Journaille – ungewöhnlich genug.

Dann ist da noch das leidige Thema Teeniepresse, mit der die lungstars ihre liebe Last haben. Kai: „Die haben doch noch kein wahres Wort über uns geschrieben.“ Lind Bassist Puffi berichtet grinsend von einer herbe Niederlage, die er unlängst hinnehmen mußte: „Bravo“ fragte seine Leser nach dem beliebtesten Echt. Puffi wurde Letzter. Nicht weiter verwunderlich, denn der Junge mit dem eigenartigen Nachnamen Puffpaff wirkt wie der klassische Frickelbruder aus der letzten Bank, immer einen Lötkolben in Reichweite – nicht gerade der Typ, von dem die Mädchen träumen. Betont uneitel versichert er, dass ihm diese Umfrage „scheißegal“ war. Dennoch spielen Echt das Spiel mit der Jugendpresse mit – zumindest vorerst noch. Lind mit zusammengebissenen Zähnen. Kim weiß, dass er in der Schuld der „Pickel-Prawda“ und ihrer Leser steht: „Am Anfang unserer Karriere waren wir verdammt froh, dass die sich für uns interessierten. Außerdem können wir die vielen Fans, die das Zeug lesen, nicht enttäuschen.“

Im medialen Miteinander haben Echt nach eigener, nicht ganz ernsthafter Einschätzung die Grenzen des Erträglichen „längst überschritten“. Aber sie funktionieren. Was bleibt ihnen auch übrig? Ab und zu eine Geste, mehr nicht. So hängten sie sidi bei ihrem „Top Of The Pops“-Auftritt Bettlaken über den Kopf, um damit die Playback-Show lächerlich zu machen. Manch einer mag das albem finden, Echt schert das wenig. Flo: „Wir machen vieles, worüber nur wir selbst lachen können.“ Wenn’s wirklich drauf ankommt, etwa wenn Millionen zuschauen (zuletzt bei Reinhold Beckmanns ARD-,,Guinness“-Show), wissen sich die Knaben mediengerecht zu benehmen. Brav wird zum Playback gemimt, brav durchaus vorhandene Eloquenz dem Beckmannschen Plauderniveau geopfert. Prompt sammeln Echt mit natürlichem Charme Sympathiepunkte.

Korrekt äußern sie sich auch zum Thema Rock’n’Roll Lyfestyle und dessen klassischen Additiven Sex and Drugs. Kim: „Höchstens mal’n Bier. Das fällt ja auch nicht unter Drogen.“ Flo fügt an: „Kiffen ist auch okay. So ’ne leckere Tüte ist doch eine nette Sache. Aber dieses ganze chemische Zeug – nee.“ Mädels sind im Nightliner auch nicht gern gesehen, hier bleibt man lieber unter sich. Jungmännerbund geht über Wegwerf-Sex. Lind wenn doch mal einer in hoimonelle Wallung gerät, bleibt das unterm Tisch, zumindest im Interview.

Brave lungs also? No sex, no drugs, no rock’n’roll? Nicht ganz. Echt sind eine talentierte Band an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Ihr Handicap: der immense Erfolg. Denn der bringt nur allzuoft übersteigerte Erwartungen und Realitätsverlust mit sich. Hinzu kommt das schwer wieder loszuwerdende Teenie-Image. Eine Hypothek, die offenbar mehr wurmt, als die Pop-Überflieger zugeben wollen. Kai: „Wenn eure Leser glauben, daß bei uns noch irgendetwas zu retten ist, sollen sie uns ganz viele tolle Platten schicken, damit wir davon lernen können.“ Wir geben das mal weiter.