Mehr Extase, bitte!


Bringen es die vielen kleinen Live-Konzerte noch in Zeiten von YouTube? Ariadne von Schirach auf der Suche nach großen Gefühlen und echter Stimmung

Dumtam, dumtam, dumtam. Musik ertönt. Ein heiteres Hüpfen. Ein Schwingen und Zupfen, rhythmisch, melodiös, und Blu bewegt den Kopf im Takt, während Eyes stolz auf sein neues iPhone schaut und sagt: „‚Aaron‘. Von Paul Kalkbrenner. Echt cool.“ Auch ich mache eine zustimmende Bewegung und sage: „Habt ihr den Film gesehen, ‚Berlin Calling‘?“ Eyes schüttelt den Kopf. Nur der Soundtrack ist irgendwann bei ihm gelandet, so wie alles irgendwann bei ihm landet, das neue Album von Arcade Fire und Gisbert zu Knyphausen und The Whitest Boy Alive. Deshalb sind wir hier, an diesem frostigen Sommernachmittag; wir stehen im Garten vom ‚Tape Club‘, wo Erlend Øye, blaue Jacke, Brille, unmutig und seine Jungs wie jedes Jahr ihr Open-Air-Konzert geben.

Eyes ist der kleine Bruder von Dos, 23, frisch nach Berlin gezogen und ein lebendes Kompendium für Gegenwartsmusik. Er hat goldbraune Haare und eine reizende junghundige Energie, und als er kurz aufs Klo geht, flüstert Blu: „Ist der süß.“ Ihre Augen glitzern, ein bisschen zu sehr. „Finger weg“, sage ich, „ich habe Dos versprochen, auf ihn aufzupassen.“ Blu lacht, dieses stille raue Lachen, dann legt sie den Kopf zurück und schaut in den Himmel, dessen Wolken glühende Ränder haben und sagt: „Schön.“ Mehr nicht.

Es ist ziemlich voll vor der großen Bühne, wir stehen am Rand und beobachten, wie Erlend Øye sich bei den Helfern am Bühnenrand über irgendetwas beschwert. Immer noch keine Musik. „Der soll ganz schön zickig sein“, sagt Blu und ich sehe mich um und denke, dass Open Air einfach nicht mein Ding ist, nicht hier, nicht so, und kalt ist es auch noch. „Glaubst du, dir hätte Woodstock gefallen?“ frage ich Blu, und sie nickt, geistesabwesend, während sie eine Gruppe aufgeregter Dörfler mustert, die bei den endlich ertönenden ersten Takten sofort ravig anfangen zu tanzen. Yeah, yeah, yeah, Berlin, Alter. Blu trägt eine neonfarbene Zebraleggins und fingerlose Handschuhe und sieht mal wieder aus wie frisch aus dem „Vice“-Magazin gefallen. Der größere der beiden Dörfler dreht sich um, Blus lange braune Haare glänzen im aufblitzenden Licht und ihr Blick ist kälter als der Tod. Der Dörfler dreht sich wieder weg und Blu lächelt Eyes zu, der gerade zurückkommt, und hakt sich bei ihm ein; ein bunter böser Schmetterling. Eyes ist geschmeichelt. Und ein bisschen beunruhigt. Blu lässt ihn wieder los und verzieht das Gesicht Richtung Bühne, wo die Mitglieder der Band wie verlorene Playmobilmännchen herumstehen. Dann macht sie ein paar böse Bemerkungen und Eyes, der ihr gefallen will, sagt „Die haben eh nur ein paar Hits.“ Währenddessen hängt sein Blick sehnsüchtig an einer zarten Blondine, die neben dem kleineren der beiden Dörfler lässig die Hüften schwingt. Blu nickt, frostig.

Ja ja, die Frauen. Das ist alles nicht so einfach. Nach seinem Studium ist Eyes ein bisschen herumgereist. Jetzt Berlin. Neuer Job, neues Glück. Er macht Einspieler für eine große Talkshow, kluger Bursche, dieser Eyes, aber die Sache mit den Frauen. Muss ja nicht gleich die große Liebe sein. Eine kleine würde schon reichen. Echt.

Erlend Øye säuselt gelangweilt ins Mikrofon, Blu wird immer missmutiger und ich denke an Woodstock. Weil ich neulich diesen Ang Lee Film gesehen hatte, „Taking Woodstock“. Weil der mir gut gefallen hat, bei aller Sentimentalität, weil ich daran denken musste, wie es damals auf meiner ersten Street Parade in München war, mit 17, 18, berauscht von Musik und Drogen und Freundschaft; dass es doch immer das Drumherum ist, so was wie: Beseelung. Das hier war einfach nur fucking boring, trotz aller Liebe. Und die Anlage war viel zu leise. Ob das überhaupt noch geht, Festival, Extase, Stimmung? Dos war letztes Jahr beim „Burning Man“ in der Wüste von Nevada gewesen und meinte danach nur: „Alles voller Druffis und schlechter Kunst. Wenn ich so was sehen will, kann ich auch in die ‚Bar25′ gehen.“

Wo ist er denn, der ewige Spirit? Also hier nicht. Hier gibts nur Kälte und Herumgestehe und unbestimmtes Wummern, viel zu weit weg. Vielleicht ist die Zeit dieser musikalischen Großereignisse einfach vorbei, denke ich, Tote bei der Loveparade, krass. Und das Berlin Festival haben sie auch abgebrochen. Vielleicht gehört die Zukunft tatsächlich YouTube und iPods und der Frage nach dem guten Kopfhörer, und dann sehe ich, dass Eyes sich ein Herz gefasst hat, und die Blonde eine Reihe weiter anspricht. Und die Sonne kommt wieder für einen Moment raus und überzieht alles mit einem goldenen Glanz. Eyes und das hübsche Mädchen tanzen zusammen, neugierig, aufgeregt, erwartungsvoll, und ich denke: Vielleicht ist doch alles wieder mal eine Frage der Perspektive.

Ariadne von Schirach lebt als freie Autorin in Berlin

In der nächsten Ausgabe schreibt an dieser Stelle: Harriet Köhler