Michael Jackson: Das schlechte Popgewissen
Heute, am 25. Juni 2019, jährt sich Michael Jacksons Todestag zum zehnten Mal. Mit der Veröffentlichung von „Leaving Neverland“ sahen und sehen sich viele Fans mit der Frage konfrontiert: Wie soll man als Fan damit umgehen, wenn die Idole von einst offenbar Menschen sexuell missbrauchten?
Die Empörungswelle im Showgeschäft ebbt seit #MeToo nicht ab. Die jüngsten Fälle: Ryan Adams, der sich Vorwürfen von mehreren Seiten ausgesetzt sah. Auch „Leaving Neverland“, die Doku über die Opfer von Michael Jackson, wirft die Frage auf: Wie soll man als Fan damit umgehen, wenn die Idole von einst offenbar Menschen sexuell missbrauchten?
Ist in solchen Fällen ein Sendeverbot angebracht? Oder wenigsten ein Boykott auf der ganzen Linie? Aber bekommen wir dadurch die Songs und die mit ihnen untrennbar verbundenen Erinnerungen aus unseren Köpfen gelöscht? Schließlich geht es um Lieder, die unser Leben in einer globalen (Pop)- Kultur maßgeblich geprägt haben. Anders gefragt: Können wir im Nachhinein THRILLER von Michael Jackson aus moralischen Gründen von einem Tag auf den anderen wirklich nicht mehr gut finden?! Und taugt solch ein Gebaren tatsächlich zur Abschreckung? Wen wollen wir eigentlich wovor schützen, wenn wir etwa „Beat It“ aus Playlisten verbannen? Von wem fühlen wir uns bedroht? Von einem toten Sänger?
THRILLER ist zweifelsohne ein Meisterwerk der Popgeschichte, und es ist beileibe nicht nur der King Of Pop selbst, der diesen Erfolg mit zu verantworten hat. Man denke nur an seinen Produzenten Quincy Jones oder an die Musiker der Band Toto, die auf diesem Album zu hören sind. Und das Ausnahmetalent Jackson? War der nicht auch eine Art Missbrauchsopfer? Ein Kind, das mit 13 Jahren bereits den Hauptsänger bei den Jackson Five geben musste, von seinem tyrannischen Vater getrieben und von den Medien schon vor seinem Stimmbruch zum Superstar hochgejazzt. Was macht das mit der Psyche eines Menschen, wenn Abermillionen von Menschen ihm so früh zujubeln?
Im Real Life stellen wir uns einen Popstar offenbar als unmenschlich stabil vor
In einem HBO-Serien-Plot würde sich niemand darüber wundern, wenn so ein Charakter im Laufe seiner Lebensgeschichte psychische Störungen davonträgt. Im Real Life stellen wir uns einen Popstar offenbar als unmenschlich stabil vor. Doch die Hypersensiblen unter den Stars nehmen sich tragischerweise sogar häufig das Leben. Und das womöglich im zarten Alter von 27. – der 23 des Popmystikers.
Auch das alles gehört zu der Geschichte der Popkultur, genauso wie die TV-Dschungelcamps mit ihren vielen One-Hit-Wondern und abgestürzten B-Sternchen, die in ekeligen Spielchen wieder um die Gunst des Publikums buhlen müssen, das sie einst auf Händen getragen hat. Alles für das verlockende Preisgeld und für den Fan, der sich mit seiner Chipstüte und Trockenfleisch-Häppchen beim SMS-Voting auf dem heimischen Sofa wie ein römischer Kaiser aufführen darf – bis zur nächsten Werbeunterbrechung.
Sollten wir das Werk nicht besser generell von seinen Autoren und Performern trennen?
Dass ausgerechnet Popstars heute mit einer lupenreinen Weste dastehen sollen, ist einfach nur absurd, vor allem wenn wir uns noch mal die junge Geschichte des Popstars als gesellschaftliches Rollenmodell der Transgression, Rebellion und sexuellen Revolution zu Gemüte führen. Bitte nicht missverstehen: Natürlich sollen wir deshalb auf gar keinen Fall Verbrechen billigen, aber wir sollten dringend darüber nachdenken, ob wir das Werk nicht besser generell von seinen Autoren und Performern trennen. Vorausgesetzt, die Kunst selbst transportiert nichts davon, was Menschen in ihrer tiefsten Würde verletzt.
Mir fällt dazu ein Beispiel mit einem Helden aus meiner eigenen Biografie ein: Ich war schon als Kind großer James-Brown-Fan. Der Groove seiner Musik hat mich einfach verrückt vor Freude gemacht. Erst viele Jahre später habe ich erfahren, dass James Brown seine Ehefrauen geschlagen hat. Dass er privat teilweise ein echtes Arschloch war. Was man sich eben in Vor-Internet-Zeiten so erzählt hat zwischen Plattenladentresen und Dorfplatz.
Erst vor wenigen Jahren kam die James-Brown-Biografie „Black And Proud“ heraus, fast gleichzeitig das von Mick Jagger produzierte Biopic „Get On Up“, durch die ich endlich, detailreich und seriös recherchiert, von Browns unfassbarer, kaputten Lebensgeschichte erfahren habe, die ihn erst zu der zerrissenen Gestalt gemacht hat. Aber ganz ehrlich: Seine Musik wurde für mich durch keine dieser Informationen besser oder schlechter. Warum auch?
Berichterstattungen geraten oft zu einer medialen Hetzjagd
Ein weiterer Punkt, der uns noch viel größeres Kopfzerbrechen bereiten müsste als die kaputte Biografie eines Künstlers, sind die dummdreisten Vorverurteilungen. Die Berichterstattung gerät oft zu einer medialen Hetzjagd zwischen Headline-getriebenem Boulevardjournalismus und Einträgen in Social Media, in denen sich jeder als Moralapostel aufführen darf, und das lange bevor ein juristischer Prozess überhaupt erst in Gang kommt.
Ja, was ist bitte schön mit dem Rest von Rechtsstaatlichkeit? Wollen wir den wirklich mehr und mehr für provokante Headlines aufs Spiel setzen? Bloß, weil alle Medienkonzerne so dermaßen auf Clickbaits fixiert sind? Weil Werbeeinnahmen an den Quoten hängen? Ja, wollen wir wirklich mit der nachgewiesenen Pädophilie eines Künstlers unsere eigenen Kinder ernähren? Und wollen wir wirklich alle Biografien von Berühmtheiten nach Makel und noch mehr dunklen Stellen durchforsten, um damit öffentlich ihr Werk endgültig zu demolieren?! Für die nächstbeste Hetzkampagne?
Dabei sollten wir nicht vergessen: Stars sind eben leider auch nur Menschen! Ich klinge jetzt schon wie der Dorfprediger auf der Kanzel, und da denkt gerade auch jeder nur noch an die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche. Klar, wirklich unfassbar, was da über so viele Jahre hinter den priesterlichen Gemäuern passiert ist und wie es vertuscht wurde, im Namen des Herrn. Im Sinne aller Opfer und der gesellschaftlichen Entwicklung ist die Aufklärungsarbeit, die gerade stattfindet, unverzichtbar. Aber deshalb stellt ja auch niemand den kompletten christlichen Wertekatalog infrage.
Verbannen von Kunst auf den Index hat noch nie zu irgendetwas Gutem geführt
Selbstverständlich müssen Kinder und Jugendliche losgelöst vom gesellschaftlichen Konsens immer besonders geschützt werden, aber ist es nicht extrem bigott, das auch gegenüber Popprodukten zu verlangen, die in erster Linie die ganze Zeit über „Konsumier mich!“ schreien? Sollen die Verführung und Schutz gleichermaßen sein? Wie bitte schön soll das gehen? Ohnehin hat das Verbannen von Kunst auf den Index noch nie zu irgendetwas Gutem geführt. Höchstens diente es als Karrieresprungbrett! Oder führte zu Reichtum auf dem Schwarzmarkt. Oder zu einem Abgekulte der entsprechenden Werke in den dunkelsten Nischen der Gesellschaft.
Ja, wollen wir jetzt wirklich jeden Film mit Kevin Spacey auf dem moralischen Scheiterhaufen der Geschichte verbrennen? Und jeden Film, in dem Musik von Michael Jackson auftaucht, gleich mit? Oder löschen wir nur die Tonspur? Und was ist, wenn morgen in irgendeiner Schublade ein Brief über Mozart auftaucht, in dem er der Vergewaltigung verdächtigt wird? Und was ist – man denke nur zurück an die legendären Hitler-Tagebücher – wenn der Brief gefälscht ist? Überhaupt: Wie groß ist hier die Gefahr der Manipulation?
Die Kunst muss frei sein
Allein deshalb noch mal: Wir sollten unbedingt die Staatsanwaltschaft ermitteln lassen und ein Gericht mit Bedacht sein Urteil sprechen lassen. Die Kunst hingegen muss weiterhin frei sein! So wie in unserem Grundgesetz verankert. Das heißt ja nicht, dass sich Künstler nicht für ihre Vergehen verantworten müssen. Und nicht dafür verurteilt werden können. Aber die Anklage hat unbedingt ein rechtlicher Vertreter zu formulieren. Nicht die Boulevardmedien, und schon gar kein zutiefst enttäuschter Fan in den sozialen Medien.
Und selbst wenn ein Künstler am Ende verurteilt wird, dann sagt das trotzdem nichts über die Qualität seiner Kunst aus. Genauso wenig, wie die strafrechtliche Verurteilung eines Tischlers etwas über die Qualität eines von ihm gefertigten Tischs aussagt – für welches Vergehen er auch immer verurteilt wurde. Wenn das Werk spricht, sollte am Ende nicht nur der Künstler schweigen.
Dieser Artikel erschien erstmals im Musikexpress 05/2019.
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